15 Apartment 2-A
Winny mochte beim Lesen keine Musik, denn Musik erinnerte ihn an seinen Dad und sein Dad hielt nichts davon, viel zu lesen. Sein Dad wollte, dass er seine Bücher weglegte und mannhafte Dinge tat, zum Beispiel, dass er sich den Ringern in der Schule anschloss. Natürlich gab es in der vierten Klasse kein Ringerteam. Jedenfalls nicht an der Grace-Lyman-Schule. Obwohl Mrs. Grace Lyman, nach dem gigantischen Porträt der Verstorbenen in der Eingangshalle der Schule zu urteilen, durchaus zuzutrauen gewesen wäre, dass sie sich an die Spitze der Landesmeisterschaft hochgerungen hätte. Winnys Dad wollte, dass er total wild auf Football, Taekwondo und Kickboxen war und außerdem männliche Musikinstrumente wie Gitarre oder Klavier lernte, aber um Gottes willen keine Flöte oder Klarinette. Winny wusste nicht, warum sein Dad der Meinung war, manche Instrumente seien männlich und andere nur etwas für Schwächlinge. Er wusste nur, dass, wenn er beim Lesen Musik auflegte, und zwar ganz gleich welche, er so intensiv an seinen Vater denken müsste, dass er sich nicht mehr auf das Buch konzentrieren könnte.
Er schaltete beim Lesen auch nie den Fernseher ein, aber gestern, am Mittwoch, hatte sich das Gerät in seinem Zimmer zweimal selbst auf Kanal 106 eingeschaltet, was im regionalen Kabelfernsehen ein toter Kanal war. Anstelle von elektronischem Schnee hatten sich Ringe aus blauem Licht von der Bildschirmmitte aus pulsierend zu den Rändern hin ausgebreitet.
Als es das erste Mal passiert war, dachte Winny, der so etwas noch nie gesehen hatte, der Fernseher müsse verrücktspielen. Als er versucht hatte, ihn auszuschalten, funktionierte die Fernbedienung nicht. Da die blauen Lichtimpulse nicht von Geräuschen begleitet wurden, beschloss er weiterzulesen und zu sehen, ob sich das Gerät vielleicht von selbst wieder ausschalten würde.
Nach zehn Minuten hatte er das Gefühl gehabt, der Fernseher könne ihn beobachten. Nun ja, vielleicht nicht der Fernseher, sondern jemand, der den Fernseher irgendwie dafür benutzte, Leuten nachzuspionieren. Das klang total durchgeknallt. Genau das waren die Dinge, die dazu führen konnten, dass er auf der Couch eines Beklopptendoktors, in einer Vormundschaftsschlacht und in einem neuen Zuhause in Nashville bei seinem mannhaften musikalischen Dad landete.
Also hatte er kurzerhand den Stecker gezogen, und der Bildschirm war schwarz geworden.
Später am Mittwoch, als er in sein Zimmer zurückgekommen war, war das Fernsehgerät wieder eingesteckt gewesen. Mrs. Dorfman, die Haushälterin, musste den Stecker in die Steckdose gesteckt haben. Sie war eigentlich ganz nett, aber sie konnte nichts so lassen, wie es war. Wenn sie sauber machte, waren Dinge hinterher nicht mehr da, wo sie vorher gewesen waren, wie Winnys Spielfiguren aus Dragonworld, die sie so aufstellte, wie es ihr gefiel. Sie war ganztags angestellt, aber sie wohnte nicht bei ihnen. Wenn sie hier gewohnt hätte, wären inzwischen sämtliche Teppiche von ihrem endlosen Staubsaugen fadenscheinig.
Jedenfalls war der Fernseher gestern Abend – also am Mittwoch – wieder eingesteckt gewesen. Nicht lange, nachdem sich Winny hingesetzt hatte, um zu lesen, hatte das Gerät sich eingeschaltet. Wie beim ersten Mal hatten sich Ringe aus Licht pulsierend von der Bildschirmmitte ausgebreitet. Sie erinnerten ihn an das Licht auf Sonaren in alten U-Boot-Filmen, nur dass sie blau und nicht grün waren.
Wieder hatte er sich beobachtet gefühlt.
Dann hatte eine tiefe Stimme aus den pulsierenden Lichtringen ein einziges Wort gesagt: »Junge.«
Vielleicht war ein Wort aus einer Sendung auf einem belegten Kanal in der Nähe in den unbelegten Kanal gesickert. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass Winny ein Junge war und dass der Fernseher, der ihn zu beobachten schien, »Junge« und nicht »Banane« oder sonst etwas gesagt hatte.
»Junge«, sagte die Stimme noch einmal, und Winny zog den Stecker.
In der Nacht hatte er Schwierigkeiten damit gehabt, tief zu schlafen. Er war immer wieder aufgewacht und hatte erwartet, dass auf dem Fernsehbildschirm blaues Licht pulsierte, obwohl der Stecker rausgezogen war.
Natürlich hatte Mrs. Dorfman an diesem düsteren Donnerstag, während Winny in Mrs. Grace Lymans Schule für Ringer war, das Gerät wieder eingesteckt, als sie sein Zimmer für den Tag sterilisiert hatte. Er spielte mit dem Gedanken, den Stecker zu ziehen, ehe etwas passieren konnte. Aber ein Teil von ihm wollte wissen, was das alles zu bedeuten hatte. Es war sonderbar, auf eine interessante Art sonderbar, nicht auf die beängstigende Art, von der man einen Schlaganfall bekommen oder sich in die Hose pinkeln könnte, sondern einfach unheimlich.
Und vielleicht eine halbe Stunde, nachdem seine Mom »Ich hab’ dich lieb, mein kleiner Mann« gesagt und sein Zimmer verlassen hatte, war es dann passiert, während heftige Böen den Regen an das Fenster prasseln ließen. Aus dem Augenwinkel sah Winny, wie sich der Bildschirm mit pulsierenden Ringen aus blauem Licht füllte. Er blickte von seinem Buch auf und die Stimme sagte wieder: »Junge.«
Winny wusste schon bei den meisten Menschen nie, was er sagen sollte, wenn sie versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er fand es noch schwieriger dahinterzukommen, was er einem Fernsehgerät antworten sollte, das ihn zu beobachten und begrüßen zu schien – oder was auch immer es mit diesem einen Wort sagen wollte.
»Junge«, wiederholte der Fernseher.
Einem Fernseher zu antworten kam ihm leicht übergeschnappt vor, als spräche man mit einem Möbelstück. Winny legte sein Buch zur Seite und sagte: »Wer bist du?« Die Frage klang zwar ziemlich doof, aber ihm fiel keine klügere ein.
Die Stimme war tief, aber doch irgendwie ausdruckslos, wie jemand, der auf einer Lautsprecheranlage eine langweilige Ankündigung vorliest: »Junge. Oberirdisch. Erster Stock. Westflügel.«
Der Fernseher schien Winny mitzuteilen, wo im Pendleton er sich aufhielt. Er wusste aber bereits, wo er war. Man brauchte es ihm nicht zu sagen. Falls ihn tatsächlich ein Typ durch den Fernseher beobachtete, dann schien er sich noch schlechter unterhalten zu können als Winny.
Aber natürlich konnte es niemanden geben, der ihn beobachtete. Fernsehen funktionierte nur in eine Richtung. Ein Fernsehgerät empfing Signale. Es sendete sie nicht aus. Hier ging etwas anderes vor, ein kleines Rätsel, das sich lösen lassen würde, wenn er lange genug darüber nachdachte. Er war nicht hypergescheit, aber er war auch nicht dumm, nicht halb so dumm wie die Jungen in einigen der Bücher, die er las.
»Junge. Schwarzes Haar. Blaue Augen.«
Winny sprang aus dem Sessel auf.
»Oberirdisch. Erster Stock. Westflügel.«
Schwarzes Haar, blaue Augen: Irgendwo konnte ihn irgendwer durch dieses Fernsehgerät sehen. Daran bestand kein Zweifel. Das kleine Rätsel war plötzlich ein großes geworden.
Winny gefiel nicht, wie seine Stimme zitterte, als er sagte: »Was willst du?«
»Junge. Schwarzes Haar. Blaue Augen. Oberirdisch. Erster Stock. Westflügel. Eliminieren. Eliminieren.«
Da er eher klein für sein Alter und dürr war und immer noch darauf wartete, einen Bizeps zu bekommen, rechnete Winny sich aus, wenn er jemals etwas tat, was auch nur im Entferntesten feige war, würde man ihn sicher für einen Waschlappen halten, der keinen Mumm hatte. Und wenn die Leute einen erst mal für einen Waschlappen hielten, würden sie niemals umdenken, es sei denn, man rettete hundert kleine Kinder aus einem brennenden Waisenhaus oder entwaffnete einen Terroristen und schlug ihn zusammen, bis er heulend nach seiner Mommy rief. Aber selbst dann konnte man nicht sicher sein, dass sie ihre vorgefasste Meinung änderten. Winny würde frühestens in zehn Jahren groß genug sein, um jemanden zusammenzuschlagen, falls er überhaupt jemals groß genug würde. Er kannte auch kein Waisenhaus, und selbst wenn er gewusst hätte, wo das nächste stand, hätte er sich für den Rest seines Lebens in der Nähe herumtreiben und auf ein Feuer warten können, das niemals ausbrach, es sei denn, er legte es selbst. Daher versuchte er, wenigstens nie etwas Verweichlichtes zu tun oder zu sagen. Wenn er einen Gruselfilm sah, zeigte er nie seine Angst. Wenn er sich aus Versehen schnitt, weinte er nicht, und er erweckte auch nicht den Anschein, dass ihn der Anblick von Blut alarmierte. Ihm grauste vor Insekten, all diese Beine und Fühler, und daher zwang er sich, Käfer und Dinge, die eklig waren, aber nicht stachen, aufzuheben, um sie auf seiner Handfläche genauer zu betrachten.
Als der Fernseher »Eliminieren« sagte, hätten viele Jungen in der vierten Klasse der Grace-Lyman-Schule einen Schrecken bekommen, und mindestens ein paar von ihnen wären in heller Panik fortgelaufen, um sich zu verstecken. Winny dagegen blieb ruhig und ging – nein, er rannte wirklich nicht – in die Küche, wo die warme Luft nach Zimt roch. Seine Mom betrachtete etwas durch das Sichtfenster in der oberen Ofentür.
Winny sagte: »Du solltest dir besser mal ansehen, was auf meinem Fernseher läuft.«
»Was ist es denn?«
»Ich kann es nicht erklären. Du musst es dir selbst ansehen.«
Sie deutete auf einen Flip-down-Fernseher unter einem Hängeschrank neben dem Kühlschrank und sagte: »Zeig es mir auf dem hier, mein Süßer.«
»Ich glaube, das läuft nur auf meinem Fernseher. Meiner hat sich von allein eingeschaltet. Der hier nicht. Du solltest besser mitkommen und es dir ansehen.«
Winny verschwand eilig aus der Küche – aber er rannte nicht, damit es nicht etwa aussah, als fürchte er sich – und hörte seine Mutter dicht hinter sich. Er nahm an, wenn er in sein Zimmer zurückkehrte, würde sich der Fernseher ausgeschaltet haben. Er würde keinen Beweis haben, und sie würde ihm nicht glauben – bis vielleicht irgendein Killertrupp auftauchte, muskulöse tätowierte Schlägertypen in schwarzen Uniformen und bis an die Zähne bewaffnet. Zu seinem Erstaunen pulsierten die Ringe aus blauem Licht immer noch auf dem Bildschirm.
»Eine Art Testbild«, sagte seine Mutter.
»Nein. Das ist 106, ein unbelegter Kanal. Und er spricht.«
Ehe Winny dazu kam, weitere Erklärungen abzugeben, sprach wieder die tiefe, ausdruckslose Stimme: »Erwachsene weibliche Person und Junge. Oberirdisch. Erster Stock. Westflügel. Eliminieren. Eliminieren.«
Seine Mutter sagte stirnrunzelnd: »Was ist der Witz daran?«
»Das ist nicht mein Witz«, beteuerte Winny.
»Erwachsene weibliche Person. Schwarzes Haar. Dunkelbraune Augen. Einsfünfundsechzig.«
Sie nahm die Fernbedienung vom Tisch neben dem Sessel, aber sie funktionierte nicht. Sie konnte den Fernseher nicht abstellen und auch nicht auf einen anderen Kanal schalten.
»Eliminieren. Eliminieren.«
Seine Mom ging auf den Fernseher zu und sagte: »Ist das eine DVD?«
»Nein. Es ist … ich weiß es selbst nicht, etwas anderes.«
Sie überprüfte trotzdem den DVD-Player.
Winny sagte: »Das passiert nicht zum ersten Mal, aber bisher hat er außer ›Junge‹ nie etwas gesagt.«
»Wann ist es zum ersten Mal passiert?«
»Gestern. Zweimal.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Es gab nichts zu sagen. Er hat einfach nur ›Junge‹ gesagt.«
»Hier hat jemand einen abartigen Humor.«
»Aber wie kann er uns sehen?«, fragte Winny.
»Er kann uns nicht sehen.«
»Wieso weiß er dann, wie wir aussehen?«
»Das heißt ja nicht, dass der Mistkerl uns sehen kann. Es heißt nur, dass er weiß, wer wir sind. Er weiß, wer in dieser Wohnung wohnt. Das ist eine Sicherheitslücke. Wir werden der Sache sofort nachgehen. Das sollte sich schnell klären lassen. Ich verständige den diensthabenden Wachmann.«
Sie zog den Stecker aus der Steckdose und der Bildschirm des Fernsehers wurde schwarz.
Sowie der Fernseher ausgeschaltet war, fühlte Winny sich besser, und die Zuversicht seiner Mom gab ihm ein größeres Gefühl von Sicherheit, das allerdings nicht lange anhielt.
Als sie von dem Fernseher zurücktrat, veränderte sich die Wand. Dort standen niedrige Schränke mit Bücherregalen darüber, doch dann kräuselte sich die Wand. Die Verwandlung begann dicht unter der Decke und floss nach unten wie Wasser, das etwas fortspült und dafür etwas anderes zurücklässt, als seien die Schränke und die Bücherregale und alles, was auf den Regalbrettern stand, nie wirklich vorhanden gewesen, sondern nur ein sehr realistisches Gemälde, das sich jetzt auflöste. Über den kleinen Wellen, die sich nach unten fortsetzten, hatte die neue Wand keine Schränke oder Regale, und sie sah auch nicht neu aus, sondern fleckig und schmierig, der Verputz bröckelte ab, und dunkler Schimmel breitete seine schwarzen Tentakel ungleichmäßig aus.
Seine Mom stieß einen erschrockenen Laut aus und hob eine Hand, als wollte sie der Veränderung Einhalt gebieten, doch die Wellen rasten an der Wand hinunter, zogen bebend über den Boden, nahmen poliertes Mahagoni mit und ließen zerschrammte, schmutzige Bodendielen zurück, nagten dann an dem großen Teppich, bis nichts mehr von ihm übrig war, und all das geschah so schnell, dass weder Winny noch seine Mutter Zeit für den Gedanken hatten, vielleicht würden auch sie verschwinden, jedenfalls nicht, bevor die seltsame Flut plätschernd auf ihre Füße zukam.
Seine Mom sprang zurück und packte Winny am Arm, um ihn mitzuziehen, doch die Wellen brachen sich wie eine Brandung, fiederten sich um ihre Schuhe herum auf und zersetzten den Teppich unter ihnen, ließen die beiden jedoch unberührt. Und genauso wie eine Welle, die sich an der Küste bricht, zogen sich die Wellen zurück und hinterließen alles so, wie es sein sollte – den Teppich intakt, den Mahagoniboden frisch poliert. Die Wellen zogen sich an der Wand nach oben zurück und machten die Verwandlung rückgängig, die sie selbst bewirkt hatten, stellten die Unterschränke, die Bücherregale, die Bücher und den Fernseher wieder her, als hätte ein Zauberer eine Verwandlung bewirkt, diese augenblicklich bereut und mit einem Gegenzauber widerrufen, um seinen groben Unfug ungeschehen zu machen.
Die Wellen zogen sich am Übergang von der Wand zur Decke zurück. Sie kamen nicht gleich wieder hervor. Vielleicht würden sie nie mehr auftauchen. Vielleicht war es vorbei, was auch immer es gewesen sein mochte.
Winnys Herz galoppierte, als rase er auf eine Ziellinie zu. Er bekam keine Luft. Etwas schien sich in seiner Kehle eingekeilt zu haben. Einen Moment lang glaubte er, er hätte vielleicht vor Schreck seine Zunge verschluckt, denn er hatte gelesen, dass manche Menschen das taten, wenn sie einen Anfall hatten. Dieser Gedanke ließ ihn würgen, doch das, was ihn zu ersticken drohte, war nur die Vorstellung und nicht seine Zunge, von der sich herausstellte, dass sie dort war, wo sie hingehörte – in seinem Mund.
Seine Mom hatte ihn immer noch am Arm gepackt und hielt ihn sehr fest, als befürchte sie, er würde davonschwimmen und ertrinken oder so. Im ersten Moment sagte sie kein Wort und Winny auch nicht, denn es war sinnlos, dummes Zeug zu quasseln. Sie wussten, was sie gesehen hatten, und keiner von beiden konnte es erklären, weil es total durchgeknallt war, ein Ding der Unmöglichkeit, das ihren Verstand restlos ausfüllte und keinen Raum für andere Gedanken ließ. Aber dann fielen Winny die blauen Ringe aus Licht und die tiefe Stimme wieder ein – »Eliminieren. Eliminieren«. Seine Mutter musste sich ebenfalls daran erinnert haben, denn sie sagte: »Komm, lass uns gehen«, und zog ihn zur Tür.
»Wohin gehen wir denn?«, fragte er.
»Ich weiß nicht – irgendwohin, egal wohin, Hauptsache, weg von hier, raus aus dem Pendleton.«