Julian Sanchez

Im Lauf der letzten vierzig Jahre hatte er seinen Frieden mit der Blindheit geschlossen und die Dunkelheit war sein Freund geworden. Ohne visuelle Stimuli, die ihn ablenkten, war gute Musik eine grandiose Klangarchitektur, durch die er spazierte. Audiobücher waren Welten, in denen er so vollständig aufging, als könne er dort seine Fußspuren hinterlassen. Und wenn er über sich selbst, das Leben und das, was danach kommen mochte, nachdachte, reiste er tiefer in diese Dunkelheiten hinein, als es die meisten sehenden Menschen getan hätten, und entdeckte dort ein unsichtbares Licht, die Lampe, die ihn festen Schrittes und ohne zu zaudern seinen Weg durch die Jahre finden ließ.

Als er jetzt mit dem Ohr am Verputz dastand und den bedrohlichen Stimmen lauschte, die aus den Wänden drangen, verließ sich Julian auf diese Lampe im Inneren, die verhindern würde, dass sich sein leises Grauen zu ausgewachsener Panik steigerte. Unwissenheit erzeugte grässliche Ängste, wogegen Wissen Frieden hervorrief, und daher musste er Nachbarn ausfindig machen, die ihm erklären konnten, was passierte.

Er tastete sich an der Wand entlang in die Diele und zur Wohnungstür, die angelehnt war, obwohl er sie abgeschlossen hatte. Wenn Möbelstücke im Nu verschwinden konnten und wenn eine saubere Umgebung von einem Moment zum anderen verschmutzte, dann war es müßig, sich Sorgen darüber zu machen, wie Schlösser sich selbsttätig öffnen konnten.

Bisher hatte er immer, wenn er seine Wohnung verließ, den weißen Stock mitgenommen, weil er nicht die ganze Welt so gut wie seine eigenen Räumlichkeiten kannte. Aber der Stock lehnte nicht mehr an dem Tisch in der Diele und er sah keinen Grund dafür, ihn auf dem Boden zu suchen, denn der Tisch war ebenfalls verschwunden. Der Stock war folglich nicht umgefallen oder verlegt worden, sondern gemeinsam mit allem anderen verschwunden.

Die Stimmen in den Wänden verstummten, als Julian die Schwelle in den Hausflur überquerte. Auch der Hausflur wirkte anders auf ihn, hohl und abweisend. Er vermutete, dass die Konsolentische, die Gemälde und die Teppichläufer fort waren. Konkurrierende Gerüche legten sich umeinander: ein schwacher beißender Geruch, den er nicht identifizieren konnte, eine leichte Ranzigkeit, die von Bratöl herrühren könnte, das der Luft lange genug ausgesetzt gewesen war, um sich zu einer dünnen Paste zu verfestigen, etwas wie die spröden Seiten von Büchern, die mit der Zeit vergilbt waren, Staub, Schimmel …

Einen Moment lang hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Aber dann war er sich in dem Punkt nicht mehr sicher und der Hausflur erschien ihm verlassen. In dieser seltsam neuen Umgebung waren seine Instinkte nicht so zuverlässig wie sonst.

Seine ursprüngliche Absicht bestand darin, sich nach rechts zu wenden und zum hinteren Ende des nördlichen Hausflurs zu gehen, zu Apartment 1-C, wo seine Freundin Sally Hollander um diese Tageszeit zu Hause sein sollte. Die Wohnung zwischen seiner und ihrer hatte keinen Mieter; der Besitzer war vor ein paar Monaten gestorben, der Nachlass noch nicht abgewickelt.

Aber dann hörte er leise Stimmen, die Englisch sprachen, nicht wie dieses unheimliche Murmeln, das er vorhin gehört hatte, und sie schienen aus dem westlichen Flur zu kommen, gleich um die Ecke. Als er sich zur Abzweigung vortastete, bekam die Tapete unter seiner gleitenden Hand Sprünge und zerbröselte, als sei sie uralt. Er fand die offene Tür zu dem kleinen Büro, das vom Chefconcierge benutzt wurde, und tastete sich vorsichtig weiter voran.

Im Erdgeschoss waren die Decken der gemeinschaftlich genutzten Räume dreieinhalb Meter hoch, auch in den Fluren. Als er die Ecke erreichte, glaubte er über seinem Kopf einen verstohlenen Laut wahrzunehmen. Er blieb stehen und lauschte, hörte aber nichts mehr von dort oben. Einbildung.

Unter den nahen Stimmen erkannte Julian den melodischen Tonfall von Padmini Bahrati. Erleichtert, weil er Hilfe gefunden hatte, bog er um die Ecke in den westlichen Flur ein.

»Padmini, hier stimmt etwas ganz und gar nicht«, sagte Julian, und während er sprach, rieselten Bröckchen, die vom Verputz der Decke stammen konnten, auf seinen Kopf und seine Schultern.

* * *

Nachthaus
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