IV
Knox und Rick zogen ihre Köpfe ein, als am Abend einer der Lastwagen davonfuhr und seine Scheinwerfer über die Baumgruppe strichen, in der sie sich mit dem Subaru versteckt hatten. Nach einem Tag Schlaf waren nicht nur Knox’ Batterien wieder aufgeladen, sondern auch die seines Laptops. Kaum war der Lastwagen an ihnen vorbeigefahren, klappte er ihn wieder auf und betrachtete die Papyri von Mallawi.
«Ich glaube, der andere ist schon weg», sagte Rick. «Im Dunkeln können sie nicht arbeiten.»
«Warten wir sicherheitshalber noch zehn Minuten.»
Rick verzog das Gesicht, entgegnete aber nichts. «Wie kommst du voran?», fragte er.
«Ganz gut.» Sein Laptop war alt, und der Bildschirm hatte eine schwache Auflösung. Die Fotos waren zum Katalogisieren aufgenommen worden, nicht zur Entzifferung. Die Belichtung variierte, um es milde auszudrücken. Die meisten Papyri waren völlig unleserlich. Dennoch konnte er hin und wieder Worte oder sogar Sätze erkennen. Häufig waren die Formulierungen absichtlich vage, wie ‹und dann passierte etwas, was mich nach Mallawi brachte›. An anderen Stellen bezog sich der Autor wiederholt auf ‹den Erleuchteten›, ‹den Träger der Wahrheit›, ‹den Wissenden› oder ‹den Geheimnisträger›. Und an wieder anderen Stellen … «Ich habe keine Ahnung, wer das geschrieben hat», sagte Knox zu Rick, «aber er schien wenig Respekt vor der Obrigkeit zu haben.»
«Wie meinst du das?»
«Die ptolemäischen Pharaonen wurden alle Ptolemäus genannt, deswegen unterschieden sie sich durch Kultnamen voneinander. Der erste Ptolemäus wurde zum Beispiel Soter genannt, das griechische Wort für Retter. Aber hier wird er Sotades genannt.»
«Sotades?»
«Ein skurriler griechischer Dichter und Dramatiker der Alexanderzeit. Er schrieb eine Menge homoerotische Verse und erfand das Palindrom, bekam dann aber Schwierigkeiten, weil er sich über Ptolemäus II. Philadelphos lustig machte, der seine Schwester heiratete. Übrigens bedeutet Philadelphos eigentlich ‹Schwesternliebhaber›, hier wird er aber ‹Sündenliebhaber› genannt. Ptolemäus Euergetes, ‹der Wohltäter›, ist hier ‹der Übeltäter›. Philopater, ‹der Vaterliebende›, ist ‹der Lügenerfinder›. Epiphanes, ‹der erschienene Gott›, ist ‹der erschienene Schwindler›. Verstehst du?»
«Ein begnadeter Satiriker war der Schreiber aber auch nicht gerade, oder?»
«Nein. Aber so von den Ptolemäern zu sprechen …»
Rick beugte sich nach vorn und schaute ungeduldig durch die Windschutzscheibe in die von Mondschein erleuchtete Nacht. «Mittlerweile müssten sie weg sein», brummte er und drehte den Zündschlüssel. «Fahren wir.»
«Noch fünf Minuten.»
«Okay», knurrte Rick und schaltete den Motor wieder aus. Er lehnte sich hinüber, um auf den Laptop zu schauen. «Was hast du noch entdeckt?»
«Eine Menge Ortsnamen. Tanis, Buto, Busiris, Mendes. Das sind alles wichtige Städte im Nildelta. Aber der Ort, der am häufigsten erwähnt wird, ist Lycopolis.»
«Lycopolis? Stadt der Wölfe, richtig?»
«Es war der griechische Name für das antike Assiut», sagte Knox nickend. Assiut lag ungefähr fünfzig Meilen südlich von Mallawi, wo die Papyri gefunden worden waren, es war also nicht ungewöhnlich, dass der Name auftauchte. Aber irgendetwas regte sich in den Tiefen seines Gedächtnisses, und es war nicht Assiut. Auf dem Weg vor ihnen blitzten Scheinwerfer auf. Sie duckten sich wieder. «Sieht aus, als hättest du recht gehabt», grinste Rick mit strahlend weißen Zähnen. Der zweite Lastwagen hielt an der Straße und wartete, bis ein Wagen vorbeigefahren war. Sie konnten den Blinker ticken und das müde Geplapper der Arbeiter hören, die froh waren, endlich Feierabend zu haben. Dann bog der Lastwagen auf die Straße nach Tanta und war verschwunden. «Na gut», sagte Rick und startete den Motor. «Legen wir los, oder?»
«Ja.»
Der Mond war hell genug, um nur mit Standlicht zu fahren, sodass sie keine große Aufmerksamkeit erregten, aber auch nicht übermäßig verdächtig wirkten. Sie erreichten die Baumreihe, an der zuvor der Lastwagen gestanden hatte. Auf einem Schild stand auf Arabisch und Englisch, dass dies Sperrgebiet sei, ein Projekt der Antiquitätenbehörde in Zusammenarbeit mit der Archäologischen Stiftung Makedoniens. Sie fuhren ein Stück zurück, versteckten den Subaru in einem kleinen Dickicht und machten sich dann auf die Suche. Während Knox im Hotel geschlafen hatte, war Rick einkaufen gewesen. Jetzt reichte er ihm eine Taschenlampe, obwohl es noch so hell war, dass man sie nicht brauchte. Eine kühle Brise ließ die Zweige rascheln. Ein Vogel zwitscherte. In der Ferne konnten sie den dunklen Lichtschein einer Siedlung und gelbe Scheinwerfer auf der Straße sehen. Als sie ein Feld überquerten, blieb die Erde an ihren Stiefeln hängen. Am anderen Ende entdeckten sie eine halb ausgegrabene antike Stätte, eine Wabe aus abgesperrten, vier Quadratmeter großen und durch Mauern unterteilten Gruben. Dahinter befand sich eine Reihe geleerter Gräber, jedes einen Meter tief, deren Böden im Schatten des schrägen Mondlichtes verborgen waren. Daneben lagen frische Erdhaufen. Nach einer Viertelstunde hatten sie alles gesehen. «Nicht gerade das Tal der Könige, was?», brummte Rick.
«Man kann nicht erwarten, dass …»
«Psst!», mahnte Rick plötzlich und kauerte sich mit einem Finger vor den Lippen nieder. Knox schaute in die Richtung, in die Rick starrte. Wenige Sekunden später sah er, was ihn alarmiert hatte: Ein winziger Punkt glühte orangefarben zwischen den Bäumen. «Zwei Leute», flüsterte Rick. «Sie rauchen eine.» Er deutete auf ein leeres, im Dunkeln liegendes Grab. Knox nickte. Sie stiegen hinein und schauten über den Rand. Zwei Männer in dunkelgrünen Uniformen und Mützen kamen heran. Wahrscheinlich waren es Wachleute eines privaten Sicherheitsdienstes und keine Soldaten oder Polizisten. Aber an ihren Gürteln hingen schwarze Holster. Einer hielt einen riesigen Deutschen Schäferhund an der Leine, der knurrte und die Zähne fletschte, als hätte er eine Witterung aufgenommen. Einer der Wachmänner schaltete seine Taschenlampe an und schwenkte sie umher. Als die beiden näher kamen, hörte man, dass sie über einen Film sprachen, den sie im Fernsehen gesehen hatten. Rick schmierte sich Erde auf die Hände und den Nacken und bedeutete Knox, das Gleiche zu tun. Dann legten sie sich reglos und mit dem Gesicht nach unten in das Grab. Die zwei Wachen gingen direkt auf sie zu, der Schäferhund wurde aufgeregter, aber der Mann zog ihn schimpfend zurück. Der Strahl einer Taschenlampe strich kurz über den Boden des Grabes und verschwand dann wieder. Eine noch brennende Kippe landete direkt neben Knox’ Wange. Im Gespräch mit seinem Begleiter öffnete einer der Männer seine Hose, pinkelte auf den Boden und halb in das Grab, während sein Kollege schmutzige Bemerkungen über eine Schauspielerin machte, auf die er scharf war. Nach einer Weile drehten sich die beiden Männer um, schlenderten davon und zogen den unruhigen Hund mit sich.
Rick rührte sich als Erster. «Scheiße, das war knapp», murmelte er.
«Wir sollten abhauen», meinte Knox.
«Quatsch», entgegnete Rick. «Zwei Männer und ein Schäferhund bewachen ein leeres Feld. Ich will sehen, was sie wirklich schützen sollen.»
«Sie waren bewaffnet, Kumpel», sagte Knox.
«Genau», grinste Rick. «Das wird interessant.»
«Ich möchte nicht, dass dir was passiert», sagte Knox. «Ich habe dich in die Sache reingezogen.»
«Scheiß drauf. Ich hatte seit Jahren nicht mehr solchen Spaß.»
Und ehe Knox noch etwas sagen konnte, kletterte Rick aus dem Grab und schlich geduckt davon. Knox folgte ihm, dankbar, einen solch erfahrenen Freund an der Seite zu haben. Der Mond erzeugte gespenstische Schatten zwischen den Bäumen, als sie eine sanfte, aber lange Anhöhe hinaufkrochen. Vor ihnen sah er etwas Graues und zeigte darauf. Rick nickte und bedeutete Knox, zu bleiben, wo er war. Dann verschwand er in der Finsternis und kehrte einen Moment später zurück. «Zwei Gebäude», flüsterte er. «Ein großes, ein kleines. Massiver Beton. Keine Fenster. Stahltüren mit Vorhängeschlössern. Die beiden Wachen stehen vor dem kleinen. Da müssen wir rein.»
«Hast du nicht gerade gesagt, es ist ein Betongebäude ohne Fenster? Wie sollen wir da reinkommen, verdammte Scheiße?»
Rick grinste. «Das wirst du schon sehen.»