I
Ein blauer Lastwagen scherte vor Elena aus, als sie zurück ins Delta fuhr, und zwang sie, hart auf die Bremse zu treten. Sie hämmerte auf die Hupe, bis der Lastwagen wieder auf seine Spur bog, dann kurbelte sie ihr Fenster runter, reckte ihre Faust und brüllte dem verdutzten Fahrer wahllos ein paar arabische Phrasen zu, damit er wusste, was sie von ihm hielt. Sie hatte schlechte Laune. Der Grund dafür war das Gespräch mit Nicolas. Und dieser verfluchte, selbstgefällige Franzose. Beide hatten Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann Pavlos wachgerufen. Elena hasste das, denn wann immer dies passierte, litt sie wieder unter ihrem Verlust.
Pavlos war ihr schon lange bekannt gewesen, bevor sie ihm das erste Mal begegnete. Der Ton, die Kraft und die Weisheit seiner Artikel, mit denen er den makedonischen Nationalismus lächerlich machte, hatten sie gleichzeitig verärgert und amüsiert. Auch die Gerüchte über törichte Frauen, die sich ihm an den Hals warfen, hatten sie verärgert. Sie war eine stolze und unabhängige Frau, die sich, wie viele andere von ihrer Sorte, immer nach der großen Liebe gesehnt hatte. Sie hatten sich schließlich in Thessaloniki bei der Diskussionsrunde eines Radiosenders kennengelernt, bei der sie entgegengesetzte Standpunkte vertraten. Er hatte sie sofort überrascht. Sie hatte einen gerissenen, anmaßenden, geschniegelten und schleimigen Typen erwartet. Doch Pavlos war nichts von alledem. Er war zwar nicht arrogant, aber sie hatte noch nie einen Menschen getroffen, der derart selbstsicher war. Schon beim ersten Handschlag hatte sie gewusst, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Damals und auch später hatte er sie allein mit seinem Blick durcheinanderbringen können. Sie schien ein offenes Buch für ihn zu sein, offenbar verstand er nicht nur alles, was sie sagte, sondern auch jeden Subtext. Er hatte sie betrachtet, als wäre sie ein Film, den er schon kannte.
Während der gesamten Diskussion hatte er sie auseinandergenommen, hatte ihre besten Argumente mit Humor entkräftet und rücksichtslos ihre Schwachpunkte aufgedeckt. Völlig verwirrt hatte sie zurückschlagen wollen, indem sie Keramopoullos über den eigenständigen Stil makedonischer Keramik zitierte, bevor ihr einfiel, dass das Zitat in Wirklichkeit von Kallipolitis stammte. Er hatte sie nur angegrinst. Für einen schrecklichen Moment war ihr Ruf als Wissenschaftlerin von seiner Gnade abhängig gewesen. Dieser Moment – der Moment, seiner Gnade ausgeliefert zu sein – hatte ihr Leben verändert.
Nach der Diskussionsrunde war Elena zwei Tage lang in ihrem Museum unablässig von Raum zu Raum gestreift wie eine Abhängige auf Entzug. Jedes Mal, wenn sie arbeiten wollte, war sie sofort von einem heftigen Verlangen ähnlich einem Hungergefühl abgelenkt worden. Sie hatte es nie nötig gehabt, Männer anzurufen, aber bei Pavlos konnte sie nicht anders. Aus Furcht, er könnte sich über sie lustig machen, hatte sie sich schroff gemeldet und gesagt, dass er bei der Diskussion interessante Punkte vertreten hätte. Er hatte ihr gedankt. Dann hatte sie der Mut verlassen. Sie hatte den Hörer ans Ohr gehalten, hatte etwas Kluges oder Verletzendes sagen wollen, aber ihr war nichts eingefallen. Als er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm essen gehen würde, hätte sie heulen können.
Wie war es mit ihm gewesen? Unbeschreiblich. Als wäre die Innigkeit ihrer Liebe zu viel für ihr Gedächtnis, konnte sie sich nur an wenige Einzelheiten erinnern. Aber sie wusste noch genau, wie sehr sie diese Liebe genossen hatte. Noch heute erlebte sie manchmal einen intensiven Moment des Glücks, wenn sie auf der Straße jemanden sah, der ihm ähnelte, wenn sie den Rauch seiner Zigarettenmarke roch oder wenn ein Mann sie genauso anschaute, wie Pavlos es getan hatte, sicher, dass er sie ins Bett kriegen konnte, wann immer er wollte. Wie dieser arrogante Franzose.
Pavlos’ Tod hatte Elena am Boden zerstört. Natürlich hatte er das. Sie war noch immer nicht darüber hinweggekommen. Wie konnte sie auch? Der Kummer war, ebenso wie die Liebe, ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte sich den Kummer als eine große Meeresdünung vorgestellt, die einen für eine Weile ins Elend zog, ehe sie einen genau dort wieder absetzte, wo man vorher gewesen war. Aber so war es nicht. Der Kummer hatte sie völlig verändert. Ihr Herz war hart geworden.