Sparkle Sykes

Iris und Winny hatten die Wohnung der Cupp-Schwestern nicht durch die vordere Tür verlassen. Wenn sie diesen Weg genommen hätten, wären sie zwischen Sparkle und Twyla durchgelaufen und an Martha und Edna vorbeigekommen. Sie hätten sie gesehen.

Twyla lief durch das ehemalige Esszimmer, durch einen kurzen Flur in eine Küche mit Einbauschränken, die von Termiten zerfressen und mit zerbrochenen Granitplatten bedeckt waren. Twyla sah in der Speisekammer nach, Sparkle in der Besenkammer.

Seit Jahren hatte sie furchtlos gelebt und nur vor Blitzen Angst gehabt, und jetzt hatte sie auch noch diese letzte Furcht abgelegt. Sie hatte Iris geboren, denn sie nicht auszutragen hätte bedeutet, vor ihren eigenen Ängsten zu kapitulieren. Zu dem Zeitpunkt, als sie die Beeinträchtigung entdeckt hatte, unter der Iris litt, hatte sie bereits ihren ersten Bestseller geschrieben, der nicht nur ein Erfolg, sondern ein Phänomen gewesen war, und sie war gut genug bei Kasse, um ihre Tochter der ausgezeichneten Pflege anderer zu überlassen. Das wäre ein Akt der Furcht gewesen, mangelndes Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, sich der Lage gewachsen zu zeigen. Und genauso wenig würde sie jetzt der Furcht nachgeben, Iris zu verlieren, denn sie würde sie nicht verlieren. Hier in der Zukunft wütete draußen vor den Fenstern kein Gewitter und es bestand keine Gefahr, dass sie wie ihre Eltern verbrutzelte. Und selbst wenn ein wie auch immer gearteter metaphorischer Blitz in diesem Moment bereits aus dem Köcher des Schicksals auf den Weg gebracht worden war, dann würde es, verdammt noch mal, ein guter Blitz sein, so wie Iris, wie der Lotteriegewinn oder wie der Erfolg ihres ersten Buches. Und wenn er nicht gut war, wenn er sie hart traf, dann würde sie den Schlag hinnehmen und etwas Gutes daraus machen, sie würde den Blitz nehmen und ihn verbiegen, ihm eine neue Form geben. Sie war Sparkle Sykes, dieser magische Name, sie war Sparkle Sykes, viele flinke Bäche, die stets voranströmten, klar und lieblich und funkelnd, und sie besaßen die Macht zu blenden und zu betören, und nichts, aber auch rein gar nichts würde sie jemals unterkriegen, verdammt noch mal.

Sparkle mit der Taschenlampe und Twyla mit der Pistole, das war ein gutes Gefühl, da stimmte alles, als hätten sie einander schon immer gekannt und vertraut: durch die Waschküche, durch die offene Hintertür hinaus auf den Hausflur, dahin, wo der Flur um die Ecke bog, zur Treppe, wo sie keine Schritte hörten, und zurück zur offenen Tür von Gary Dais Wohnung. Ihr Einsatz für dieses Vorhaben war grenzenlos und sie wusste, dass Twylas Einsatz gleichermaßen grenzenlos war, und sie gingen vor, als stünden sie in telepathischem Austausch, keine Notwendigkeit, einander zu sagen, was sie tun würden, Sparkle nie in Twylas Schusslinie und Twyla nie dem Strahl der Taschenlampe im Weg.

Plötzlich ertönte irgendwo in Dais Wohnung Gesang. Von einem Mädchen. Das musste Iris sein. Aber Sparkle konnte sie nicht mit Sicherheit identifizieren, weil sie ihre Tochter nie singen gehört hatte.

Gary Dais Wohnung war im selben Zustand wie alles andere in diesem Pendleton: entkernte Räume, das bloße Gerüst von Wänden und Böden und Decken, sämtliche Fenster mit einer dünnen Staubschicht überzogen, aber nach so langer Zeit war es bemerkenswert, dass keine der Scheiben zerbrochen war. Es kam ihr vor wie das ausgehöhlte Gerippe eines Riesen, kein Fleisch mehr auf den Knochen, aber seine Brille ist noch heil. Dichte Klumpen phosphoreszierender Pilze sprossen aus den Knochen und ihr Licht war so täuschend wie enthüllend und drapierte Schatten dort, wo kein Ursprung für Schatten zu sein schien.

Diese Räume mussten wie alle anderen, die sie seit dem Sprung gesehen hatte, so einladend auf Ratten wirken wie jedes verfallene Wohnhaus oder jede verwahrloste Lagerhalle, doch sie hatte bisher kein einziges Nagetier gesehen. Ebenso wenig hatte sie irgendwelche Insekten gesehen, mit Ausnahme der ausgetrockneten Panzer etlicher Käfer, die schon lange tot sein mussten.

Vor den Fenstern des zentralen Wohnraums tauchte etwas herab, das Ähnlichkeit und doch keine Ähnlichkeit mit einem Stachelrochen hatte, so riesig, als gehöre es in die Ära der Dinosaurier und sei irrtümlich aus einem Meer der Kreidezeit hierhergeraten. Es war viel zu groß, um sich in der Luft halten zu können, es sei denn, sein seltsames Fleisch war überall durchlöchert und voller Beutel, die ein Treibgas enthielten. Bei seinem grandiosen Luftballett wies das Geschöpf etwas von der beunruhigenden Anmut der endlosen Niederung mit dem bleichen, phosphoreszierenden Gras auf, das sich so rhythmisch wiegte, wie es ihm keine Brise jemals hätte vorschreiben können. Das Ganze wirkte beunruhigend, weil es unnatürlich war, geschmeidig und wendig, aber auf eine Weise, die Sparkle an gefährliche Giftschlangen denken ließ.

Obwohl die Darbietung des fliegenden Rochens faszinierend war, blieben sie und Twyla nicht stehen, um zuzusehen, sondern bewegten sich weiter voran, von dem Gesang des Mädchens angelockt. Sie erreichten die Innentreppe der Wohnung und hörten den Gesang von unten aufsteigen.

Am oberen Treppenabsatz blieb Twyla abrupt stehen. »Fühlst du das?«

»Ob ich was fühle?«

»Das Flüstern unter der Melodie.«

Sparkle legte ihren Kopf zur Seite, denn sie war sich nicht sicher, was Twyla meinte. »Ich höre nur den Gesang.«

»Nicht hören. Fühlen. Ich fühle es unter der Melodie.«

Sparkle nahm an, das müsse der Jargon von Songwritern sein – das Flüstern unter der Melodie fühlen – und sage jemandem, der nicht zu diesem Verein gehörte, null. Doch dann fühlte sie das Flüstern auch und ihr lief ein Schauer über den Rücken, der sich so anfühlte wie die eisigen Finger eines Leichnams, die ihre Wirbelsäule nachfuhren. Es war wie nichts, was sie jemals zuvor erlebt hatte. Es war ein Flüstern, aber nicht eines, das das Ohr suchte, sondern eher ein Ausatmen, das in ihrem Kopf erklang, mit Worten, die ihr unbekannt waren. Es waren eindeutig Wörter, aber weniger wie Klänge, eher wie ein leiser Atem, der neckisch durch ihr Gehirn strich und in diesen äußerst intimen Furchen bebte, als hätten ihre Hirnkammern Vibrissen, wie die Schnurrhaare einer Katze, die so hochempfindlich für die Gedanken anderer waren wie die Ohren für Töne. Aber wessen Gedanken konnten das sein?

Um sich zu versichern, dass sie nicht allein dort stand, legte Sparkle Twyla eine Hand auf die Schulter, ohne bewusst wahrzunehmen, dass sie es tat, bis es bereits geschehen war. »Mein Gott, ich fühle es. Das Flüstern.«

»Synkopen zur Melodie«, sagte Twyla.

»In meinem Kopf. Was ist das in meinem Kopf?«

In dem eigentümlichen Licht des Pilzbewuchses und im Widerschein der Taschenlampe hatten Twylas Augen den Glanz von Katzenaugen, während sie sich nach links, nach rechts, nach oben und nach unten bewegten, als versuchten sie, die geflüsterten Gedanken zu dem unsichtbaren Denker zurückzuverfolgen. Schließlich sagte sie: »Es ist das Haus.«

»Was? Was ist das Haus?«

»Das Haus spricht mit uns. Aber es spricht nicht nur. Es will etwas … es will uns dazu bringen, Dinge zu tun.«

Nachthaus
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