Julian Sanchez

Als er ins Esszimmer trat, wusste Julian sofort, dass auch dieser Raum unmöbliert sein musste. Erstens fehlte der Teppich und zweitens wurden seine Schritte auf dem Kalksteinboden anders von den Wänden zurückgeworfen, nicht so, wie sie in einem möblierten Raum geklungen hätten.

Die Stimmen, die er gerade noch gehört hatte, waren jetzt verstummt. Er blieb stehen und lauschte. Auf dieselbe Weise, wie er durch eine Art von psychischem Radar den exakten Standort der Möbelstücke um sich herum erkennen konnte, vermochte er auch in einem ziemlich zuverlässigen Maß die Anwesenheit anderer intuitiv wahrzunehmen. Sogar ein Mensch, der ruhig dastand, erzeugte verräterische Geräusche – er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, atmete flach, leckte sich die Lippen oder saugte einen Essensrest zwischen Zähnen heraus, Kleidungsstücke raschelten, eine Armbanduhr tickte –, aber bis auf die kleinen Geräusche, die er selbst hervorbrachte, klang das Zimmer menschenleer.

Julian war nicht von Geburt an blind gewesen. Er hatte sein Augenlicht im Alter von elf Jahren verloren, als Retinoblastome die operative Entfernung beider Augen erforderlich gemacht hatten. Demzufolge hatte er mehr als ein Jahrzehnt visueller Erinnerungen gespeichert, die es ihm erlaubten, aus den Anhaltspunkten, die ihm seine anderen vier Sinne lieferten, mentale Bilder und ganze Szenen zu konstruieren – einschließlich der Farben. Wenn er sich durch seine Wohnung bewegte, sah er vor seinem geistigen Auge jeden Raum in lebhaften Einzelheiten vor sich, obwohl er nichts davon jemals tatsächlich gesehen hatte.

Die unerklärliche Veränderung, zu der es kürzlich gekommen war, setzte ihn jedoch außerstande, seine neue Umgebung zu visualisieren. Die Wahrnehmung von Leere, der Schmutz und der Unrat, die Widerwärtigkeit von Schimmel und Moder und anderen unbestimmbaren schlechten Gerüchen veränderten diese Räume so grundlegend, dass er sich fast so unfähig fühlte, sie sich bildhaft vorzustellen, wie es ein Mensch gewesen wäre, der von Geburt an blind und ohne visuelle Erinnerungen war.

Als Julian argwöhnisch das Wohnzimmer betrat, erhoben sich die murmelnden Stimmen wieder. Sie redeten in einer Fremdsprache, die er nicht identifizieren konnte. Vorhin hatten sie eindringlich geklungen, als übermittelten sie eine Warnung. Die Eindringlichkeit war noch da, doch jetzt begannen sie, zänkisch zu klingen. Julian stellte sich ein Dutzend Personen vor, vielleicht auch noch mehr, und ihre Stimmen kamen von allen Seiten, als müsse er von einer Versammlung eingekreist sein, die eigens hergekommen war, um ihn zu studieren, ihn zu analysieren. Ein Urteil über ihn zu fällen.

»Wer ist da?«, fragte er. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

Als sich die Stimmen eng um ihn zusammenzudrängen schienen, ließen sie dennoch die Klarheit einer direkten Anrede vermissen, und er konnte sich ebenso gut vorstellen, dass diese Lautäußerungen aus anderen Räumen zu ihm getragen wurden, durch eine dazwischenliegende Wand oder Tür.

Julian bewegte sich dahin, wo seiner Meinung nach die Mitte des Zimmers sein sollte, fand keine Möbel, die im Weg waren, und sagte lauter als zuvor: »Wo sind Sie? Was wollen Sie?«

In den ersten ein oder zwei Jahren der Blindheit hatte er sich angreifbar gefühlt und sich ungebührliche Sorgen über zu viele Dinge gemacht, die ihm aufgrund seiner Behinderung zustoßen könnten. Aber man durfte nicht sein ganzes Leben damit verbringen, in jedem einzelnen Moment einen katastrophalen Sturz oder einen Angriff zu erwarten; Furcht erschöpft sich zudem rasch. Nachdem er vierzig Jahre lang erfolgreich ohne Sehkraft gelebt hatte, fühlte er sich zwar nicht unverwundbar, aber sicher genug, und mit der Zeit war er zu der Überzeugung gelangt, das Schlimmste, was ihm jemals zustoßen könnte, sei bereits passiert, als er elf Jahre alt war.

Plötzlich prickelte seine Kopfhaut und sein Nacken wurde kalt, während sich die Furcht als so leicht abrufbar wie eh und je erwies. Der zänkische Klang der Stimmen verfinsterte sich zu bedrohlichen Tönen, und wieder hatte er das Gefühl, sie seien schockierend nah, die Sprecher schienen ihm nah genug zu sein, um ihn zu berühren. Als er die Hände ausstreckte, stellte er fest, dass er die Mitte des Zimmers verlassen haben musste, ohne es zu merken, denn er berührte eine Wand.

Der Verputz vibrierte ihm Takt mit den Klangwellen der gesprochenen Worte des zornigen Chors, als kämen die Stimmen aus dem Inneren der Wand heraus.

* * *

Nachthaus
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