III
Es war schon dunkel, als Ibrahim und Elena in Kairo eintrafen, um sich mit Yusuf Abbas zu treffen. Der mächtige Mann erwartete sie in einem reich verzierten Konferenzzimmer und telefonierte. Als sie eintraten, schaute er mürrisch auf und deutete vage auf Stühle. Ibrahim stellte seinen Laptop auf den Tisch und wartete, dass Yusuf aufhörte, mit seinem Sohn Mathematikhausaufgaben zu besprechen.
Jede Begegnung mit seinem Chef empfand der feinsinnige Ibrahim als äußerst unangenehm. Seit Yusuf eine Palastrevolte angezettelt und den Platz seines tatkräftigen, beliebten und höchst respektierten Vorgängers eingenommen hatte, war er absurd fett geworden. Ibrahim fand es schon abstoßend zu sehen, wie sich Yusuf aus einem Stuhl hievte. Es glich dem Segelsetzen einer alten Fregatte. Yusuf musste sich eine Weile innerlich darauf vorbereiten, und wenn er dann seine Arme auf die Lehnen stützte, war es, als würde der Wind die losgemachten Segel aufblähen, während die Takelage quietscht und der Anker eingeholt wird. Kam er dann tatsächlich in Bewegung, wollte man beinahe jubeln. Im Moment ruhten seine schwabbeligen Unterarme jedoch wie riesige Nacktschnecken auf dem polierten Walnusstisch, hin und wieder hob er einen Finger an den Hals, als wären seine Drüsen schuld an seiner Fettleibigkeit und nicht der permanente Verzehr reichhaltiger Kost. Wenn ihn jemand von der Seite ansprach, bewegte Yusuf, um ihn anzuschauen, nicht den Kopf, sondern nur die Augen; dabei glitten seine Pupillen in die Augenwinkel, was ihm einen karikaturhaft anrüchigen Ausdruck verlieh. Schließlich beendete er sein Telefonat und wandte sich an Ibrahim. «Diese Eile», sagte er. «Ich hoffe, es lohnt sich.»
«Ja», sagte Ibrahim. «Das tut es.» Er schaltete seinen Laptop an, zeigte seinem Chef Gailles Fotos von der unteren Kammer und erklärte, wie sie entdeckt wurde.
Yusufs Augen leuchteten auf, als er die Särge sah. «Sind die aus … Gold?», fragte er.
«Wir hatten noch keine Zeit für eine Analyse», sagte Ibrahim. «Mein Hauptanliegen war, die Stätte zu verschließen und Sie zu informieren.»
«Ganz richtig, ganz richtig. Das haben Sie gut gemacht. Sehr gut.» Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen. «Das ist eine bemerkenswerte Entdeckung. Ich denke, ich werde die Ausgrabung persönlich überwachen.»
Elena beugte sich vor. Nicht sehr weit, aber weit genug, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
«Ja?», fragte er.
«Wir sind uns beide des enormen Glücks bewusst, dass Sie trotz Ihrer anderen Verpflichtungen für dieses Treffen Zeit gefunden haben, Herr Generalsekretär, denn wir wissen, dass Ihre Zeit außerordentlich kostbar ist.» Ihr Arabisch klang gestelzt und schwerfällig, bemerkte Ibrahim, doch ihre Haltung und die Schmeicheleien waren tadellos. «Wir sind froh, dass Sie, wie wir, diesen Fund für historisch bedeutend erachten, und wir sind erfreut, dass Sie sich persönlich an der Ausgrabung engagieren werden. Aber nicht allein um diese aufregenden Neuigkeiten mit Ihnen zu teilen, waren Herr Beyumi und ich so begierig auf dieses Treffen. Noch etwas anderes bedarf Ihrer Weisheit und dringenden Prüfung.»
«Etwas anderes?», fragte Yusuf.
«Die Inschrift», sagte Elena.
«Inschrift? Welche Inschrift?» Er starrte Ibrahim an. «Warum haben Sie mir nichts von einer Inschrift gesagt?»
«Ich dachte, ich hätte es, Herr Generalsekretär.»
«Wollen Sie mir widersprechen?»
«Selbstverständlich nicht, Herr Generalsekretär. Verzeihen Sie.»
Er zeigte ihm wieder das Foto der Inschrift auf dem Laptop.
«Ach, das», sagte Yusuf. «Warum haben Sie nicht gesagt, dass wir darüber sprechen?»
«Verzeihen Sie, Herr Generalsekretär. Das war mein Fehler. Sie werden bemerken, dass die Schriftzeichen Demotisch sind, die Inschrift aber eigentlich Griechisch ist.» Er deutete auf Elena. «Eine Kollegin von Frau Koloktronis hat sie entziffert. Ich kann Ihnen die Kodierung des Textes erläutern, wenn es Sie interessiert. Andernfalls ist hier eine Kopie der Übersetzung.»
Yusufs Kiefer mahlten schwer, als er den Text las, und seine Augen wurden groß, als er die Bedeutung verstand. Kein Wunder, dachte Ibrahim. Memphis war im antiken Ägypten als Weiße Mauer bekannt gewesen. Desh Ret, das rote Land, war der Ursprung des Wortes Desert, Wüste. Kelonimos bezeichnete Alexander als ‹Sohn des Amun›, der Ruheort seines Vaters war demzufolge das Orakel von Amun in der Oase Siwa, wo Alexander, wie alte Quellen behaupteten, bestattet werden wollte. Demzufolge besagte die Inschrift, dass eine Gruppe von Schildknappen Alexanders Leichnam direkt vor Ptolemäus’ Nase in Memphis geraubt und durch die Libysche Wüste zu einem Grabmal gebracht hatte, das in Sichtweite des Orakels von Amun in der Oase Siwa vorbereitet war. Als Ptolemäus sie verfolgt hatte, hatten sie lieber Selbstmord begangen, als ihm in die Hände zu fallen. Alle außer Kelonimos, Bruder des Akylos, der einer Gefangennahme entgangen war; er hatte später die Leichen seiner Kameraden in Erfüllung seines Schwurs zur Bestattung zurück nach Alexandria gebracht.
Als Yusuf zu Ende gelesen hatte, zwinkerte er. «Ist das … ist das glaubwürdig?», fragte er.
«Die Übersetzung ist korrekt», antwortete Ibrahim vorsichtig. «Ich habe sie selbst überprüft. Und wir sind auch der Meinung, dass die Inschrift echt ist. Sie haben auf den Fotos von der unteren Kammer ja selbst gesehen, dass dieser Kelonimos alles Erdenkliche getan hat, um diese Männer zu ehren. Das hätte er nicht zum Spaß gemacht.»
«Aber das muss doch verrückt gewesen sein», sagte Yusuf nachdenklich. «Warum haben diese Männer ihr Leben für so ein Himmelfahrtskommando weggeworfen?»
«Weil sie glaubten, es sei Alexanders letzter Wunsch gewesen, in Siwa bestattet zu werden», antwortete Elena. «Ptolemäus hat diesen Wunsch missachtet, als er ein Grabmal in Alexandria bauen ließ. Sie dürfen nicht vergessen, dass Alexander für diese Menschen ein Gott gewesen war. Sie hätten alles riskiert, um seine Befehle auszuführen.»
«Sie wollen mich doch bitte nicht glauben machen, dass Alexander in Siwa bestattet ist, Frau Koloktronis», seufzte Yusuf. Ibrahim wusste, was seinem Chef durch den Kopf ging. In den frühen 1990er Jahren hatte eine andere griechische Archäologin der Weltpresse verkündet, sie hätte Alexanders Grabmal in der Oase Siwa gefunden. Obgleich ihre Behauptung schnell und umfassend widerlegt worden war, löste die Kombination Siwa und Alexander in der archäologischen Fachwelt seither eine gewisse Erheiterung aus.
«Nein», entgegnete Elena. «Alexanders einbalsamierte Leiche war noch Jahrhunderte, nachdem diese Inschrift entstanden ist, in Alexandria aufgebahrt. Niemand bestreitet das. Dennoch ist es möglich, dass sein Leichnam geraubt und auf den Weg nach Siwa gebracht worden ist, wo bereits ein fertiges Grabmal wartete.»
Yusuf lehnte sich zurück und schaute Elena streng an. «Ach so», bemerkte er, «jetzt wird mir der wahre Grund Ihrer Anwesenheit bei diesem Treffen klar. Sie sind nicht hier, weil Sie sich um eine fachgerechte Ausgrabung dieses Fundes in Alexandria sorgen. Oh, nein. Sie sind hier, weil Sie glauben, dass es irgendwo in Siwa ein Grabmal gibt, ausgestattet mit – wie hat es die Inschrift noch einmal ausgedrückt? – ach ja, mit ‹Schätzen, die dem Sohn Amuns würdig sind›. Und nun wollen Sie bestimmt meine Erlaubnis, danach zu suchen.»
«Alexander war der erfolgreichste Eroberer der Geschichte», sagte Elena. «Einer von Ägyptens bedeutendsten Pharaonen. Stellen Sie sich vor, was die Entdeckung seines Grabmals für dieses Land bedeuten würde. Stellen Sie sich vor, welche Ehre dem Generalsekretär zuteil werden würde, dessen weise Führung diese Entdeckung ermöglicht hat. Ihr Name wird in einem Atemzug mit den großen Patrioten dieses Landes genannt werden.»
«Fahren Sie fort.»
«Und Sie haben nichts zu verlieren. Ich weiß, dass die Chancen, etwas zu finden, äußerst gering sind. Ich weiß, dass die Mittel der Antiquitätenbehörde unverzeihlich beschränkt sind. Aber man muss etwas tun. Nichts Großes. Sagen wir, eine unaufwendige epigraphische Untersuchung, geleitet mit Ihrer Erlaubnis. Nur ich und eine Kollegin. Alles andere würde nur für Unruhe sorgen. Sie wissen, wie schnell in Siwa Gerüchte entstehen.»
Yusuf runzelte die Stirn. «Jeder Hügel in Siwa ist schon tausend Mal umgegraben worden», stellte er fest. «Wenn dieses Grabmal tatsächlich existiert und seit zweitausenddreihundert Jahren verborgen geblieben ist, glauben Sie dann ernsthaft, es in ein paar Wochen finden zu können? Wissen Sie eigentlich, wie breit die Senke von Siwa ist?»
«Es wird nicht leicht», gab Elena zu. «Aber es ist einen Versuch wert. Denken Sie an die Alternative. Wenn der Inhalt der Inschrift durchsickert, wird jeder Schatzsucher der Welt in Siwa auftauchen. Wenn wir das Grabmal zuerst finden, können wir dem zuvorkommen oder wenigstens verkünden, dass die Sache haltlos ist. Beides wäre einem Goldfieber vorzuziehen.»
«Ein Goldfieber wird es nur geben, wenn die Sache herauskommt», entgegnete Yusuf.
«Aber sie wird herauskommen», beharrte Elena. «Das wissen wir alle. Das liegt in der Natur solcher Dinge.»
Yusuf nickte nachdenklich. «Siwa ist das Gebiet von Dr. Sayed», sagte er mürrisch, als würde er das seinem Kollegen übel nehmen. «Und Dr. Sayed hat seine eigenen Regeln. Sie werden auch seine Erlaubnis brauchen.»
«Natürlich», sagte Elena nickend. «Soweit ich weiß, hat er eine beachtliche Sammlung von Quellenmaterial. Vielleicht könnten Sie ihn bitten, uns Zugang zu gewähren. Ich weiß natürlich, dass es keinen Einfluss auf Ihre Entscheidung haben wird, die Sie allein zum Wohle Ägyptens treffen werden, aber Sie könnten ihn vielleicht wissen lassen, dass unsere Geldgeber sehr bedeutende Vergütungssummen für all Ihre Berater zurückgelegt haben. Selbstverständlich auch für Sie selbst.»
«Einer zeitlich unbegrenzten Expedition kann ich nicht zustimmen», sagte Yusuf. «Siwa ist klein. Egal, welche Tarnung Sie sich einfallen lassen, die Leute werden bald wissen, was Sie dort tun. Ihre Anwesenheit wird genau die Auswirkung haben, die Sie vermeiden wollen.»
«Sechs Wochen», schlug Elena vor. «Um mehr bitte ich nicht.»
Yusuf legte die Hände auf seinen Bauch. Er hatte gern bei allem das letzte Wort. «Zwei Wochen», erklärte er. «Zwei Wochen von morgen an. Dann sprechen wir uns wieder, und ich entscheide, ob ich Ihnen noch weitere zwei Wochen gebe oder nicht.»