II
Es tat Knox in der Seele weh, seinen Jeep auf dem Langzeitparkplatz stehen zu lassen. Seit er in Ägypten lebte, war er sein einziger ständiger Begleiter gewesen. Er hatte schon achthunderttausend Kilometer auf dem Tacho und zeigte noch keine Ermüdungserscheinungen. Wenn ein Wagen so gute Dienste tat, lernte man ihn schätzen. Er legte die Schlüssel und den Parkschein unter den Sitz. Mal sehen, vielleicht würde ja einer seiner Freunde in Kairo den Jeep haben wollen.
Der Flughafen war überfüllt. Es gab so viele Umbauarbeiten, dass alles auf die Hälfte des Raumes zusammengequetscht war. Knox zog seine Baseballkappe tief ins Gesicht, obwohl es unwahrscheinlich war, dass Hassans Leute schon hier waren. Er konnte zwischen mehreren Flügen wählen. Viele Maschinen kamen spät in der Nacht in Ägypten an und flogen gleich wieder zurück, um ihre Heimatflughäfen noch vor Tagesanbruch zu erreichen. Er ging an den Check-in-Schaltern vorbei. London? Vergiss es. Wenn man sein Leben versaut hatte, wollte man als Letztes durch den Erfolg alter Freunde daran erinnert werden. Athen kam auch nicht in Frage. Griechenland war für ihn Sperrgebiet, seit er nach der Familientragödie durchgedreht war. Stuttgart? Paris? Amsterdam? Allein der Gedanke an solche Orte deprimierte ihn. Dann fiel ihm eine dunkelhaarige Frau in der Schlange für den Flug nach Rom auf. Sie lächelte schüchtern. Warum nicht? Er ging an den Auskunftsschalter, um zu fragen, ob es noch Tickets gab. Der Mann vor ihm beschwerte sich, weil er einen Gepäckaufpreis für seinen Computer zahlen musste. Knox bekam schlechte Laune. ‹Kehren Sie in Ihre Heimat zurück›, hatte ihn der Offizier am Checkpoint gedrängt. Aber Ägypten war seine Heimat. Er lebte seit zehn Jahren hier. Er hatte das Land trotz der Hitze, des mangelnden Komforts, des Chaos und Lärms zu schätzen gelernt. Vor allem liebte er die Wüste, ihre verdorrten, klaren Linien, die absolute Einsamkeit, die kaleidoskopischen Sonnenuntergänge und die kühlen Nebel in den Dünentälern kurz vor Sonnenaufgang. Er liebte die harte Arbeit einer Ausgrabung, den Nervenkitzel einer möglichen Entdeckung, diesen herrlichen Kick, der einen jeden Morgen aufstehen ließ. Sollte er tatsächlich niemals mehr die Möglichkeit haben, etwas auszugraben?
Endlich zahlte der Mann vor ihm. Nervös trat Knox an den Schalter. Wenn er Probleme bekommen sollte, dann hier. Die Angestellte lächelte höflich. Als er nach freien Sitzen fragte, versicherte sie ihm, dass es noch eine Menge gäbe. Knox reichte ihr seinen Pass und eine Kreditkarte. Sie tippte etwas in ihren Computer und schaute auf. «Mi scusi un momento.» Sie nahm seinen Pass und die Karte und verschwand durch eine Tür. Knox beugte sich vor, um zu schauen, was auf dem Bildschirm stand. Es war nichts Beunruhigendes zu sehen. Er schaute sich in der Abfertigungshalle um. Alles schien normal. Die Angestellte kam zurück. Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen und behielt Pass und Kreditkarte in der Hand, ein wenig außerhalb seiner Reichweite. Wieder schaute er sich um. Durch die Türen an beiden Enden der Halle kamen fast gleichzeitig Sicherheitskräfte. Knox entriss der erschrockenen Angestellten Pass und Kreditkarte, drehte sich um, zog den Kopf ein und ging mit klopfendem Herzen davon. Bloß nicht auffallen! Schon rief links von ihm ein Sicherheitsbeamter. Knox gab die Verstellung auf und rannte zum Ausgang. Die Automatiktüren öffneten sich so langsam, dass er sich seitwärts drehen musste und dennoch dagegenprallte. Er zwängte sich hindurch und wirbelte herum. Eine Wache vor der Halle nahm so hastig das Gewehr von der Schulter, dass es krachend zu Boden fiel. Knox lief nach links, weg von den hellen Lichtern des Terminals in die Dunkelheit. Er schwang sich über ein Geländer, rannte eine steile Böschung auf eine schwach beleuchtete Bushaltestelle zu, stürzte durch eine Gruppe junger Reisender, die auf ihren Rucksäcken saßen, knallte gegen die Wand einer Unterführung und schürfte sich seine Hand auf. Zwei uniformierte Pförtner, die sich eine Zigarette teilten, schauten ihn erschrocken an, als er zwischen ihnen hindurchlief. Er spürte den Qualm ihres schwarzen Tabaks in der Kehle. Dann wandte sich Knox nach links, sprintete los und ignorierte die Rufe und die Sirenen. Auf der linken Seite waren Bäume, in deren Schutz er weitere zehn Minuten lief, bis er nicht mehr konnte. Er hielt an, beugte sich vornüber, die Hände auf die Knie gestützt, und rang nach Luft. Auf den Straßen patrouillierten Fahrzeuge, das Licht von Scheinwerfern glitt über die Bäume. Der Schweiß auf seinem Hemd kühlte ab, zitternd nahm Knox seinen eigenen Geruch war. Scheiße. Das war wirklich eine verfluchte Scheiße. Wenn die Polizei ihn zu fassen bekam, spielte es keine Rolle, ob man seiner Version glaubte oder nicht, dann hätte ihn Hassan bereits an den Eiern. Er überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben. Die Flug- und Seehäfen waren zweifellos alarmiert. An den Grenzstationen hatte man bestimmt sein Foto. In Kairo konnte man alle Dokumente der Welt fälschen lassen, aber Hassan hatte einen langen Arm. Er würde es schnell herausfinden, wenn Knox in Kairo wäre. Nein. Er musste so schnell wie möglich weg. Er könnte ein Taxi oder einen Bus anhalten, aber die Fahrer würden sich an ihn erinnern. Die Züge waren häufig voller Soldaten und Polizisten. Dann riskierte er es lieber, zurück zu seinem Jeep zu laufen.
Links von sich hörte er Geschrei und einen einzelnen Schuss. Knox zuckte zusammen und duckte sich. Es dauerte einen Moment, ehe ihm klar wurde, dass sie auf Schatten schossen. Er war wieder zu Atem gekommen und lief gebeugt davon, bis er den Maschendrahtzaun des Parkplatzes erreicht hatte, der zwar hoch war, aber keine Stacheln hatte. Neben einem Betonpfosten kletterte er hinauf und sprang auf der anderen Seite hinunter. Der Draht hatte seine Fingergelenke aufgescheuert. Geduckt lief Knox zwischen der Straßenbeleuchtung und den geparkten Autos hindurch. Der Parkplatz war menschenleer. Die abreisenden Passagiere befanden sich bereits im Terminal, die ankommenden waren längst weggefahren. Er fuhr zum Schalter und reichte einem schläfrigen Parkwärter Geld. Die Schranke erhob sich.
Als er auf die Hauptstraße fuhr, jagten zu seiner Linken Polizeiwagen mit Blaulichtern entlang. Er bog nach rechts ab Richtung Kairoer Zentrum. Die Lichter verblassten und verschwanden dann ganz aus seinem Rückspiegel. Auch auf der Gegenspur der Autobahn rasten Polizeiwagen vorbei. Knox bemerkte, dass er die Luft angehalten hatte. Wohin jetzt? In Kairo konnte er nicht bleiben. Doch er musste auch die Kontrollpunkte vermeiden. Also konnte er weder Richtung Sinai noch in die Libysche Wüste oder nach Süden. Blieb Alexandria. Die Stadt lag nur drei Stunden entfernt im Norden, und von allen ägyptischen Städten mochte Knox sie am liebsten. Außerdem hatte er dort Freunde und musste nicht in einem Hotel absteigen. Aber er war auf der Flucht und konnte nicht einfach jedem zur Last fallen. Er brauchte jemanden, der ihm vertraute, einen Menschen mit starken Nerven, der hin und wieder gerne die Gesetze übertrat, um sich lebendig zu fühlen. So gesehen gab es nur einen Kandidaten. Zum ersten Mal seit Stunden bekam Knox bessere Laune. Er trat das Gaspedal durch und raste nach Norden.