II
Ibrahim war bestens gelaunt, als er durch Alexandria fuhr. Die Sonne war zwar gerade erst aufgegangen, aber er war einfach zu aufgeregt gewesen, um im Bett zu bleiben. In der Nacht hatte er einen Traum gehabt. Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte halb wach gelegen und auf das Weckersignal gewartet, als ihn plötzlich ein herrliches, intensives Wohlgefühl überwältigt hatte. Er wurde den Gedanken nicht los, dass ihm etwas Bedeutendes bevorstand.
Er hielt bei der Adresse, die Mohammed ihm gegeben hatte. Es war ein heruntergekommener, großer Wohnblock mit unebenen und ausgeblichenen Mauern, die kaputte Eingangstür hing schief in den Angeln, und aus der Gegensprechanlage baumelten lose Kabel. Mohammed wartete bereits im Treppenhaus. Als er Ibrahims Mercedes sah, leuchteten seine Augen. Stolz schlenderte er zum Wagen und drehte sich dabei um wie ein Schauspieler oder Sportler, der den Gang auf die Bühne auskostete. Jetzt sollten ihn die Freunde und Nachbarn sehen!
«Guten Morgen», begrüßte ihn Ibrahim.
«Wir reisen also mit Stil», sagte Mohammed, während er den Beifahrersitz so weit wie möglich zurückschob, um Platz für seine Beine zu haben. Trotzdem passten sie kaum in den Wagen.
«Ja.»
«Meine Frau ist sehr aufgeregt», sagte der hoch gewachsene Mann. «Sie ist davon überzeugt, dass wir Alexander gefunden haben.» Er warf Ibrahim einen verstohlenen Blick zu, um seine Reaktion abzuschätzen.
«Das bezweifle ich leider», sagte Ibrahim. «Alexander wurde in einem riesigen Mausoleum beigesetzt.»
«Und das, was wir gefunden haben, ist kein Teil davon?»
Ibrahim zuckte mit den Achseln. «Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem gab es ja nicht nur Alexander. Auch die Ptolemäer wurden in der Königsstadt bestattet.» Er lächelte Mohammed zu. «Sie wollten, dass Alexanders Ruhm auf sie abfärbt. Das klappte allerdings nicht so ganz. Als der römische Imperator Augustus zu Alexanders Grabmal pilgerte, fragten ihn die Priester, ob er auch die sterblichen Überreste der Ptolemäer sehen wollte. Wissen Sie, was er antwortete?»
«Was?»
«Dass er gekommen wäre, um einen König zu sehen, keine Kadaver.»
Mohammed lachte laut. Die Bewohner Alexandrias hatten es immer genossen, wenn die Mächtigen einen Dämpfer bekamen. Ibrahim war so erfreut, dass er eine weitere Anekdote zum Besten gab. «Sie kennen doch die Pompejussäule?»
«Natürlich. Ich kann sie von meiner Baustelle aus sehen.»
«Wussten Sie, dass sie nichts mit Pompejus zu tun hat? Sie wurde zu Ehren des Imperators Diocletianus errichtet, nachdem er ein Expeditionsheer geführt hatte, um hier einen Aufstand niederzuschlagen. Er war so wütend auf die Alexandriner, dass er schwor, sich so lange an ihnen zu rächen, bis sein Pferd knietief in Blut versinken würde. Raten Sie, was dann geschah.»
«Keine Ahnung.»
«Sein Pferd stolperte und schürfte sich die Knie auf, sodass sie blutverschmiert waren. Diocletianus sah das als Zeichen und verschonte die Stadt. Zum Gedenken daran wurde die Säule errichtet. Aber wissen Sie, was die Alexandriner getan haben?»
«Nein.»
«Sie errichteten ebenfalls eine Statue. Allerdings nicht von Diocletianus, sondern von seinem Pferd.»
Mohammed brach in schallendes Gelächter aus und schlug sich auf die Schenkel. «Von seinem Pferd! Das gefällt mir.»
Sie näherten sich dem Stadtzentrum. «Wo geht es lang?», fragte Ibrahim.
«Links», antwortete Mohammed. «Und dann wieder links.» Sie hielten, um eine Straßenbahn vorbeifahren zu lassen. «Und wo befand sich Alexanders Grabmal wirklich?», fragte er.
«Das weiß niemand genau. Das antike Alexandria wurde von furchtbaren Bränden, Aufständen, Kriegen und Erdbeben heimgesucht. Es gab auch einen katastrophalen Tsunami. Zuerst sog er das Wasser aus den Hafenbecken, sodass die Einwohner ausschwärmten, um die Fische und Wertsachen, die dort lagen, aufzusammeln. Dann kam die Welle. Sie hatten keine Chance.»
Mohammed schüttelte verwundert den Kopf. «Davon habe ich nie etwas gehört.»
«Das weiß auch kaum jemand. Jedenfalls wurde die Stadt zerstört, und die ganzen großartigen Stätten gingen verloren, sogar Alexanders Mausoleum. Seitdem hat man es nicht gefunden, obwohl wir es gesucht haben, glauben Sie mir.» Zahllose Archäologen haben es versucht, auch Heinrich Schliemann, nachdem er schon in Troja und Mykene erfolgreich gewesen war. Aber alle sind leer ausgegangen.
«Sie müssen doch irgendeine Ahnung haben.»
«Unsere Quellen stimmen darin überein, dass es nordöstlich der antiken Kreuzwege gewesen sein muss», erwiderte Ibrahim. «Das Problem ist nur, dass wir nicht genau wissen, wo diese waren. Überall stehen neue Gebäude. Vor zweihundert Jahren wäre es möglich gewesen. Vor tausend Jahren erst recht. Aber heute …»
Mohammed schaute verstohlen zu Ibrahim. «Man sagt, Alexander wäre unter der Moschee des Propheten Daniel bestattet. Angeblich liegt er in einem goldenen Sarg.»
«Das stimmt leider nicht.»
«Und warum sagt man das dann?»
Ibrahim schwieg eine Weile und sammelte seine Gedanken. «Wissen Sie, dass Alexander im Koran genannt wird?», fragte er. «Ja, als Prophet Zulkarnein, der mit den zwei Hörnern. Leo, der Afrikaner, ein arabischer Autor des sechzehnten Jahrhunderts, schrieb von frommen Moslems, die zu seinem Grabmal gepilgert sind; und er meinte, es läge unweit der Kirche des Heiligen Markus, genau wie die Moschee des Propheten Daniel. Und arabische Legenden erwähnen einen Propheten Daniel, der ganz Asien erobert und Alexandria gegründet hat und hier in einem goldenen Sarg bestattet worden ist. Dabei kann es sich doch nur um Alexander handeln, oder? Man kann also verstehen, warum die Leute die Moschee mit Alexanders Grabmal verwechseln. Und dann hat ein Grieche behauptet, er hätte auf einem Thron in den Verliesen der Moschee eine Leiche mit einem Diadem gesehen. Die Vorstellung ist sehr verführerisch. Es gibt nur ein Problem.»
«Welches?»
«Die Vorstellung ist völlig falsch.»
Mohammed lachte. «Sind Sie sicher?»
«Ich habe die Verliese selbst durchsucht», sagte Ibrahim nickend. «Glauben Sie mir, sie sind römisch und nicht ptolemäisch. Sie sind fünfhundert oder sechshundert Jahre zu jung. Aber die Vorstellung hat sich gehalten, nicht zuletzt, weil auf unseren besten Stadtplänen des antiken Alexandria das Mausoleum ganz in der Nähe der Moschee eingezeichnet ist.»
«Na also!»
«Die Karte wurde für Napoleon III. gezeichnet», sagte Ibrahim. «Er brauchte Informationen über das antike Alexandria für seine Julius-Cäsar-Biographie und hat deshalb seinen Freund Khedive Ismael gefragt. Da es zu der Zeit keinen verlässlichen Stadtplan gab, beauftragte Khedive Ismael einen gewissen Mahmoud El Falaki, eine Karte anzufertigen.»
«Als Herrscher tut man sich mit der Forschung eindeutig leichter.»
«So ist es», pflichtete Ibrahim ihm bei. «Und die Karte ist auch sehr schön geworden. Aber leider nicht perfekt. Auch Mahmoud ist den alten Legenden erlegen, deshalb hat er Alexanders Grabmal nahe der Moschee eingezeichnet. Und heute drucken alle modernen Stadtführer und Geschichtsbücher die Karte nach und halten den Mythos so am Leben. Der arme Iman wird ständig von Touristen belästigt, die Alexander finden wollen. Aber dort werden sie ihn nicht finden, glauben Sie mir.»
«Wo sollten sie stattdessen suchen?»
«Wie gesagt, nordöstlich der alten Kreuzwege. Wahrscheinlich in der Nähe des Terra-Santa-Friedhofs. Etwas nordwestlich vom Shallalatpark.»
Mohammed sah niedergeschlagen aus. Ibrahim tätschelte seinen Arm. «Geben Sie die Hoffnung noch nicht auf», sagte er. «Eine Sache habe ich Ihnen noch nicht erzählt.»
«Was denn?»
«Ich habe sie noch niemandem erzählt. Ich wollte vermeiden, dass Gerüchte entstehen. Und Sie dürfen sich nicht allzu große Hoffnungen machen. Wirklich nicht.»
«Erzählen Sie.»
«In Alexandria gab es nicht nur ein Grabmal für Alexander, sondern zwei.»
«Zwei?»
«Ja. Das Soma, das große Mausoleum, von dem ich Ihnen erzählt habe, wurde um 215 vor Christus von Ptolemäus Philopater errichtet, dem vierten der ptolemäischen Könige. Aber davor hatte Alexander ein anderes Grab, eher im traditionellen makedonischen Stil. So ähnlich wie das, das Sie und Ihre Männer gestern gefunden haben.»
Mohammed schaute ihn erstaunt an. «Glauben Sie, wir haben dieses Grab gefunden?»
«Nein», sagte Ibrahim sanft. «Eigentlich nicht. Wir sprechen hier von Alexander, vergessen Sie das nicht. Die Ptolemäer hätten für ihn bestimmt etwas Spektakuläres gebaut.» Allerdings wusste er selbst nicht, was. Man wusste nicht einmal, wann Alexanders Leiche von Memphis nach Alexandria gebracht worden war. Heute stimmte man zwar darin überein, dass es im Jahre 285 vor Christus gewesen sein muss, fast vierzig Jahre nach seinem Tod. Doch niemand konnte zufriedenstellend erklären, warum die Überführung so lange gedauert haben soll. «Wir glauben, dass die Leiche öffentlich aufgebahrt worden ist, es ist also unwahrscheinlich, sie tief unten in den Katakomben zu finden. Außerdem wurde Alexander noch Jahrhunderte später als Gott verehrt. Die Stadtbehörden hätten niemals zugelassen, dass man selbst sein erstes Grabmal in eine öffentliche Nekropole umgewandelt hätte.»
Mohammed sah geknickt aus. «Warum sagen Sie dann, dass wir dieses erste Grabmal gefunden haben könnten?»
«Weil wir es mit Archäologie zu tun haben», entgegnete Ibrahim grinsend. «Man kann sich nie sicher sein.» Aber da war noch etwas, obwohl er das mit niemandem teilen wollte. Seit frühester Kindheit, als er den Gutenachtgeschichten seines Vaters über den Gründer dieser wunderbaren Stadt gelauscht hatte, hatte er einen Traum: Eines Tages wollte er bei der Entdeckung von Alexanders Grabmal eine Rolle spielen. Und an diesem Morgen, als er wach im Bett gelegen hatte, hatte er wieder diesen Traum gehabt und war überzeugt gewesen, dass er nun wahr werden könnte. Denn trotz all seiner intellektuellen Zweifel war er sich tief im Inneren doch sicher, dass der Fund, den sie sich gleich anschauen würden, etwas mit dem Grabmal zu tun hatte.