VII
Akylos!
Nicolas konnte es kaum glauben. Aber es war auch nicht unmöglich. Was geschrieben stand, stand geschrieben. Und dass Makedonien wieder zu alter Größe gelangen sollte, stand geschrieben, und nicht nur im Buch Daniel.
«Worum ging es denn?», rief Julia Melas und versuchte den Motorlärm seines Lamborghini-Roadsters zu übertönen. Sie war eine ehrgeizige Journalistin einer kanadischen Zeitung und interviewte ihn und seinen Vater für einen Artikel über Makedonien. In Kanada gab es eine große Auswanderergemeinde, eine Quelle sowohl moralischer als auch finanzieller Unterstützung. Zudem war sie äußerst attraktiv. Wenn alles klappte, vielleicht …
«Die Dragoumis-Gruppe unterstützt historische Forschungsprojekte auf der ganzen Welt», rief er zurück. «Denn die Wahrheit findet man nicht nur an einem Ort.» Er fuhr langsamer, um in die Berge abzubiegen, doch in der Kurve vor ihnen tauchte ein weißer Lastwagen auf, der schneller bergab raste, als es sein Alter und seine Größe zuließen. Nicolas hatte keine Lust zu warten, nicht mit solch einer schönen Frau neben ihm. Er beschleunigte den Lamborghini und überholte den Lastwagen, sodass der Fahrer bremsen musste und ohnmächtig seine Hupe ertönen ließ. Julia schrie auf und schaute ihn bewundernd an. Nicolas lachte. Er fühlte sich gut. In letzter Zeit bewegte sich etwas. So war das Leben. Ein, zwei Jahre passierte nichts, und dann kam alles auf einmal.
«Sie haben mir von Aristander erzählt», rief sie. Der Wind wirbelte den Rock von ihren Oberschenkeln, sodass sie ihn schüchtern nach unten pressen musste.
Nicolas wurde wieder etwas langsamer, damit sie besser miteinander reden konnten. «Er war Alexanders Lieblingsseher», erzählte er ihr. «Nach Alexanders Tod hatte er die Vision, dass das Land, in dem Alexander bestattet wird, über die Jahrhunderte nicht erobert werden würde.»
«Und?»
«Ein Mann namens Perdikkas, der Führer von Alexanders Nachfolgern, wollte Alexander im Königsgrab in Aigai neben dessen Vater bestatten.» Der Wagen schlängelte sich einen Berg hinauf, unter ihnen breiteten sich die fruchtbaren Ebenen Nordgriechenlands aus. Er fuhr auf den Seitenstreifen, hielt an, stieg aus und zeigte ihr Aigai. «Die Gräber sind vor dreißig Jahren entdeckt worden. Sie sind großartig. Sie sollten sie sich anschauen.»
«Das werde ich», erwiderte sie nickend. «Aber zurück zu diesem Perdikkas. Anscheinend hat er Alexanders Leiche nicht nach Hause zurückgebracht.»
«Nein», stimmte Nicolas zu. «Ein anderer makedonischer General, Ptolemäus, hat sie stattdessen nach Ägypten gebracht.» Er schüttelte bedauernd den Kopf. «Stellen Sie sich das vor! Sonst wäre Makedonien über die Jahrhunderte nie erobert worden.»
Julia runzelte die Stirn. «Das meinen Sie doch nicht im Ernst.»
«Warum nicht?»
«Weil … es war nur eine Weissagung.»
Nicolas schüttelte den Kopf. «Nein. Es ist eine historische Tatsache. Bedenken Sie: Perdikkas war der einzige Mann, der die Autorität hatte, das Reich zusammenzuhalten. Er versuchte, Alexanders Leiche von Ptolemäus zurückzuerobern, aber Ptolemäus versteckte sich jenseits des Nils, und Perdikkas verlor Hunderte Männer an die Fluten oder die Krokodile, als er ihn überqueren wollte. Seine eigenen Offiziere waren so wütend, dass sie ihn in seinem Zelt ermordeten. Danach war das Reich verdammt. Alexanders legitime Erben wurden umgebracht. Jeder kämpfte für sich. Und jetzt stellen Sie sich vor, Perdikkas hätte Erfolg gehabt.»
«Ja?»
Er legte seinen linken Arm um ihre Schulter, zog sie an sich heran und schwenkte dann mit dem anderen Arm den herrlichen Ausblick ab, der bis hinab zur strahlend blauen Ägäis reichte. «Schauen Sie sich das an», sagte er stolz. «Makedonien. Ist das nicht ein phantastischer Anblick?»
«Ja», stimmte sie zu.
«Perdikkas war ein ehrenvoller Mann. Er hätte Alexanders Sohn vor seinen Mördern geschützt und das Reich zusammengehalten. Und wenn Alexander der Vierte nur ein Zehntel von der Größe seines Vaters besessen hätte, wäre Aristanders Weissagung tatsächlich wahr geworden.»
«Sie sagten, Alexanders Leiche wurde nach Ägypten gebracht», merkte Julia an. «Aber dass Ägypten durch die Jahrhunderte nie erobert wurde, kann man nicht gerade behaupten, oder?»
Nicolas lachte. Er mochte es, wenn eine hübsche Frau geistreich war. «Nein», gab er zu. «Aber schauen Sie, was stattdessen geschah. Die Ptolemäer behielten den Thron so lange, wie sie Alexanders Vermächtnis respektierten. Dann aber schmolz Ptolemäus der Neunte den goldenen Sarg ein, um seine Truppen zu bezahlen, und das war ihr Ende. Und wer hat nach den Ptolemäern die Herrschaft übernommen?»
«Wer?»
«Die Cäsaren. Sie verehrten Alexander. Julius Cäsar weinte, weil er Alexander nicht das Wasser reichen konnte. Augustus, Septimius Severus, Caracalla und Hadrian sind zu seinem Mausoleum gepilgert, um Opfer zu bringen. Er war ihr Held. Aber dann gab es Aufstände, Alexanders Grab wurde geschändet, und die Römer verloren Ägypten an die Araber. Die Botschaft ist eindeutig, oder?»
«Tatsächlich?»
«Ehre Alexander, und du hast Erfolg. Ignoriere ihn, und du gehst zugrunde. In Makedonien hätte man Alexander mit Sicherheit geehrt. Und deshalb wären wir auch niemals erobert worden.»
Julia wich ein wenig beunruhigt von ihm ab. Sie schaute auf ihre Uhr und lächelte gequält. «Wir sollten besser weiterfahren», sagte sie. «Ihr Vater erwartet mich.»
«Natürlich», sagte Nicolas. «Wir dürfen Vater nicht warten lassen.» Er stieg in seinen Roadster, drehte den Zündschlüssel herum und genoss das kehlige Brummen des Motors. Bei seiner Fahrweise brauchten sie nur fünfzehn Minuten bis zum Haus seines Vaters.
«Wow!», murmelte Julia, als es in Sicht kam.
«Ein Nachbau des Königspalastes von Aigai», sagte Nicolas. «Nur größer.» Sein Vater verließ das Anwesen kaum noch. In den letzten Jahren hatte er sich immer mehr zurückgezogen und sein Geschäftsimperium professionellen Managern übergeben, sodass er sich auf sein wahres Ziel konzentrieren konnte.
Costis, der Sicherheitschef seines Vaters, kam heraus, um sie zu begrüßen. «Das ist Julia», sagte Nicolas. «Sie möchte meinen Vater interviewen. Aber zuerst muss ich ein paar Minuten mit ihm sprechen.»
«Er ist im Verlies», sagte Costis.
Nicolas wandte sich an Julia. «Vielleicht kann ich Sie später wieder in die Stadt mitnehmen.»
«Danke», sagte sie vorsichtig. «Aber ich kriege bestimmt ein Taxi.»
Er lachte wieder und genoss ihr Unbehagen. Seit er ihr von Aristanders Weissagung erzählt hatte, hatte sie beunruhigt gewirkt. Die heutigen Abendländer! Der leiseste Hinweis auf das Heilige jagte ihnen Angst ein. Nur gut, dass sie am vergangenen Abend nicht in der Kirche gewesen war und dass er ihr nicht vom Buch Daniel erzählt hatte. Von der vollständigen Weissagung, einschließlich der Beschreibung des Mannes, der laut Prophezeiung die makedonische Befreiung bringen soll.
Die Verliese erreichte man nur über einen gesicherten Fahrstuhl. Die Stahltüren schlossen sich geräuschlos hinter Nicolas. Nachdem der Netzhautscanner seine Augen überprüft hatte, fuhr der Lift langsam hinab und erzitterte ein wenig unter seinem Eigengewicht, als er zum Stillstand kam. Ein bewaffneter Wächter nahm vor dem Verlies Haltung an, in dem sein Vater seine kostbarsten Schätze aufbewahrte. Nicolas tippte den Code ein. Die Stahltür öffnete sich. Als er hineinging, musste er immer noch an das Buch Daniel denken, besonders an jene Verse, die seinem Volk vor zweitausendfünfhundert Jahren einen Erlöser versprochen hatten.
In der letzten Zeit ihrer Herrschaft, wenn die Frevler das Maß voll gemacht haben, kommt ein König voll Härte und Verschlagenheit. Er wird mächtig und stark und richtet ungeheures Verderben an; alles, was er unternimmt, gelingt ihm.
Dank seiner Schlauheit gelingt ihm sein Werk. Er wird überheblich und bringt über viele unversehens Verderben.
Wie durch Telepathie stand sein Vater bereits vor der Vitrine, in der ein paar Muster der Papyrusrolle von Mallawi lagen. Seine Hände ruhten wie die eines Priesters auf dem Walnussholzrahmen, während er auf die vergilbten Blätter und die ausgeblichene schwarze Schrift schaute. Ein Gefühl aus tiefer Liebe, Respekt und Stolz kam in Nicolas auf, als er seinen Vater betrachtete. Wahrlich ein König voll Härte!
Dragoumis schaute auf und musterte seinen Sohn mit emotionslosen schwarzen Augen. «Ja?», fragte er.
«Sie haben Akylos gefunden», platzte Nicolas hervor, der vor Aufregung kaum noch an sich halten konnte. «Es hat begonnen.»