I
Augustin hatte recht gehabt. Am nächsten Morgen in die Ausgrabungsstätte zu gelangen war ein Kinderspiel. Auch die Reaktion seines Freundes hatte Augustin richtig eingeschätzt: Knox war aufgeregt wie ein kleines Kind, wieder an einem richtigen archäologischen Projekt mitzuarbeiten. Das letzte Mal lag lange zurück. Viel zu lange. Allein dort zu sein und die Geräusche und Gerüche aufzunehmen machte ihn glücklich. An der Oberfläche brummte ein Generator, der eine Seilwinde antrieb, die beinahe unablässig aus alten Lastwagenreifen gefertigte und mit Schutt gefüllte Körbe ans Tageslicht beförderte. Oben wurde der Schutt durchgesiebt, um dann entweder ins Museum oder auf die Deponie gebracht zu werden. In der gesamten Nekropole waren durch meterlange weiße Verlängerungskabel gespeiste Leuchten und Lüfter verteilt, in den engen Grabkammern knieten Mitarbeiter der Antiquitätenbehörde mit Atemmasken und weißen Handschuhen und bargen Artefakte und Skelettteile.
Augustin hatte das gesamte Tauchequipment heruntergebracht und dann Knox abgeholt. Sie begaben sich zum Grundwasserspiegel, zogen sich um und kontrollierten sehr sorgfältig die Ausrüstung des jeweils anderen. Wer so häufig getaucht war wie die beiden, konnte bei den Sicherheitschecks schon mal nachlässig werden. Aber in einem abgeschlossenen Labyrinth wie diesem konnte man nicht einfach seinen Bleigürtel abnehmen und an die Oberfläche tauchen, wenn etwas schiefging. Hier gab es keine Oberfläche.
Augustin hatte eine Rolle Nylonschnur dabei und wollte sich eines Tricks der Ariadne bedienen. Doch es gab keine Möglichkeit, die Schnur zu befestigen. «Bleib hier», sagte er, verschwand kurz und kehrte mit einem der mit Schutt gefüllten Körbe zurück. Er band den Faden am Griff fest und zog ein paar Mal daran. Dann hakten sie sich mit einer Rettungsleine zusammen, schalteten ihre Tauchlampen an und gingen ins Wasser. Augustin rollte die Schnur hinter sich auf. Beide hatten auf Flossen verzichtet und sich Gewichte zum Gehen umgehängt. Auf diese Weise wirbelten sie zwar mehr Bodenablagerungen auf, behielten jedoch leichter die Orientierung. Sie waren noch nicht weit gekommen, da entdeckten sie den Eingang einer Kammer, deren loculi zum größten Teil noch versiegelt waren. Im Lichtstrahl von Augustins Taschenlampe konnte man auf einem Siegel das eindrucksvolle Porträt eines Mannes sehen, der sie mit großen Augen direkt anstarrte. Die Öffnung des benachbarten loculus war verwittert. Im Licht ihrer Taschenlampen funkelte etwas Metallisches auf. Vorsichtig zog Augustin eine Grableuchte heraus, die er in seine Tasche steckte.
Sie schauten sich drei weitere Kammern an. Die Schnur blieb an der Wand des gekrümmten Gangs hängen. Augustin zog sie los. Das Wasser wurde immer trüber. Manchmal wirbelte es so stark, dass sie einander kaum noch sehen konnten. Knox überprüfte seine Sauerstoffflasche. Hundertunddreißig Bar. Sie waren übereingekommen, ihren Sauerstoffvorrat zu dritteln: ein Drittel für den Hinweg, ein Drittel für den Rückweg und ein Drittel zur Sicherheit. Als Knox Augustin den Stand zeigte, deutete der den Weg zurück, den sie gekommen waren. Aber die Schnur stand nicht mehr unter Spannung. Augustin rollte sie auf. Er rollte und rollte. Dann drehte er sich zu Knox um. Hinter seiner Taucherbrille trat leicht alarmiert das Weiß seiner Augen hervor. Knox runzelte die Stirn und breitete fragend die Arme aus. Augustin hielt das lose Ende der orangefarbenen Schnur hoch, das eigentlich am Griff des Korbs festgebunden sein sollte.