IV
Gaille schaute Philipp Dragoumis erschrocken an. «Sie haben Pavlos doch nicht ermordet?»
«Nein», versicherte er ihr. «Ich schwöre Ihnen beim Grab meiner Frau, dass ich nichts mit seinem Tod oder dem Tod von Knox’ Eltern zu tun habe. Ich wollte nur sagen, dass bestimmte Leute geglaubt haben, ich hätte ein Motiv dafür.»
«Weshalb? Was für ein Motiv?»
«Sie müssen eines verstehen, Frau Bonnard. Ich bin ein makedonischer Patriot. Diese ganze Region war einmal Makedonien. Durch den Vertrag von Bukarest wurde sie zwischen Serbien, Bulgarien und Griechenland aufgeteilt. Ich habe es zu meiner Lebensaufgabe gemacht, diese grobe Ungerechtigkeit rückgängig zu machen. Doch andere, Männer wie Pavlos, glauben, dass diese Region rechtmäßig zu Griechenland gehört. Sie haben versucht mich aufzuhalten und versuchen es immer noch. Pavlos war geschickt darin, versteckte Andeutungen zu machen. Er wollte, dass mein Leben und meine Geschäfte durchleuchtet werden, und zwar nicht deshalb, weil er mich für korrupt hielt, sondern weil er wusste, dass dies für immer einen dunklen Fleck auf meiner Weste hinterlassen würde. Als er starb, starben mit ihm auch die Forderungen nach einer Ermittlung. Sie verstehen also, warum die Leute glaubten, ich wäre für seinen Tod verantwortlich. Aber ich versichere Ihnen, dass ich dafür nicht verantwortlich bin. Ich habe Pavlos nie als meinen Feind, sondern nur als meinen Widersacher betrachtet, und dazwischen besteht ein himmelweiter Unterschied. Selbst wenn ich ein Mann der Gewalt wäre, was ich nicht bin, hätte ich sie niemals gegen Pavlos geduldet. Die Wahrheit ist, dass ich keine Notwendigkeit dazu hatte.» Er beugte sich näher. «Versprechen Sie mir, Elena niemals zu erzählen, was ich Ihnen jetzt anvertrauen werde?»
«Ja.»
«Gut. Denn Pavlos war indiskret gewesen. Dafür hatte ich unwiderlegbare Beweise. Die Freigabe dieser Information wäre … problematisch für ihn gewesen. Wir hatten darüber gesprochen. Ich versichere Ihnen, er war keine Bedrohung mehr für mich.»
«Das sagten Sie bereits.»
«Ja, das sagte ich.» Er wirkte etwas ungeduldig. «Frau Bonnard, Sie haben in den letzten drei Wochen eng mit Elena Koloktronis zusammengearbeitet. Glauben Sie wirklich, sie würde für mich arbeiten, wenn sie überzeugt wäre, ich hätte ihren Ehemann ermordet?»
Gaille dachte einen Moment nach, doch es gab nur eine Antwort. «Nein.»
«Und Sie müssen wissen, Frau Bonnard, dass Pavlos für Elena alles bedeutet hat. Glauben Sie mir: Würde sie mir die Schuld an seinem Tod geben, sie hätte alles dafür getan, dass die ganze Welt davon erfährt.»
«Sie hätte es öffentlich gemacht?»
«Oh, nein», sagte Dragoumis leise. «Sie hätte mich umgebracht.»
Er lächelte, als er Gailles bestürzte Reaktion sah. «Das ist eine Tatsache», sagte er unumwunden. «Es wäre Blutrache gewesen. Die ist in dieser Region noch weit verbreitet. Aber wenn man bedenkt, wie sehr sie ihn geliebt hat …» Er schüttelte den Kopf. «Ein Teil von mir befürchtete, dass sie etwas tun könnte. So viel Kummer benötigt ein Ventil. Aber sie kannte die Wahrheit. Ihr Mann war ein wilder und leichtsinniger Fahrer, der seinen Wagen nie gewartet hat. Nein. Elena war eine gebrochene Frau, aber kein Problem. Der junge Freund Ihres Vaters, Knox, war das Problem.»
«Knox? Inwiefern?»
«Er glaubte, ich hätte seine gesamte Familie ermordet, um Pavlos zum Schweigen zu bringen», sagte Dragoumis. «Und er wollte nicht, dass ich einfach so davonkomme. Im Grunde kann man ihn verstehen. Er führte die Kampagne von Pavlos fort. Er schrieb ununterbrochen an Lokalpolitiker, Zeitungen und Fernsehsender. Er besetzte Regierungsgebäude und Polizeireviere. An die Fassade meines Hauptsitzes sprühte er in riesigen Lettern ‹Dragoumis-Ermittlung›. Er druckte es auf Heliumballons, warf Flugblätter von Hochhäusern, spannte Transparente an die Banden von Sportereignissen, die im Fernsehen übertragen wurden, rief bei Radiosendungen an und …»
«Knox? Knox hat all das getan?»
«O ja», sagte Dragoumis nickend. «Es war beeindruckend, besonders wenn man bedenkt, dass er ja überzeugt war, ich sei zu einem Mord fähig. Und es war natürlich schädlich. Man hatte Mitleid mit ihm, wie Sie sich vorstellen können. Die Menschen begannen zu reden. Ich bat ihn, aufzuhören. Er weigerte sich. Er versuchte, mich bewusst zu einer unbesonnenen Handlung zu treiben, um damit seinen Standpunkt zu untermauern. Ich begann mich um ihn zu sorgen. Er tat das alles ja nur, weil er krank vor Kummer war. Und dann gab es jene, die mit mir sympathisieren und die ihn zum Schweigen bringen wollten. Irgendwann konnte ich seine Sicherheit nicht mehr gewährleisten. Und wenn ihm etwas zugestoßen wäre … Sie können sich vorstellen, was die Leute dann gedacht hätten. Er musste verschwinden, aber er wollte mir nicht zuhören. Deshalb habe ich jemanden gesucht, dem er zuhören würde.»
«Meinen Vater», sagte Gaille benommen.
«Er war ein enger Freund der Familie Knox. Und er kannte Daniel. Ich bat ihn zu kommen. Zuerst wollte er nicht. Wie Sie wissen, sollte die Mallawi-Expedition gerade beginnen. Doch ich versicherte ihm, dass es um Leben und Tod ging. Er nahm das nächste Flugzeug hierher, und wir schlossen einen Handel. Er sollte Knox mitnehmen und ihn ruhigstellen. Ich wollte dafür sorgen, dass Knox unangetastet blieb. Ihr Vater besuchte ihn in seinem Hotel. Offenbar hielt Knox ihm eine flammende Rede über die Auflehnung gegen Tyrannen. Ihr Vater hörte höflich zu und schüttete K.-o.-Tropfen in seinen Retsina. Als er wieder zu sich kam, waren beide auf einem Schiff, das langsam nach Port Said fuhr, und ihr Vater hatte Zeit, vernünftig mit ihm zu reden. Und aus diesem Grund, Frau Bonnard, macht es mich traurig, dass Sie sich von Ihrem Vater entfremdet haben. Denn das wäre nie geschehen, wenn ich ihn nicht um Hilfe gebeten hätte.»