II
An diesem Abend kam Ibrahim zu Hause nicht zur Ruhe. An der Stelle, an der die Krankenschwester ihm Blut für die Gewebetypisierung abgenommen hatte, juckte sein Unterarm. Er musste ständig an die großen braunen Augen der armen Layla denken, an ihre furchtbare Situation und an ihren Mut. Am Ende konnte er nicht mehr still sitzen. Er ging in sein Arbeitszimmer und zog das Buch aus dem Regal, aus dem sein Vater ihm als Kind vorgelesen hatte. Dann lief er hinaus zu seinem Wagen.
Mohammed wohnte im neunten Stock. Die Aufzüge waren kaputt. Als Ibrahim endlich oben angekommen war, musste er eine Weile verschnaufen, ehe er wieder Luft bekam. Wie anstrengend musste es erst mit einem kranken Kind sein! Er dachte an seine privilegierte Kindheit und Ausbildung. Durch den Wohlstand seines Vaters hatte er es immer leicht gehabt. Drinnen hörte er den unterdrückten Streit eines verheirateten Paares, das einer zu großen Belastung ausgesetzt war und nicht wollte, dass ihr geliebtes Kind es hörte. Plötzlich war es ihm peinlich, er fühlte sich wie ein Eindringling. Gerade, als er wieder gehen wollte, ging unerwartet die Tür auf, und eine Frau kam heraus, einen Schal über dem Kopf und feierlich gekleidet, als wolle sie jemandem einen Besuch abstatten. Sie war genauso erschrocken, ihn zu sehen, wie er sie. «Wer sind Sie?», wollte sie wissen. «Was machen Sie hier?»
«Entschuldigen Sie», sagte er nervös. «Ich habe etwas für Mohammed.»
«Was?»
«Nur ein Buch.» Er zog es aus der Tasche. «Für seine Tochter. Ihre Tochter.»
Die Frau sah Ibrahim verwirrt an. «Das ist für Layla?»
«Ja.»
«Aber … wer sind Sie?»
«Mein Name ist Ibrahim.»
«Der Archäologe?»
«Ja.»
Sie biss nachdenklich auf ihre Unterlippe. Dann ging sie zurück in die Wohnung. «Mohammed», sagte sie. «Komm mal her. Dein Freund, der Archäologe, ist zu Besuch gekommen.»
Mohammed kam aus einem Nebenzimmer. Die Tür war so niedrig, dass er den Kopf einziehen musste. «Ja?», fragte er besorgt. «Gibt es ein Problem an der Ausgrabungsstätte?»
«Nein», sagte Ibrahim und zeigte ihm das Buch. «Es ist nur … mein Vater hat mir immer daraus vorgelesen. Ich dachte, vielleicht können Sie und Ihre Tochter …» Er schlug das Buch auf, blätterte durch die Seiten und zeigte ihm die prachtvollen Illustrationen von Alexander aus Geschichte und Mythologie.
«Aber das ist ja wunderschön», sagte Mohammed staunend. Er schaute seine Frau an, die erst zögerte und dann nickte. «Layla hat den ganzen Abend von Ihnen gesprochen», sagte Mohammed und nahm Ibrahims Ellbogen. «Ich weiß, dass es ihr viel bedeuten würde, wenn Sie ihr das Buch selbst geben.»