Winny

In der Küche saß Iris am Frühstückstisch und hielt das Häschen mit den Schlappohren eng an ihre Brust gepresst, wiegte sich auf ihrem Stuhl und flüsterte dem Stoffhasen Worte zu, die Winny nicht verstehen konnte, die sie aber ständig wiederholte.

Etwas an dem Mädchen – Winny war sich nicht sicher, was es war – löste bei ihm den Wunsch aus, mutig zu sein. Es lag nicht daran, dass Iris hübsch war, und das war sie. Obwohl Winny seinem Alter in vieler Hinsicht voraus war, war er noch zu jung, um sich für Mädchen zu interessieren. Da sie drei Jahre älter war, wäre sie ohnehin zu alt für ihn. Es konnte zum Teil daran liegen, dass sie Bücher brauchte und er Bücher brauchte und dass, im Gegensatz zu den meisten Menschen, die gern in ihren Klubs darüber redeten, welche Bücher sie lasen, weder Iris noch Winny über das sprachen, was sie lasen – in ihrem Fall, weil sie nicht sprechen konnte, und in seinem Fall, weil er sich so miserabel ausdrückte, dass gute Bücher wie der letzte Mist geklungen hätten, wenn er darüber sprach.

Er setzte sich nicht zu Iris an den Tisch. Da er zu aufgekratzt war, um stillzuhalten, streifte er durch die Küche, sah sich das Geschirr an, das in einigen der Küchenschränke mit Glastüren zu bewundern war, und las die Notizen, die Mrs. Sykes auf der Dezemberseite des Wandkalenders an diversen Tagen eingetragen hatte: »Buchhalter um 14:30, Abendessen mit Tanya, Dr. Abbot, Käse-Sonderaktion.« Er überlegte, ob die Äpfel, Birnen und Bananen mitten auf der Kücheninsel sorgfältig arrangiert waren, damit sie wie ein Stillleben aussahen, oder ob sie einfach kreuz und quer in die große, flache Schale gekippt worden waren. Er fand es selbst dermaßen sonderbar, sich in einem solchen Moment Gedanken über so etwas zu machen, dass er sich sogar fragte, ob er vielleicht schwul war. Er zählte die Bodenfliesen, als könnte sich ihre Anzahl – du Dummkopf, du Dummkopf! – zu irgendeinem Zeitpunkt als entscheidende Information erweisen, die ihnen allen das Leben retten würde.

Er hörte auch, wie seine Mom und Mrs. Sykes versuchten, mit dem Telefon in der Küche und mit ihren beiden Handys Anrufe zu machen. Mehrfach wurden sie, bevor sie eine vollständige Nummer eingetippt hatten, mit Leuten verbunden, die in einer fremden Sprache redeten, mehrere Stimmen gleichzeitig in der Leitung, die wie eine Schar Truthähne kollerten. Einmal bekam seine Mom das Hauptamt von City Bell, eine andere Stimme als beim ersten Mal, doch auch diese Dame beharrte darauf, es sei das Jahr 1935, aber sie war nicht so nett wie die Erste. Und Mrs. Sykes ließ ihr Telefon vor Schreck fallen, als schimmernde, wogende Massen aus blauem Licht von einer Ecke zur anderen über eine Küchenwand schwappten.

In einigen der Schränke und Vitrinen klapperten und klirrten Dinge. Ein paar der unteren Türen flogen auf und manche Schubladen rollten heraus. Kochtöpfe fielen aus offenen Türen, Edelstahlbesteck und Gegenstände aus Metall brachen aus den Schubladen hervor und dieses ganze Zeug hing frei schwebend in der Luft und trieb in diesem blauen Licht an einer Küchenseite entlang. Töpfe und Pfannen stießen unter lautem Geklapper aneinander. Messer, Gabeln und Löffel waren in der Luft zu Gange, als schlügen Dutzende von Poltergeistern ihr Besteck aneinander, um gegen den Mangel an akzeptabler Gespensternahrung zu protestieren. Wie Gefangene, die in manchen alten Filmen im Speisesaal Aufruhr veranstalteten, wenn der böse neue Aufseher Geld aus dem Budget unterschlug und ihnen nur billige Pampe auftischen ließ.

Die Wellen aus Licht spülten von rechts nach links über die Küchenschränke und verzogen sich dann wieder; der Wirbelsturm aus Metallgegenständen endete abrupt und alles stürzte auf einmal unter großem Getöse zu Boden. Aber das Zeug verteilte sich nicht etwa überall. Stattdessen türmten sich die Gegenstände zu sonderbar ausbalancierten Haufen, die der Schwerkraft keinen Moment hätten standhalten sollen, es aber trotzdem taten; Besteck aus Edelstahl ragte wie Stacheln aus den Skulpturen aus Töpfen und Pfannen heraus und vibrierte wie Stimmgabeln, als sei alles magnetisiert worden. Nach einem Moment musste der Magnetismus verflogen sein oder so etwas, denn das Vibrieren endete und die Stapel brachen in sich zusammen und alles verteilte sich auf dem Fußboden. Die Stille, die sich nach diesem ganzen Trubel über die Küche herabsenkte, war die Totenstille eines Bestattungsinstituts – durchbrochen nur von Iris, die wie ein Welpe wimmerte, der sich verirrt hat und nach Hause will.

Keine der beiden Frauen schrie oder benahm sich hysterisch, und sie leugneten die Ereignisse auch nicht, wie es die Leute in Filmen üblicherweise taten, wenn gespenstische Dinge passierten. Winny war stolz auf sie und er war ihnen auch dankbar, denn wenn eine von ihnen die Nerven verloren hätte, wäre auch er ausgeflippt, und das wäre dann das Ende seiner Tapferkeit für Iris gewesen.

Die Wellen aus blauem Licht erinnerten Winny an die pulsierenden Kreise auf dem Fernsehbildschirm und an die Stimme, die gesagt hatte: »Eliminieren.«

Er hatte den Verdacht, seine Mutter dächte dasselbe, denn sie sagte: »Vielleicht sind wir draußen nicht sicher, wenn diese Dinger dort rumkriechen, aber wenn wir drinbleiben, sind wir auch nicht sicher.«

Mrs. Sykes sagte: »Wir müssen uns mit anderen Menschen zusammentun. Es muss etwas dran sein, dass man zu mehreren sicherer ist.«

»Gary Dai ist in Singapur«, sagte Winnys Mom.

Die untere Etage von Mr. Dais zweistöckiger Wohneinheit lag neben ihrer Wohnung. Er war ein Software-Guru und legendärer Entwickler von Computerspielen und hätte daher vielleicht gewusst, was hier vorging und wie man sämtliche Spielebenen lebend überstand. Es war ihr Pech, dass er sich ausgerechnet dann am anderen Ende der Welt aufhielt, als die Münze in den Schlitz fiel und es losging.

»Die Leute nebenan besuchen ihren Enkel«, sagte Mrs. Sykes. »Und die hinterste Wohnung steht leer und ist zu verkaufen.«

Winnys Mom sagte: »Lassen Sie uns durch meine Wohnung zum nördlichen Hausflur rübergehen und sehen, ob wir Bailey Hawks in 2-C finden. Es gibt niemanden im Pendleton, bei dem ich mich im Moment sicherer fühlen würde.«

* * *

Nachthaus
titlepage.xhtml
cover.html
ePub_98-3-641-08888-0.html
ePub_98-3-641-08888-0-1.html
ePub_98-3-641-08888-0-2.html
ePub_98-3-641-08888-0-3.html
ePub_98-3-641-08888-0-4.html
ePub_98-3-641-08888-0-5.html
ePub_98-3-641-08888-0-6.html
ePub_98-3-641-08888-0-7.html
ePub_98-3-641-08888-0-8.html
ePub_98-3-641-08888-0-9.html
ePub_98-3-641-08888-0-10.html
ePub_98-3-641-08888-0-11.html
ePub_98-3-641-08888-0-12.html
ePub_98-3-641-08888-0-13.html
ePub_98-3-641-08888-0-14.html
ePub_98-3-641-08888-0-15.html
ePub_98-3-641-08888-0-16.html
ePub_98-3-641-08888-0-17.html
ePub_98-3-641-08888-0-18.html
ePub_98-3-641-08888-0-19.html
ePub_98-3-641-08888-0-20.html
ePub_98-3-641-08888-0-21.html
ePub_98-3-641-08888-0-22.html
ePub_98-3-641-08888-0-23.html
ePub_98-3-641-08888-0-24.html
ePub_98-3-641-08888-0-25.html
ePub_98-3-641-08888-0-26.html
ePub_98-3-641-08888-0-27.html
ePub_98-3-641-08888-0-28.html
ePub_98-3-641-08888-0-29.html
ePub_98-3-641-08888-0-30.html
ePub_98-3-641-08888-0-31.html
ePub_98-3-641-08888-0-32.html
ePub_98-3-641-08888-0-33.html
ePub_98-3-641-08888-0-34.html
ePub_98-3-641-08888-0-35.html
ePub_98-3-641-08888-0-36.html
ePub_98-3-641-08888-0-37.html
ePub_98-3-641-08888-0-38.html
ePub_98-3-641-08888-0-39.html
ePub_98-3-641-08888-0-40.html
ePub_98-3-641-08888-0-41.html
ePub_98-3-641-08888-0-42.html
ePub_98-3-641-08888-0-43.html
ePub_98-3-641-08888-0-44.html
ePub_98-3-641-08888-0-45.html
ePub_98-3-641-08888-0-46.html
ePub_98-3-641-08888-0-47.html
ePub_98-3-641-08888-0-48.html
ePub_98-3-641-08888-0-49.html
ePub_98-3-641-08888-0-50.html
ePub_98-3-641-08888-0-51.html
ePub_98-3-641-08888-0-52.html
ePub_98-3-641-08888-0-53.html
ePub_98-3-641-08888-0-54.html
ePub_98-3-641-08888-0-55.html
ePub_98-3-641-08888-0-56.html
ePub_98-3-641-08888-0-57.html
ePub_98-3-641-08888-0-58.html
ePub_98-3-641-08888-0-59.html
ePub_98-3-641-08888-0-60.html
ePub_98-3-641-08888-0-61.html
ePub_98-3-641-08888-0-62.html
ePub_98-3-641-08888-0-63.html
ePub_98-3-641-08888-0-64.html
ePub_98-3-641-08888-0-65.html
ePub_98-3-641-08888-0-66.html
ePub_98-3-641-08888-0-67.html
ePub_98-3-641-08888-0-68.html
ePub_98-3-641-08888-0-69.html
ePub_98-3-641-08888-0-70.html
ePub_98-3-641-08888-0-71.html
ePub_98-3-641-08888-0-72.html
ePub_98-3-641-08888-0-73.html
ePub_98-3-641-08888-0-74.html
ePub_98-3-641-08888-0-75.html
ePub_98-3-641-08888-0-76.html
ePub_98-3-641-08888-0-77.html
ePub_98-3-641-08888-0-78.html
ePub_98-3-641-08888-0-79.html
ePub_98-3-641-08888-0-80.html
ePub_98-3-641-08888-0-81.html
ePub_98-3-641-08888-0-82.html
ePub_98-3-641-08888-0-83.html
ePub_98-3-641-08888-0-84.html
ePub_98-3-641-08888-0-85.html
ePub_98-3-641-08888-0-86.html
ePub_98-3-641-08888-0-87.html
ePub_98-3-641-08888-0-88.html
ePub_98-3-641-08888-0-89.html
ePub_98-3-641-08888-0-90.html
ePub_98-3-641-08888-0-91.html
ePub_98-3-641-08888-0-92.html
ePub_98-3-641-08888-0-93.html
ePub_98-3-641-08888-0-94.html
ePub_98-3-641-08888-0-95.html
ePub_98-3-641-08888-0-96.html
ePub_98-3-641-08888-0-97.html
ePub_98-3-641-08888-0-98.html
ePub_98-3-641-08888-0-99.html
ePub_98-3-641-08888-0-100.html
ePub_98-3-641-08888-0-101.html
ePub_98-3-641-08888-0-102.html
ePub_98-3-641-08888-0-103.html
ePub_98-3-641-08888-0-104.html
ePub_98-3-641-08888-0-105.html
ePub_98-3-641-08888-0-106.html
ePub_98-3-641-08888-0-107.html
ePub_98-3-641-08888-0-108.html
ePub_98-3-641-08888-0-109.html
ePub_98-3-641-08888-0-110.html
ePub_98-3-641-08888-0-111.html
ePub_98-3-641-08888-0-112.html
ePub_98-3-641-08888-0-113.html
ePub_98-3-641-08888-0-114.html
ePub_98-3-641-08888-0-115.html
ePub_98-3-641-08888-0-116.html
ePub_98-3-641-08888-0-117.html
ePub_98-3-641-08888-0-118.html
ePub_98-3-641-08888-0-119.html
ePub_98-3-641-08888-0-120.html
ePub_98-3-641-08888-0-121.html
ePub_98-3-641-08888-0-122.html
ePub_98-3-641-08888-0-123.html
ePub_98-3-641-08888-0-124.html
ePub_98-3-641-08888-0-125.html
ePub_98-3-641-08888-0-126.html
ePub_98-3-641-08888-0-127.html
ePub_98-3-641-08888-0-128.html
ePub_98-3-641-08888-0-129.html
ePub_98-3-641-08888-0-130.html
ePub_98-3-641-08888-0-131.html
ePub_98-3-641-08888-0-132.html
ePub_98-3-641-08888-0-133.html
ePub_98-3-641-08888-0-134.html
ePub_98-3-641-08888-0-135.html
ePub_98-3-641-08888-0-136.html
ePub_98-3-641-08888-0-137.html
ePub_98-3-641-08888-0-138.html
ePub_98-3-641-08888-0-139.html
ePub_98-3-641-08888-0-140.html
ePub_98-3-641-08888-0-141.html
ePub_98-3-641-08888-0-142.html
ePub_98-3-641-08888-0-143.html
ePub_98-3-641-08888-0-144.html
ePub_98-3-641-08888-0-145.html
ePub_98-3-641-08888-0-146.html
ePub_98-3-641-08888-0-147.html
ePub_98-3-641-08888-0-148.html
ePub_98-3-641-08888-0-149.html
ePub_98-3-641-08888-0-150.html
ePub_98-3-641-08888-0-151.html
ePub_98-3-641-08888-0-152.html
ePub_98-3-641-08888-0-153.html
ePub_98-3-641-08888-0-154.html
ePub_98-3-641-08888-0-155.html
ePub_98-3-641-08888-0-156.html
ePub_98-3-641-08888-0-157.html
ePub_98-3-641-08888-0-158.html
ePub_98-3-641-08888-0-159.html
ePub_98-3-641-08888-0-160.html
ePub_98-3-641-08888-0-161.html
ePub_98-3-641-08888-0-162.html
ePub_98-3-641-08888-0-163.html
ePub_98-3-641-08888-0-164.html
ePub_98-3-641-08888-0-165.html
ePub_98-3-641-08888-0-166.html
ePub_98-3-641-08888-0-167.html
ePub_98-3-641-08888-0-168.html
ePub_98-3-641-08888-0-169.html
ePub_98-3-641-08888-0-170.html
ePub_98-3-641-08888-0-171.html
ePub_98-3-641-08888-0-172.html
ePub_98-3-641-08888-0-173.html
ePub_98-3-641-08888-0-174.html