VI
Dragoumis führte Gaille ins Esszimmer. Es war ein überwältigend großer Raum, in dessen Mitte ein langer Tisch aus Walnussholz stand. An einem Ende war für zwei Personen gedeckt worden, Kerzen erleuchteten die Plätze. Ein Diener wartete neben einem Beistelltisch, um ihnen das Essen zu servieren, einen dunklen, fleischigen Eintopf, der nach fremden Gewürzen roch. «Verzeihen Sie meinen einfachen Geschmack», sagte Dragoumis. «Ich habe meine Wurzeln nie verleugnet. Wenn Sie die gehobene Küche mögen, müssen Sie mit meinem Sohn essen gehen.»
«Es wird bestimmt köstlich schmecken», erwiderte Gaille und stocherte mit der Gabel unschlüssig auf ihrem Teller herum. «Entschuldigen Sie meine Neugier, Herr Dragoumis, aber haben Sie mich den ganzen Weg nur herfliegen lassen, um über meinen Vater zu sprechen?»
«Nein», sagte Dragoumis. «Ich habe Sie herfliegen lassen, um Sie um Ihre Hilfe zu bitten.»
«Meine Hilfe?», fragte sie stirnrunzelnd. «Wobei?»
Dragoumis beugte sich vor. Das Kerzenlicht fiel schräg in seine Augen, wodurch seine dunkelbraunen Iris wirkten, als seien sie goldgesprenkelt. «Der Text der Inschrift spricht von einem Grabmal in Siwa, gefüllt mit Schätzen, die dem Sohn Amuns würdig sind.»
«Sie wissen davon?»
«Natürlich», sagte Dragoumis ungeduldig. «Er besagt außerdem, dass die Schildknappen sich selbst getötet haben, bevor Ptolemäus die Möglichkeit hatte, sie … zu fragen, wo das Grabmal ist.»
«Ja.»
«Haben Sie jemals von einem solchen Grabmal gehört? Von einem Grabmal in Siwa, gefüllt mit Schätzen, die einem Mann wie Alexander würdig sind?»
«Nein.»
«Dann ist es noch zu entdecken?»
«Wenn es überhaupt existiert.»
«Es existiert», erklärte Dragoumis. «Es existiert. Sagen Sie mir, Frau Bonnard: Wäre es nicht großartig, dieses Grabmal zu entdecken? Können Sie sich vorstellen, welche Schätze man als würdig für einen solchen Mann erachtete, dem größten Eroberer der Geschichte? Die Waffen, die er aus den trojanischen Kriegen erbeutet hat? Seine persönliche Ausgabe von Homer, mit Anmerkungen von Aristoteles versehen? Seien Sie ehrlich: Sehnen Sie sich nicht danach, diejenige zu sein, die es findet? Ruhm. Wohlstand. Bewunderung. Sie werden sich in trüben Morgenstunden nie wieder fragen müssen, wozu Sie auf dieser Welt sind.»
«Sie missverstehen, wie diese Dinge funktionieren», sagte Gaille. «Ibrahim Beyumi hat alles dem Generalsekretär der ägyptischen Antiquitätenbehörde berichtet. Was als Nächstes passieren wird, liegt in deren Händen. Und ich werde nichts damit zu tun haben.»
«Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört, aber Elena war auch bei diesem Treffen.»
«Ja, aber …»
«Und sie hat den Generalsekretär davon überzeugt, dass nur sie diese Suche leiten sollte.»
«Was? Aber … wie das?»
«Elena ist eine fähige Verhandlungsführerin, glauben Sie mir. Aber in manchen Aspekten der Archäologie ist sie nicht so bewandert. Deswegen habe ich Sie hergebeten. Ich möchte, dass Sie mit Elena nach Siwa gehen. Ich möchte, dass Sie dieses Grabmal für mich finden.»
«Ich?»
«Ja. Sie haben eine Begabung, genau wie Ihr Vater.»
«Sie überschätzen meine …»
«Sie haben die untere Kammer entdeckt, nicht wahr?»
«Das war eigentlich …»
«Und Sie haben die Inschrift entziffert.»
«Die hätte auch jemand anderes …»
«Demut beeindruckt mich nicht, Frau Bonnard», sagte er. «Erfolg beeindruckt mich. Elena hat viele Tugenden, aber ihr fehlt es an Vorstellungskraft, an Empathie. Das ist Ihre Begabung. Es ist die Begabung, die unsere Sache braucht.»
«Ihre Sache?»
«Finden Sie es altmodisch, an eine Sache zu glauben?»
«In meinen Augen ist ‹Sache› ein Politikerwort für Blutvergießen», sagte Gaille. «Ich denke, Archäologie sollte nicht von Glaubensfragen abhängig sein. Sie sollte nur der Wahrheit verpflichtet sein.»
«Sehr gut», sagte Dragoumis nickend. «Was halten Sie von dieser Wahrheit: Meine Großväter wurden beide in Großmakedonien geboren. Als erwachsene Männer war einer von ihnen Serbe, der andere Grieche. Für Menschen wie Sie, Menschen, die an keine Sache glauben, mag es großartig sein, dass Familien wie meine getrennt und wie Sklaven weitergereicht werden. Aber es gibt Menschen, die das ganz und gar nicht gutheißen. Können Sie sich vielleicht vorstellen, wer diese Menschen sind?»
«Ich nehme an, Sie meinen die Menschen, die sich selbst als Makedonier bezeichnen», antwortete Gaille schwach.
«Mir geht es nicht darum, Ihre Meinung zu ändern, Frau Bonnard», sagte Dragoumis. «Ich stelle Ihnen lediglich eine Frage: Wer soll letztlich entscheiden, wo ein Mensch hingehört? Er selbst oder jemand anderes?» Er hielt inne, um ihr eine Antwort zu ermöglichen, doch sie hatte nichts dazu zu sagen. «Ich glaube, dass es eine rechtmäßige Nation Großmakedonien gibt», fuhr er fort. «Ich glaube, dass diese Nation unrechtmäßig zwischen Bulgarien, Serbien und Griechenland aufgeteilt worden ist. Ich glaube, dass das makedonische Volk seit Jahrhunderten ungerechterweise unterdrückt worden ist, dass es Jahrzehnte ethnischer Säuberung erlitten hat und dass es immer noch drangsaliert wird, weil es keine Stimme und keine Macht besitzt. Hunderttausende in dieser Region sind meiner Meinung, ebenso Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Sie teilen eine Kultur, eine Geschichte, eine Religion und eine Sprache miteinander und nicht mit den Staaten, denen sie zugeteilt worden sind. Sie nennen sich Makedonier, egal welchen Namen ihnen die Weltöffentlichkeit gibt. Ich glaube, diese Menschen verdienen die gleichen Freiheits-, Religions- und Selbstbestimmungsrechte, die für Sie selbstverständlich sind. Diese Menschen sind meine Sache. Wegen dieser Menschen bitte ich um Ihre Hilfe.» Er schaute sie an. Sein Blick und seine Selbstsicherheit hatten etwas beinahe Triumphierendes. Gaille versuchte, seinem Blick auszuweichen, aber es gelang ihr nicht. «Und Sie werden helfen», sagte er.