II
«Der Stein von Rosette?», meinte Rick stirnrunzelnd und machte mit seiner Digitalkamera ein paar Aufnahmen von der Wandmalerei, bevor sie weitergingen. «Du kannst dir bestimmt vorstellen, was ich darüber weiß. Warum?»
«Und das wäre?»
Rick zuckte mit den Achseln. «Es ist eine große, monumentale Stele, ein Pfeiler aus schwarzem Basalt oder so.»
«Aus quarzhaltigem Stein», stellte Knox richtig. «Eigentlich glänzt er grau und hat eine rosarote Maserung. Schwarz ist er erst durch zu viel Wachs und den Dreck in London geworden.» «Er hat eine Inschrift in drei Sprachen», sagte Rick. «Hieroglyphen, Demotisch und Griechisch. Und er wurde von Napoleons Leuten in Rosette gefunden. Um 1799, richtig?»
«Genau.»
Sie kamen zu einem zweiten Wandgemälde, das dem ersten glich. Rick machte zwei Aufnahmen. «Man glaubte, damit einen Schlüssel gefunden zu haben, um die Hieroglyphen zu entziffern, deshalb suchte man nach weiteren Fragmenten. Sie wären ihr Gewicht in Diamanten wert, hat mal jemand gesagt.» Er schaute Knox an. «Geht es darum? Die verlorenen Stücke des Steins von Rosette?»
«Nein.»
«Man hat nie welche gefunden, aber der Stein stammte ursprünglich auch nicht aus Rosette, er wurde nur als Baumaterial dorthin transportiert.» Die Wände des schmalen Gangs waren jetzt verkohlt, in dem getrockneten Lehm waren große Risse. «Ein höllisches Feuer», murmelte Rick, während er fotografierte.
«Du hast gerade vom Stein von Rosette erzählt», meinte Knox.
«Ja. Man hat Kopien angefertigt. Die Entzifferung wurde zu einem richtigen Wettlauf. Jean-Francois Champollion ist schließlich der Durchbruch gelungen. Er hat seine Ergebnisse irgendwann in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts veröffentlicht.»
«1822.» Freitag, den 27. September, um genau zu sein. Dieses Datum gilt für viele als die Geburtsstunde der modernen Ägyptologie.
Rick zuckte mit den Achseln. «Damit hat sich mein Wissen erschöpft.»
«Nicht schlecht», sagte Knox. «Aber weißt du, was du noch gar nicht erwähnt hast?»
«Was denn?»
«Die Inschrift selbst. Ihren Inhalt.»
Rick lachte auf. «Du hast recht. Ich habe keine Ahnung.»
«Damit bist du nicht allein. Ein so großartiges Monument, eine solche Ikone, und kaum jemand weiß, was die Inschrift besagt.»
«Und was besagt sie?»
Knox richtete seine Taschenlampe nach vorn. Der weiße Marmor eines Portals schimmerte hell auf, zu beiden Seiten lagen geisterhafte Wölfe. «Man nennt die Inschrift das Dekret von Memphis», sagte er, während sie weitergingen. «Es wurde im Jahre 169 vor Christus zu Ehren der Thronbesteigung von Ptolemäus V. Epiphanes geschrieben. Zu der Zeit war das goldene Zeitalter der Ptolemäer bereits vorüber, dank Ptolemäus IV.»
«Der Partykönig», meinte Rick nickend und bückte sich, um die Wölfe zu fotografieren.
«Genau. Der König der Seleukiden, Antiochos III., dachte, er hätte ein leichtes Spiel mit ihm. Er eroberte Tyros, die Ptolemäer und einen großen Teil der ägyptischen Flotte.»
«Erspare mir die Details», sagte Rick. «Wir haben nicht alle Zeit der Welt, denk daran.»
«Okay», sagte Knox und ging weiter. «Bei Raphia fand eine große Schlacht statt. Die Ägypter haben gewonnen. Der Friede war wiederhergestellt. Das hätte eine gute Nachricht sein sollen.»
«Aber?»
«Die Steuern waren bereits äußerst hoch. Ptolemäus IV. musste sie noch weiter anheben, um seinen Krieg und die Siegesfeiern zu finanzieren. Unmut breitete sich aus. Die Menschen verließen ihre Höfe. In ganz Ägypten gab es heftige Aufstände. Ptolemäus wurde ermordet, und sein Nachfolger, Ptolemäus V. Epiphanes, war noch ein Kind. Eine Rebellengruppe griff Militärposten und Tempel im Nildelta an. Epiphanes’ Männer verfolgten sie. Die Rebellen suchten Zuflucht in einer Zitadelle.»
«Richtig», sagte Rick und schnippte mit den Fingern. «Sie dachten, sie wären in Sicherheit. Aber da lagen sie falsch.»
«Sie lagen völlig falsch», stimmte Knox zu, während sie zwei Stufen zu einem zweiten Durchgang hinabstiegen. «Laut der Inschrift auf dem Stein von Rosette erstürmten Epiphanes’ Männer die Zitadelle und töteten alle Rebellen.»
«Reizend.»
«Und weißt du, wo das passiert ist? In einem Ort namens Lycopolis, die Stadt der Wölfe, in der Kultstätte Busiris.»
«Busiris? Lag das nicht ungefähr da, wo wir gerade sind?»
«Ganz genau», sagte Knox nickend, als sie das Portal erreichten. «Willkommen in der Zitadelle des antiken Lycopolis.»
Rick ging als Erster mit seiner Taschenlampe hindurch. «O Gott!», murmelte er, als er sah, was dort drinnen war. Und dann drehte er sich weg, als wäre ihm schlecht geworden.