II
Als Gaille eintraf, war an der Ausgrabungsstätte die Hölle los. Da sie in der Hauptkammer noch nicht alles fotografiert hatte, war ihre erste Sorge, dass sie keine Chance mehr hatte, ihre Arbeit zu beenden. Sie streifte ihre Schuhe ab, krempelte die Hose hoch und watete ins Wasser, um genauer nachzuschauen. Ihr Begleiter des vergangenen Abends war bereits dort und warf Streichhölzer in die Ecken. «Drücken Sie sich?», fragte sie.
«Schauen Sie!», sagte er und zeigte in die Vorkammer. «Sehen Sie, dass der Wasserpegel dort höher ist?»
Gaille verstand die Bedeutung sofort. «Und wohin fließt das Wasser ab?»
«Gute Frage», erwiderte Knox aufgeregt. «Eigentlich müsste das ganze Bauwerk aus massivem Fels gehauen sein.» Er warf die letzten Streichhölzer in die Ecken, dann beobachteten beide gespannt, wie sie durch den Sog langsam aufeinander zutrieben.
«Ich habe den Abend gestern wirklich genossen», murmelte Gaille.
«Ich auch.»
«Vielleicht können wir das irgendwann wiederholen.»
«Gerne», sagte er. Dann verzog er das Gesicht. «Aber zuerst muss ich Ihnen etwas erzählen, Gaille.»
«Über Knox, stimmt’s?», sagte sie. «Er ist ein Freund von Ihnen, oder?»
«Das ist wirklich nicht der richtige Ort, um darüber zu sprechen. Kann ich später im Vicomte vorbeikommen?»
Sie lächelte erfreut. «Gern, und danach gehen wir aus. Dieses Mal lade ich Sie ein.»
Aus der Vorkammer hörte man ein Platschen, dann tauchte Mansoor auf und brachte Elena mit. «Was ist denn hier los?», wollte Mansoor wütend wissen. Gaille wandte sich an Knox und erwartete, dass er die Situation erklärte, doch er zog nur den Kopf ein, packte seine Körbe und verschwand. Elena und Mansoor starrten ihm mit offenen Mündern hinterher. «Wer zum Teufel war das?», fragte Mansoor.
«Augustins Tauchpartner», erklärte Gaille. «Ich glaube, die Pumpe war teilweise seine Idee.»
«Aha», sagte Mansoor. «Ich hoffe, er denkt nicht, dass ich sauer auf ihn bin. Aber mit diesem verfluchten Augustin habe ich noch ein Wörtchen zu reden.» Er schüttelte halb amüsiert, halb verwundert den Kopf. «Was sollen diese Streichhölzer?», fragte er.
«Hier ist nichts abgeschöpft worden», erklärte Gaille und zeigte auf die unterschiedlichen Wasserpegel. «Wir wollten nur wissen, wohin es abläuft.»
«Und?»
«Die Streichhölzer scheinen auf die Plinthe zuzutreiben.» Sie hockten sich davor und leuchteten mit ihren Taschenlampen auf die zahlreichen Luftblasen, die darunter verschwanden. «Akylos von den dreiunddreißig», murmelte Gaille, der plötzlich ein Gedanke gekommen war. «Dem Tapfersten ohne Vergleich, er ragte über all die andern.»
«Die Inschrift über dem Türsturz?», meinte Mansoor stirnrunzelnd. «Was ist damit?»
«Die Griechen liebten Wortspiele.»
«Spannen Sie uns nicht auf die Folter», sagte Elena.
Gaille verzog ihr Gesicht. Sie befürchtete, dass die beiden sie für verrückt hielten. «Wenn Akylos über all die andern ragte, könnte die Inschrift dann nicht bedeuten, dass die anderen – die anderen zweiunddreißig, meine ich – in ihrer Ehre unter Akylos standen?»
Mansoor lachte und musterte sie. «Sie sind Fotografin?»
Sie errötete und spürte Elenas stechenden Blick. «Eigentlich bin ich Sprachwissenschaftlerin.»
«Ich hole Ibrahim», sagte Mansoor nickend. «Er muss sich das selbst anschauen.»