I
Auf Mohammed El Dahabs Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto seiner Tochter Layla. Es war vor zwei Jahren aufgenommen worden, kurz bevor sie krank wurde. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, während der Arbeit regelmäßig auf das Foto zu schauen. Manchmal erfreute ihn der Anblick ihres Gesichts. Häufig jedoch, wie in diesem Moment, verließ ihn der Mut. Mit Daumen und Zeigefinger knetete er seinen Nasenrücken und murmelte ein leises, inniges Gebet. So betete er vielleicht dreißig Mal am Tag für sie, ebenso während seiner rituellen reh’kahs. Bisher hatten seine Gebete wenig geholfen, aber so war der Glaube nun einmal. Man musste es immer wieder versuchen.
Draußen ertönten merkwürdige Geräusche, Schreie und frohlockendes Gelächter. Er schaute gereizt aus seinem Bürofenster. Die Arbeit auf der Baustelle war zum Erliegen gekommen. Seine Kolonne hatte sich in einer Ecke versammelt, Ahmed tanzte wie ein Derwisch bei einem moulid. Verärgert lief Mohammed hinaus. Allah hatte ihn mit den faulsten Arbeitern in ganz Ägypten gestraft. Jede Ausrede war ihnen recht! Mit finsterer Miene ging er hinaus und wollte seine Männer ordentlich zusammenstauchen, doch als er sah, was den Aufruhr verursacht hatte, verflog sein Ärger schlagartig. Der Bagger hatte ein großes Loch in den Boden gerissen und eine Wendeltreppe freigelegt, die in einen tiefen, dunklen Schacht führte, in dem Staub wirbelte. Die Treppe sah alt aus, so alt wie die Stadt.
Mohammed und seine Männer starrten sich an. Jeder von ihnen hatte den gleichen Gedanken. Wie lange war dieser Schacht verborgen gewesen? Wer konnte ahnen, welche Reichtümer dort unten lagen? Alexandria war nicht nur eine der antiken Metropolen gewesen, sie rühmte sich auch eines verlorenen Schatzes von Weltruhm. Gab es einen Mann unter ihnen, der nicht davon geträumt hatte, den goldenen Sarkophag des Stadtgründers Iskandar Al Akbar, Alexander des Großen, zu entdecken? Junge Burschen gruben Löcher in öffentliche Parkanlagen; Frauen erzählten ihren Freundinnen von seltsamen Echos, die sie hörten, wenn sie gegen die Wände ihrer Keller klopften; Diebe brachen in antike Zisternen und verbotene Keller von Tempeln und Moscheen ein. Aber wenn sich der Schatz irgendwo befand, dann hier im Herzen des antiken königlichen Viertels der Stadt. Mohammed war kein Träumer, aber als er in diesen tiefen Schacht schaute, zog sich sein Magen zusammen.
War dies am Ende das Wunder, auf das er gewartet hatte?
Er bat um Fahds Taschenlampe und setzte vorsichtig seinen linken Fuß auf die oberste Stufe. Mohammed war ein großer Mann, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sein beträchtliches Gewicht auf den ausgetretenen Stein verlagerte. Doch er machte einen stabilen Eindruck. Mit dem Rücken zum rauen Kalkstein der Außenwand probierte er die nächsten Stufen. Die Innenwand, die die Wendeltreppe von dem breiten, zentralen Schacht trennte, war aus Ziegeln gemauert, von denen viele verwittert oder herausgefallen waren. Mohammed warf einen Stein in das Loch und wartete mit angehaltenem Atem, bis er vier Herzschläge später am Boden aufkam. Als die Wendeltreppe sich über ihm schloss, sah er, dass die gesamte Treppe in den Fels gehauen war. Es war eher eine Skulptur als ein Bauwerk. Diese Erkenntnis schenkte ihm Vertrauen. Immer im Kreis stieg er weiter hinab. Schließlich wurde die Treppe gerade und führte durch einen Torbogen in einen großen, runden Raum, der voller Sand, Steine und heruntergefallener Ziegel war. In der Mitte umrahmten vier stabile Säulen den offenen Grund des zentralen Schachtes. Im schwach hereinfallenden Tageslicht schwirrten trägen Planeten gleich zahllose Staubkörner, die sich wie ein Film auf seine Lippen legten und in der Kehle kratzten.
Es war kühl hier unten und herrlich still nach dem unablässigen Lärm der Baustelle. Einschließlich der Treppe, über die er gekommen war, führten vier Torbögen aus dieser Rotunde, einer in jede Himmelsrichtung. In die runde Kalksteinwand waren gebogene Bänke mit einer Haube aus Austernschalen eingelassen, die prächtig verziert waren mit paradierenden Göttern, fauchenden Medusen, wilden Bullen, schwebenden Vögeln, knospenden Blumen und Efeuranken. Durch den ersten Torbogen sah man in einen dunklen, abschüssigen Gang, dessen Boden mit Schutt und Staub übersät war. Mohammed schluckte, als er die Spinnweben mit der Hand zur Seite fegte. Sowohl Furcht als auch Vorfreude kamen in ihm auf. Ein niedriger Seitengang führte von dem gewundenen Hauptgang in eine große, hohe Kammer, in deren Wänden sich viele Reihen rechteckiger Öffnungen befanden. Eine Katakombe. Er ging zur linken Wand, leuchtete auf einen verstaubten gelben Schädel und schob ihn mit einem Finger zur Seite. Eine kleine, angelaufene Münze fiel aus dem Kiefer. Er hob sie auf, betrachtete sie und legte sie zurück. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung. Als er die vielen Schädel und Knochen sah, verzog er das Gesicht. Dann ging er zurück in den Hauptgang, um seine Erkundung fortzusetzen. Er kam an vier weiteren Bestattungskammern vorbei, ehe er zwölf Stufen hinabstieg, dann weitere fünf, bis er den Absatz einer anderen Treppe und den Grundwasserspiegel erreichte. Er ging zurück in die Rotunde. Auch Ahmed, Husni und Fahd waren heruntergekommen, mit Händen und Füßen scharrten sie im Schutt. Er wunderte sich, dass sie sich nicht weiter umgeschaut hatten, doch dann wurde ihm klar, dass nur dort natürliches Licht hereinfiel und er die einzige Taschenlampe hatte.
«Was ist das hier?», fragte Ahmed. «Was habe ich da gefunden?»
«Eine Nekropole», antwortete Mohammed knapp. «Eine Totenstadt.» Seltsam verärgert durch ihre Anwesenheit, ging er durch das zweite Portal in eine geräumige, geschlossene Kammer, die mit Kalksteinquadern gesäumt war. Vielleicht ein Festsaal, in dem die Hinterbliebenen jedes Jahr um ihre Angehörigen trauerten. Eine kurze Treppe führte durch ein letztes Portal in einen kleinen Vorhof. Auf einem Absatz war ein Paar hoher, angelaufener und beschlagener Metalltüren mit sechseckigen Griffen in die weiße Marmorwand eingelassen. Mohammed zog an der linken Tür. Sie öffnete sich mit einem Quietschen. Er zwängte sich hindurch in eine breite, hohe und leere Vorkammer. An manchen Stellen war der Putz von den Wänden gebröckelt, sodass man den rauen Kalkstein darunter sehen konnte. In den Sturz über dem Torbogen in der gegenüberliegenden Wand waren in zwei Reihen griechische Schriftzeichen eingemeißelt, die Mohammed nicht lesen konnte. Über eine Stufe gelangte er in eine zweite Hauptkammer von ähnlicher Breite und Höhe, aber doppelter Tiefe. In der Mitte stand eine kniehohe Plinthe, eine große Steinplatte, die den Eindruck machte, dass einmal etwas so Wichtiges auf ihr gelegen hatte wie ein Sarkophag. Wenn, dann war er jedoch seit langem verschwunden.
An der Wand neben der Tür war ein mattes Bronzeschild angebracht. Ahmed versuchte es abzureißen. «Stopp!», schrie Mohammed. «Bist du verrückt? Willst du für ein altes Schild und ein paar Scherben wirklich zehn Jahre in Damanhur riskieren?»
«Außer uns weiß niemand von diesem Ort», entgegnete Ahmed. «Wer weiß, welche Schätze hier unten liegen? Genug für uns alle.»
«Diese Nekropole ist schon vor Jahrhunderten geplündert worden.»
«Aber hier liegt noch genug herum», gab Fahd zu bedenken. «Die Touristen zahlen jeden Preis für antiken Plunder. Mein Cousin hat einen Marktstand in Al Gomhurriya. Er weiß, was solche Sachen wert sind. Wenn wir ihn holen …»
«Hört mir zu», sagte Mohammed. «Hört mir alle zu. Ihr werdet nichts mitnehmen, und ihr werdet niemandem etwas erzählen.» «Wer gibt dir das Recht, Entscheidungen zu treffen?», wollte Fahd wissen. «Ahmed hat die Treppe gefunden, nicht du.»
«Aber das ist meine Baustelle, nicht eure. Wenn jemand davon erfährt, werde ich euch zur Rechenschaft ziehen. Kapiert?» Er musterte einen nach dem anderen, bis sie seinem Blick auswichen und davongingen. Besorgt schaute er ihnen hinterher. Solchen Männern Geheimnisse anzuvertrauen war, als wollte man Wasser in einem Sieb aufbewahren. Die Slums von Alexandria waren voller Verbrecher, die allein für das Gerücht eines solchen Fundes zwanzig Kehlen aufschlitzen würden. Aber deswegen würde er nicht nachgeben. Sein ganzes Leben hatte sich Mohammed bemüht, ein guter Mensch zu sein. Die Tugend war für ihn ein Quell tiefer Freude gewesen. Wenn er nach einer besonders großzügigen oder vernünftigen Tat den Raum verließ, hatte er sich vorgestellt, mit welcher Bewunderung sich die anderen über ihn äußerten. Doch als Layla krank geworden war, hatte er plötzlich gemerkt, dass es ihm völlig egal war, was die Leute über ihn dachten. Seitdem interessierte ihn nur noch, dass seine Tochter gesund wurde. Aber wie konnte er den Fund zu diesem Zweck nutzen? Die Anlage zu plündern war sinnlos. Auch wenn Ahmed optimistisch war, Mohammed glaubte nicht, dass es hier genug zu holen gab. Und wenn er versuchte, die anderen auszuschließen, würden sie ihn an seine Chefs verraten, vielleicht sogar an die Polizei. Das wäre ein schwerer Schlag für ihn. Als Bauleiter war er per Gesetz verpflichtet, einen solchen Fund der staatlichen Antiquitätenbehörde zu melden. Wenn man dort erfuhr, dass er ihn geheim gehalten hatte, würde er seinen Job verlieren, seine Arbeitslizenz und mit ziemlicher Sicherheit auch seine Freiheit. Das durfte er einfach nicht riskieren. Sein Gehalt war zwar kümmerlich, aber es war alles, was zwischen Layla und dem Abgrund stand.
Die Lösung, die ihm schließlich einfiel, war so simpel, dass er es kaum fassen konnte, nicht gleich darauf gekommen zu sein.