Zeuge
Er stand in einem Raum, der früher einmal die Bibliothek oder das Arbeitszimmer gewesen sein mochte, auf einer Seite der offenen Tür zum Wohnzimmer, und lauschte den Frauen, die einander Mut zusprachen.
Durch das Kommunikationssystem in seinem rechten Ohr hörte er den Alarm und den Aufruf zur Eliminierung jedes Mal, wenn er ertönte. In einer Zeit, die weit zurücklag, war Zeuge einer derer gewesen, die die erforderlichen Morde begangen hatten. Die wenigen abgehärteten Seelen, die erst das Pogrom und anschließend das Schwinden überlebt hatten, neigten dazu, im Pendleton Schutz zu suchen, wenn sie darauf stießen, denn nur dieses eine Gebäude schien ihnen in einer veränderten Welt eine erkennbare Zuflucht zu bieten. Aber diese letzten Mauern waren für jene Menschen die Wände einer Falle. Zeuge hinterließ stets einen guten ersten Eindruck bei den zerlumpten und erschöpften Überlebenden, weil er aussah wie sie, nicht wie ein Pogromit. Einst waren es Millionen gewesen, doch inzwischen war die Zahl der Pogromiten auf einige Wenige geschrumpft, denn sie hatten lange und gründlich massakriert und daher reichte die Arbeit nicht mehr aus, um ihre Existenz in großen Scharen zu rechtfertigen. Er hieß die Menschen willkommen, die dem Pogrom entgingen, lud sie in seine angebliche Festung ein, und sobald sie ihm vertrauten, tötete er sie skrupellos.
Seit vielen Jahren hatten keine Überlebenden bei ihm vorbeigeschaut und er hatte das Töten eingestellt. Lange hatte seine einzige Aufgabe darin bestanden, als Zeuge aufzutreten, der einzige Träger der Weltgeschichte vor dem Pogrom und Kurator dieses altehrwürdigen Gebäudes.
In Anbetracht seiner Abgeschiedenheit und der grässlichen, unbarmherzigen Last seines Wissens, seiner Kenntnis, wie die Welt einst gewesen war, und seiner täglichen Erfahrung mit dem, was aus ihr geworden war, hätte man vielleicht damit rechnen können, dass er sich verändern würde. Mit der Zeit hatte ihn ein Gefühl von schmerzlichem Verlust übermannt. Etwas Ähnliches wie Reue stieg in ihm auf. Und sogar Mitleid.
Vor einhundertsechzehn Tagen war er aus dem melancholischen Alltagstrott seines isolierten Daseins aufgestört worden. Die ersten Fluktuationen begannen, diese unerklärlichen Rückblenden zum Pendleton, wie es früher einmal gewesen war, im Jahre 1897, als es hoch oben auf diesem Hügel, aber in einer kleineren Ausgabe der Stadt gestanden hatte, die mit der Zeit gewachsen war. Die Fluktuationen dauerten zwei Tage, und für flimmernde Momente nahmen die Gegenwart und dieser ganz bestimmte Augenblick in der Vergangenheit kurzfristig denselben Punkt im Zeitkontinuum ein. Dann kam es zu den Übergängen, die Andrew North Pendleton, seine Frau und ihre beiden Kinder in diese unbarmherzige Zukunft schleuderten, in der zu den unaufhörlich mutierenden Bewohnern keine Gattung zählte, die nicht tötete, in eine Welt der endlosen gewalttätigen Jagd.
Zeuge hatte die Kinder und die Frau nicht abgeschlachtet. Der einzige übrig gebliebene Pogromit in dieser Gegend, vielleicht sogar der Einzige auf der ganzen Welt, hatte die kleine Sophia angegriffen. Er hatte ihr den ersten lähmenden Biss und die Injektion verabreicht, mit der die Zerstörung der Familie begann. Weitere Drohungen hatten dafür gesorgt, dass nur der Vater in das Jahr 1897 zurückgetragen worden war, als sich der Übergang umkehrte, denn nur er blieb am Leben.
Zeuge wusste jetzt aus Erfahrung, dass dieses mysteriöse Phänomen in der Vergangenheit alle achtunddreißig Jahre auftrat, erstmals im Dezember 1897. Seltsamerweise lagen für ihn, an diesem Ende der Reise, achtunddreißig Tage zwischen den Ereignissen. Der Zeitraum, der in der Vergangenheit zwischen den Vorfällen verstrich, erschwerte es den Menschen, das Muster zu erkennen. Aber für Zeuge verlieh der hier kürzere Abstand diesen Ereignissen ein Gefühl von Dynamik, die sich beschleunigte.
Sechsunddreißig Tage, nachdem die Familie Pendleton den Übergang in diese Zeit vollzogen hatte, setzten die Fluktuationen wieder ein, und achtunddreißig Tage nach den Pendletons erlitten die Ostocks und ihre Hausangestellten, die bei ihnen untergebracht waren, an dieser Küste im Wesentlichen Schiffbruch. Achtunddreißig Tage nach den Ostocks kam ein bestürzter Mann namens Ricky Neems allein aus der Vergangenheit, ein Bauarbeiter aus dem Jahre 1973, den kurz nach seinem Eintreffen ein grausiges Schicksal ereilte.
Jeder Gruppe, die aus früheren Jahren hierhertransportiert worden war – zumindest diejenigen, die überlebten –, blieb achtunddreißig Prozent weniger Zeit in dieser Zukunft als ihren Vorgängern. Die Toten blieben für immer. Andrew Pendleton und seine Familie waren am längsten hier, nämlich 380 Minuten. Die Ostocks harrten etwa 235 Minuten aus, was achtunddreißig Prozent weniger war. Der Übergang, in dem Ricky Neems krepierte, dauerte etwa 146 Minuten. Falls das Muster weiterhin Bestand hatte, würde die derzeitige Ausbeute für 90,6 Minuten hier festsitzen, was zweiundsechzig Prozent von 146,1 waren. Zeuge verstand weder den Grund für die Periodizität noch die Bedeutung der Zahl achtunddreißig, aber er war sich sicher, was die Zeitdauer jedes Übergangs betraf, da es ein Teil seiner Natur war, sich des Vergehens der Zeit so bewusst zu sein wie jede Uhr.
Desgleichen kannte er auch nicht den Grund für dieses Ereignis und wusste nicht, ob es sich um ein natürliches Phänomen ohne jegliche Bedeutung handelte oder ob irgendeine Absicht dahintersteckte. Wenn das Pendleton rein zufällig über einer Raum-Zeit-Verwerfung erbaut worden war, dann geschah alles aus reinem Zufall. Aber ob es Zufall war oder nicht – die Kräfte, die daran beteiligt waren, gingen weit über Zeuges Verständnis hinaus und besaßen so immense Macht, dass sie die Zeit zusammenfalten konnten, um verschiedene Epochen zusammenzubringen, was nach den physikalischen Gesetzen unmöglich war – oder besser gesagt: unmöglich nach dem, was man für die physikalischen Gesetze hielt.
Sein Eindruck von zunehmender Beschleunigung, der sich immer mehr verstärkte, führte dazu, dass er ein nahendes Crescendo erwartete, nicht nur ein Ende dieser Phänomene, sondern eine Vollendung, die sein Vorstellungsvermögen übertraf. Vielleicht wurde seine Erwartungshaltung durch die Gewalttätigkeit geprägt, die er so lange Zeit beobachtet hatte, durch die Zerstörung der weltweiten Zivilisation, und vielleicht irrte er sich, aber er war der festen Überzeugung, das Ende dieser Übergänge würde, wenn es kam, umwälzend sein, katastrophal und vernichtend. Noch schlimmer als alles, was er jemals in seinem Leben gesehen hatte.
Als er jetzt in der verlassenen Bibliothek stand und den Frauen im Nebenzimmer lauschte, glaubte er, wenn er sie besser gekannt hätte, hätte er sie wirklich gemocht. Er mochte sie sogar jetzt schon ein bisschen und seine Zuneigung war groß genug, um ihn hoffen zu lassen, sie würden nicht hier verrecken, obwohl die Chancen, dass einer der Hausbewohner die nächsten neunzig Minuten überlebte, sehr gering waren. Er würde sie nicht töten, aber retten konnte er sie auch nicht.
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