I
Die Moskitos waren an diesem Abend in feindseliger Stimmung. Gaille hatte zwei Räucherkerzen angezündet, ihr weißes Hemd eng um Hals und Handgelenke zugeknöpft, die lange Hose in die Socken gestopft und dann jeden noch freiliegenden Zentimeter Haut mit Moskitospray eingesprüht. Trotzdem fanden diese winzigen Biester einen Weg, um sie zu stechen. Dann schwirrten sie mit ihrem nervtötenden Summen davon und zogen sich an die hohe Decke des Hotelzimmers zurück, wo Gaille sie selbst dann nicht erwischte, wenn sie sich auf einen Stuhl stellte. Da war es schon wieder, dieses hämische Summen an ihrem Ohr. Sie schlug nach ihrem Hals, aber nur als Geste der Selbstbestrafung, weil sie sich so leicht kriegen ließ. Schon war es passiert. Ihre rechte Hand begann zu pochen, und ein roter Fleck zeichnete sich ab. Die Hand, mit der sie die Maus des Computers bediente, war ein leichtes Ziel, wenn sie jede Nacht diese verdammten Ausgrabungsberichte abtippte. Sie hielt kurz inne und schaute zum Fenster. Ein freier Abend könnte nicht schaden. Ein kühles Bier und ein nettes Gespräch. Aber wenn Elena sie in einer Bar erwischte …
Ohne Vorwarnung ging die Tür auf, und Elena schlenderte herein, als wäre es ihr Zimmer. Sie hatte keinerlei Respekt vor der Privatsphäre anderer, aber wehe, man wagte es, an ihre Tür zu klopfen, ohne seinen Besuch zwei Wochen vorher schriftlich anzumelden. «Ja?», fragte Gaille.
«Ich habe gerade einen Anruf erhalten», sagte Elena. Streitlustig betrachtete sie Gaille, als wäre sie in einer ungünstigen Lage, die Gaille ausnützen könnte. «Ibrahim Beyumi. Kennen Sie ihn? Er leitet die staatliche Antiquitätenbehörde in Alexandria. Offenbar hat er eine Nekropole gefunden. Er glaubt, dass ein Teil davon makedonisch ist, und will, dass ich sie mir mit ihm anschaue. Außerdem will er ein Team für eine mögliche Ausgrabung zusammenstellen und hat mich gefragt, ob ich ihn fachlich unterstützen kann. Ich musste ihn daran erinnern, dass ich mich um meine eigene Ausgrabung kümmern muss. Aber ich habe Sie erwähnt.»
Gaille runzelte die Stirn. «Braucht er Hilfe bei Übersetzungen?»
«Die Ausgrabung muss schnell über die Bühne gehen», entgegnete Elena. «Registrieren, abtragen, bearbeiten und lagern. Übersetzungen kommen später.»
«Und …?»
«Er braucht einen Fotografen, Gaille.»
«Ach so.» Gaille kam nicht mehr mit. «Aber ich bin keine Fotografin.»
«Sie haben eine Kamera, oder? Sie haben für uns Fotos gemacht, oder? Wollen Sie mir sagen, dass sie nicht gut sind?»
«Ich habe sie nur gemacht, weil Sie mich darum gebeten haben.»
«Also ist es jetzt mein Fehler, oder was?»
Gaille fragte vorsichtig: «Was ist mit Maria?»
«Und wer macht dann für uns Fotos? Wollen Sie behaupten, Sie wären eine ebenso gute Fotografin wie Maria?»
«Natürlich nicht.» Sie hatte ihre Kamera nur mitgenommen, um stark verblichene Ostraka zu fotografieren, denn hinterher konnte sie mit dem Bildbearbeitungsprogramm des Laptops die Schrift leserlicher machen. «Ich habe nur gesagt, dass ich keine …»
«Außerdem spricht Maria weder Arabisch noch Englisch», stellte Elena fest. «Ibrahim könnte nichts mit ihr anfangen, sie wäre ganz auf sich gestellt. Wollen Sie das?»
«Nein, ich sage ja nur …»
«Ich sage ja nur!», äffte Elena sie nach.
«Geht es um die Sache vorhin?», fragte Gaille. «Wie gesagt, ich habe dort unten nichts gesehen.»
Elena schüttelte den Kopf. «Das hat damit nichts zu tun. Es ist ganz einfach. Der Leiter der staatlichen Behörde in Alexandria hat um Ihre Hilfe gebeten. Soll ich ihm wirklich sagen, dass Sie seine Bitte ablehnen?»
«Nein», entgegnete Gaille resigniert. «Natürlich nicht.»
Elena nickte. «Gleich morgen früh werden wir uns einen Überblick verschaffen. Seien Sie um sieben Uhr fertig zur Abfahrt.» Sie schaute sich in Gailles unordentlichem Hotelzimmer um, schüttelte übertrieben ungläubig den Kopf und knallte beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu.