IV
Knox schwenkte seine Taschenlampe umher, um zu schauen, warum Rick zurückgeschreckt war. Überall auf dem Boden lagen Skelette, manche waren winzig, an manchen hingen noch Fetzen zerrissener Kleidung und Schmuckstücke. «Oh, Mann», sagte Rick mit verzerrter Miene. «Was ist denn hier passiert, zum Teufel?»
«Die Belagerung, erinnerst du dich?», sagte Knox ruhiger, als ihm zumute war. «Die Männer werden gekämpft haben. Aber Frauen, Kinder und Alte haben bestimmt eine Zuflucht gesucht. Ein unterirdischer Tempel schien ihnen wahrscheinlich ein sicherer Ort zu sein. Bis sie eingeschlossen wurden und jemand ein Feuer zwischen ihrem Versteck und dem einzigen Fluchtweg angezündet hat.»
«Mein Gott! Was für eine Art zu sterben.»
Knox nickte nachdenklich. Er musste an einen Vorfall bei den Eroberungszügen Alexanders des Großen denken. In Samaria war ein Aufstand ausgebrochen und der makedonische Statthalter ermordet worden. Als Strafe hat Alexander die Stadt zerstört, jeden Rebellen getötet, der ihm in die Hände fiel, und dann zweihundert weitere verfolgt, die sich in eine Höhle in der Wüste flüchteten. Statt die Höhle zu erstürmen, hat er vor der Öffnung ein Feuer gemacht, sodass alle erstickt sind. Ihre Überreste sind erst kürzlich entdeckt worden. Dabei sind auch Siegel und Dokumente gefunden worden, die als älteste jemals gefundene Schriftstücke des Toten Meeres gelten. Knox hatte sich nie besonders für diesen Vorfall interessiert, der eher ein belangloser Nebenschauplatz von Alexanders Feldzügen zu sein schien. Doch plötzlich empfand er tiefes Mitgefühl und Trauer für all die Menschen, die Alexanders ruhmreichen, unaufhaltsamen Truppen in die Quere gekommen waren.
Rick tippte an seinen Arm. «Zum Träumen ist keine Zeit, Kumpel. Wir haben nur noch zehn Minuten.»
Knox riss seinen Blick von den zusammengekauerten Leichen und schaute sich um. Es war ein eindrucksvoller, unterirdischer griechischer Tempel mit ionischen Säulen in den Außenwänden und der Vorhalle. Auf Betonblöcken war ein Holzsteg gebaut worden, damit die Ausgräber sich schnell bewegen konnten, ohne dabei Schaden anzurichten. Knox ging in die Vorhalle, deren Wände mit ländlichen Szenen, Efeuranken, Früchten und Tieren verziert waren, und dann weiter in den Hauptraum. Er wurde von einer weißen Marmorstatue dominiert, die Alexander auf einem sich aufbäumenden Pferd zeigte. «Dort!», sagte Rick und deutete in die hintere Ecke. «Stufen.»
Sie führten hinab in eine Gruft; vor der hinteren Wand stand ein Sarkophag, auf dem ein griechischer Text eingemeißelt war.
«Kelonimos», las Knox vor. «Geheimnisträger, Glaubensbegründer.»
«Kelonimos?», fragte Rick. «Das ist doch dein Freund aus den Papyri, oder?»
«Und aus Alexandria», sagte Knox. Vor den Wänden standen Steinfässer, die mit Ostraka, beschrifteten Stein- und Tonscherben, gefüllt waren. Knox nahm eine heraus und betrachtete die verblichene Schrift. «Eine Bittschrift an die Götter», sagte er.
«Dann ist das hier also ein Tempel? Ein Tempel für Kelonimos?»
Knox schüttelte den Kopf. «Für Alexander. Oben im Hauptraum steht eine Kultstatue von ihm. Aber Kelonimos muss der Begründer oder Hauptpriester oder so etwas gewesen sein.» Er hockte sich hin. «Also, was haben wir bisher?», fragte er. «Ein alter Mann in Mallawi schreibt über seine Kindheit in Lycopolis. Er verehrt Alexander, Akylos und Kelonimos. Er verachtet die Ptolemäer und tut sie als Lügner und Betrüger ab. Und warum waren Epiphanes’ Männer so erbarmungslos, als sie die Zitadelle erstürmten? Jeder wurde abgeschlachtet oder exekutiert.» Er schaute Rick an. «Das riecht doch nach mehr als einem normalen Aufstand, oder? Immerhin wurden die Rebellen im Süden amnestiert. Warum mussten aber all diese Leute getötet werden?»
«Sie wussten etwas», schlug Rick vor. «Sie mussten zum Schweigen gebracht werden.»
«Der Geheimnisträger», meinte Knox nickend. «Das muss ein höllisches Geheimnis gewesen sein.»
«Irgendeine Idee?»
Knox grübelte über eine mögliche Antwort nach. «Die Ptolemäer waren den Ägyptern nie richtig ans Herz gewachsen», sagte er. «Sie wurden nur toleriert, weil sie die direkten Nachfolger von Alexander waren. Deswegen bemühten sie sich auch so sehr, Verbindungen zu ihm herzustellen. Sie verbreiteten das Gerücht, dass Ptolemäus I. Alexanders Bruder gewesen sei, und bauten ein Mausoleum, in dem beide zusammenliegen sollten. Stell dir vor, was geschehen wäre, wenn die Rechtmäßigkeit dieser Nachfolge in Frage gestellt worden wäre.»
«Das stelle ich mir später vor, wenn du nichts dagegen hast», sagte Rick und zeigte auf seine Uhr. «Wir müssen abhauen.»
Knox nickte. Sie eilten die Stufen hinauf und liefen dann über den Holzsteg und durch den Gang zurück zur Leiter. Rick stieg zuerst hoch, so schnell, dass Knox Mühe hatte, hinterherzukommen. «Okay», brummte Rick, als sie oben waren. «Gehen wir.» Er öffnete die Stahltür, schob Knox hinaus und verriegelte die Schlösser wieder. Links von ihnen flackerte in der Ferne eine Taschenlampe auf. Ein Hund knurrte. «Perfektes Timing», grinste Rick. Doch dann kam hinter einem Baum direkt vor ihnen die zweite Wache hervor und zog den Reißverschluss hoch. Die drei starrten sich erschrocken an.
«Lauf!», rief Rick. «Lauf!»