PROLOG
DIE LIBYSCHE WÜSTE, 318 VOR CHRISTUS
An der niedrigsten Stelle der Höhle befand sich eine Quelle. Eine dicke Schicht aus Flechten und Schmutz bedeckte die Oberfläche, die seit Jahrhunderten nur durch die Berührung von Insekten oder durch das Blubbern des Gases aus der Tiefe der Wüste gekräuselt wurde.
Plötzlich aber barst diese Haut. Kopf und Schultern eines Mannes tauchten aus dem Wasser auf. Mit nach oben gewandtem Gesicht schnappte er gierig nach Luft. Nur langsam beruhigten sich seine Atemzüge, es war, als wolle sein Herz im Inneren zerplatzen. Erst nach und nach kam er wieder zu sich.
In der Höhle war es stockdunkel, nicht einmal das Wasser schimmerte. Die Erleichterung des Mannes, seinen Tauchgang überlebt zu haben, wich schnell der Angst, dass er nur eine Todesart gegen eine andere getauscht hatte. Er tastete sich an der Kante des Beckens entlang, bis er einen flachen Vorsprung gefunden hatte, stemmte sich hoch und setzte sich. Erst dann griff er unter seiner nassen Tunika nach dem Dolch. Aber eigentlich bestand keine Gefahr, dass er verfolgt worden war. Er hatte sich Stück für Stück durch den Wasserkanal zwängen müssen und konnte sich nicht vorstellen, dass der Libyer, der mit dem Schwert auf ihn hatte einstechen wollen, die Verfolgung aufgenommen hatte. Der fette Kerl wäre sofort im Kanal stecken geblieben und ertrunken.
An seinem Gesicht schwirrte etwas vorbei. Er schrie panisch auf und fuchtelte mit der Hand. Das Echo klang seltsam verlangsamt und dunkel. War diese Höhle doch nicht so klein? Wieder flatterte etwas an ihm vorbei. Es klang wie ein Vogel, aber kein Vogel konnte sich in dieser Finsternis orientieren. Vielleicht eine Fledermaus. In der Dämmerung hatte er ganze Kolonien von Fledermäusen gesehen, die wie Mücken durch die Obstgärten in der Ferne geschwärmt waren. Hoffnung keimte in ihm auf. Wo Fledermäuse waren, da gab es auch einen Weg hinaus. Er tastete die Felsen ab und begann die Wand hinaufzuklettern, die am wenigsten steil war. Er war kein athletischer Mann, und im Dunkeln war der Anstieg tückisch. Aber immerhin gab es in der Wand Vorsprünge oder Löcher, an denen er sich festhalten konnte. Als er an eine Stelle kam, an der es nicht weiterging, kletterte er zurück und fand einen anderen Weg. So ging es stundenlang weiter. Er wurde hungrig und müde. Doch dann stürzte er wieder auf den Boden der Höhle und schrie vor Schreck auf. Ein gebrochenes Bein hätte sein Ende bedeutet. Stattdessen schlug er mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Dann kehrte seine Erinnerung zurück, und es packte ihn eine so tiefe Verzweiflung, dass er beinahe wieder ins Wasser gesprungen wäre. Aber er konnte sich nicht vorstellen, noch einmal durch den Kanal zu tauchen. Nein. Lieber weitermachen. Erneut versuchte er, die Felswand zu erklimmen. Und noch einmal. Schließlich erreichte er einen unsicheren Vorsprung hoch über dem Boden der Höhle, gerade breit genug, um darauf zu knien. Er kroch weiter, links die Felswand, rechts der Abgrund. Ein Fehler, und er würde zu Tode stürzen. Diese Gewissheit bremste ihn nicht, sie schärfte nur seine Konzentration.
Als er nach einer Weile auch auf der anderen Seite eine Felswand spürte, hatte er das Gefühl, ins Innere einer steinernen Schlange zu kriechen. Aber es war nicht mehr ganz so finster wie zuvor. Es wurde immer heller, und mit einem Mal fand er sich ins Licht der untergehenden Sonne getaucht, die nach dem langen Aufenthalt in der totalen Finsternis so blendete, dass er seine Augen abschirmen musste. Die untergehende Sonne! Seit dem Hinterhalt durch Ptolemäus’ Truppen war also mindestens ein Tag vergangen. Er bewegte sich näher an den Rand und schaute hinab. Nichts als nackter Fels und ein klaffender Abgrund. Er schaute nach oben. Der Anstieg war steil, aber es sah machbar aus. Bald würde die Sonne verschwunden sein. Ohne nach unten oder nach oben zu schauen, begann er vorsichtig loszuklettern. Geduld, nur keine übereilte Hast. Einige Male bröckelte der Sandstein unter seinen Händen und Füßen. Als er die überhängende Bergkuppe erreicht hatte, versank die Sonne am Horizont. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit letzter Kraft zog er sich an Fingernägeln, Händen und Ellbogen hoch, er suchte fieberhaft mit Knien und Füßen nach Halt und schürfte sich die Haut an den schroffen Felsen auf. Dann hatte er es endlich geschafft. Er drehte sich auf den Rücken und schaute dankbar in den Nachthimmel.
Kelonimos hatte nie von sich behauptet, ein tapferer Mann zu sein. Er war Lehrer und Heilkundiger, kein Krieger. Trotzdem spürte er den stummen Vorwurf seiner Kameraden. Zusammen im Leben, zusammen im Tod. Das war ihr Schwur gewesen. Als sie schließlich von Ptolemäus umzingelt worden waren, hatten alle anderen ohne Bedenken den Sud aus Kirschlorbeerblättern geschluckt, den Kelonimos für sie zubereitet hatte, damit sich ihre Zungen unter Folter nicht lösten. Er selbst aber hatte sich gesträubt. Plötzlich hatte er furchtbare Angst gehabt, zu früh dahinzuscheiden und dieses herrliche Geschenk des Lebens zu verlieren. Nie wieder die hohen Berge seiner Heimat zu erblicken, die saftigen Ufer ihrer Flüsse oder die Wälder aus Kiefern und Silbertannen. Nie wieder den alten Weisen auf dem Marktplatz zu lauschen. Nie wieder die Umarmungen seiner Mutter zu spüren, seine Schwester zu necken oder mit seinen beiden Neffen zu spielen. Deshalb hatte er nur so getan, als würde er das Gift nehmen. Und als die anderen um ihn herum ihr Leben aushauchten, war er in die Höhle geflohen.
Im Mondlicht war ringsherum nichts als Wüste zu sehen; er war völlig allein. Seine Kameraden waren Schildknappen in Alexanders Armee gewesen, furchtlose Herrscher der Welt allesamt. Nirgendwo hatte er sich sicherer gefühlt als in ihrer Gesellschaft. Ohne sie war er schwach und verletzlich, hilflos in einem Land fremder Götter und unverständlicher Sprachen. Er ging den Abhang hinab, schneller und schneller, panische Angst im Nacken. Dann begann er Hals über Kopf zu laufen, bis er über eine Furche im harten Sand stolperte und stürzte.
Während er sich aufrappelte, überkam ihn eine grauenvolle Ahnung. Im ersten Moment wusste er nicht, woher sie kam. Doch dann zeichneten sich seltsame Formen in der Dunkelheit ab. Als er sich ihnen näherte, begann er zu weinen. Er erkannte das erste Paar. Bilip, der ihn getragen hatte, als ihn seine Kraft vor Areg verlassen hatte. Iatrokles, der ihm wundersame Sagen über ferne Länder erzählt hatte. Kleomenes und Herakles waren die Nächsten. Sie waren zwar bereits tot gewesen, aber Kriminelle und Verräter wurden bei den Makedoniern gekreuzigt, und Ptolemäus hatte aller Welt zeigen wollen, wofür er diese Männer hielt. Dabei waren nicht sie es gewesen, die dem letzten Wunsch des sterbenden Alexanders nicht nachgekommen waren. Nicht sie hatten ihre persönlichen Ziele über die Wünsche ihres Königs gestellt. Nein. Diese Männer hatten nur das tun wollen, was die Aufgabe von Ptolemäus gewesen wäre: ein Grabmal für Alexander zu errichten, in Sichtweite der Ruhestätte seines Vaters.
Kelonimos fiel die gleichmäßige Anordnung der Kreuze auf. Sie standen jeweils in Paaren da. Eins nach dem anderen. Aber ihre Gruppe hatte aus vierunddreißig Männern bestanden. Ohne ihn waren es nur dreiunddreißig. Eine ungerade Zahl. Wie konnten immer zwei Kreuze nebeneinanderstehen? Eine schwache Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht war außer ihm noch jemand davongekommen. Er eilte die grauenvolle Todesallee entlang. Alte Freunde auf beiden Seiten, aber sein Bruder war nicht darunter. Vierundzwanzig Kreuze, aber an keinem hing sein Bruder. Sechsundzwanzig. Im Stillen betete er zu den Göttern, seine Hoffnung wurde immer stärker. Achtundzwanzig. Dreißig. Zweiunddreißig. Und an keinem hing sein Bruder. Weitere Kreuze gab es nicht. Einen Moment verspürte er Euphorie. Aber nicht lange. Wie ein Dolchstoß in die Rippen wurde ihm plötzlich klar, was Ptolemäus getan hatte. Rasend vor Wut und Schmerz schrie er auf und fiel auf die Knie in den Sand.
Als sein Zorn schließlich abflaute, war Kelonimos ein anderer Mensch geworden, ein Mann mit einem festen Ziel. Er hatte den Schwur dieser Männer einmal verraten. Noch einmal würde er ihn nicht verraten. Zusammen im Leben, zusammen im Tod. Ja. Das war er ihnen schuldig. Was auch immer es kostete.