7 Apartment 2-A

Das Unwetter war ein Geschenk. Der Text von »One Rainy Night in Memphis« brauchte eine Melodie mit Schwung, aber auch mit einem melancholischen Unterton, eine Kombination, die nicht leicht zu erreichen war, und schon gar nicht für Twyla Trahern. Der muntere Teil machte ihr keine Schwierigkeiten, aber Melancholie war für sie eine Erfahrung, die sie nur aus zweiter Hand kannte, etwas, was anderen Menschen widerfuhr, und obwohl sie bereits einige melancholische Songs geschrieben hatte, brauchte sie eine trübsinnige Atmosphäre, um sich inspirieren zu lassen. Mit ihrer Gitarre saß sie auf dem Hocker an einem Fenster des Arbeitszimmers ihrer Wohnung im ersten Stock des Pendleton, schaute in den Regen hinaus, der ihr so gelegen kam, auf die funkelnden Lichter der Großstadt in der vorzeitigen Abenddämmerung, die dem Tag durch die schweren Gewitterwolken aufgedrückt worden war, zupfte Töne und probierte auf der Suche nach dem Klang des Kummers verschiedene Akkorde aus.

Sie komponierte zwar nicht immer so, doch diesmal nahm sie sich den Refrain zuerst vor, denn dort musste sich die Munterkeit besonders ausgeprägt zeigen. Sie arbeitete daran – die letzten Feinheiten würden am Klavier erfolgen – und ließ die Überleitung von acht Takten vorerst weg, denn die würde sie erst schreiben, nachdem sie die klaren Linien der Melodie aus dem Refrain extrapoliert hatte.

Wie üblich hatte sie den Text zuerst verfasst, Vers um Vers, Strophe um Strophe, und jede Texteinheit geschliffen, bis sie glänzte und doch nicht zu glatt war. Schliff ohne Glätte war ein Ziel, das nicht leicht zu erreichen war. Viele Texter konnten einen ganzen Song auf einen Rutsch hinschreiben, obwohl sie wussten, dass einige Verse nicht gut genug waren und dass sie sich später damit befassen und sie umschreiben mussten, aber so konnte Twyla nicht arbeiten. Manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass sie an den Worten feilen musste, wenn die Melodie fertig war, damit die Synkopen stimmten und die Silben sich anmutig mit der Musik verbanden, aber über ein letztes Feilen ging es dann doch nie hinaus.

Sie schrieb Countrymusic und sie wusste, worüber sie schrieb. Sie war die Tochter eines Farmers, der in der Rezession von 1980, als sie zwei Jahre alt gewesen war, seine Farm verloren hatte. Er hatte anschließend als Wartungsmechaniker in einem Kohlekraftwerk gearbeitet, die meiste Zeit über in fensterlosen Kammern, wo die Hitze über fünfzig Grad steigen konnte. Zehn Stunden am Tag, fünf und manchmal sogar sechs Tage in der Woche. Und dabei unablässig geschwitzt. Oft hatte er gefährliche Arbeiten ausgeführt, in verräucherter Luft, in der die feine Asche pulverisierter Kohle qualmte, die in einer ständigen kontrollierten Explosion verbrannt wurde. Winston Trahern ertrug seinen Job zweiundzwanzig Jahre lang, um seine Familie einzukleiden, zu ernähren und ihr einen gewissen Wohlstand zu bieten. Twyla hatte ihren Dad nie klagen hören, und er duschte immer nach seiner Schicht noch im Betrieb, sodass er frisch und sauber aussah, wenn er nach Hause kam. Als Twyla zweiundzwanzig war, explodierte im Kraftwerk ein Kohlebrecher und tötete ihren Vater und zwei weitere Männer.

Von ihm hatte sie das sonnige Gemüt, das es ihr schwer machte, melancholische Songs zu schreiben, und das war ein besseres Vermächtnis als ein Topf voller Geld.

Als sich Regenfahnen über der Stadt entrollten und an den Fensterscheiben hinunterrannen, verfestigte sich die Musik um den Text herum und verschmolz mit ihm. Twyla wurde klar, dass sie einen Song schrieb, den niemand besser singen konnte als Farrel Barnett, ihr früherer Ehemann. Sein erster großer Hit auf der Bühne und ihr erster Titel als Songwriterin, mit dem sie in die Top Ten kam, war »Leaving Late and Low« gewesen. Sie heirateten, nachdem sie vier Songs für seine zweite CD geschrieben hatte.

Damals glaubte sie, Farrel zu lieben. Vielleicht tat sie es ja. Mit der Zeit erkannte sie, dass sie sich zum Teil deshalb zu ihm hingezogen gefühlt hatte, weil seine Augen denselben Blauton hatten wie die ihres Daddys und weil er Vertrauenswürdigkeit und eine unerschütterliche gute Laune ausstrahlte, die sie an Win Trahern erinnerten.

In Farrels Fall war die Fröhlichkeit echt, wenn auch manchmal manisch und den Umständen unangemessen. Aber die Ausstrahlung von Vertrauenswürdigkeit war eine so flüchtige Projektion wie der Lichtstrahl, der Bilder auf eine Filmleinwand zeichnet. Er fegte durch Frauen wie ein Tornado durch eine Stadt in Kansas, riss andere Ehen in Fetzen und beraubte seine sensibleren Geliebten ihres Selbstwertgefühls, als mache ihm nicht etwa der Sex Vergnügen, sondern die Verwüstung, die er hinterließ. Twyla behandelte er immer zärtlich, doch anderen Frauen gegenüber war er weniger respektvoll. Mehrmals war eine dieser erbärmlichen Gestalten von Bitternis durchtränkt vor Twylas Tür gestrandet, als mache die Tatsache, Farrel Barnett ertragen zu haben, sie zu Leidensgenossinnen, die einander trösten und gemeinsam Rachepläne schmieden konnten.

Nach vier Jahren hatte sie ihn nicht mehr geliebt. Sie hatte zwei weitere Jahre gebraucht, bis sie begriffen hatte, dass ihr Leben, wenn sie sich nicht von ihm scheiden ließ, in Stücke zerspringen und die Trümmer so weit verstreut werden würden, dass sie nicht mehr in der Lage sein würde, sich zu dem Menschen zusammenzusetzen, der sie früher einmal gewesen war. Zu der Zeit hatte Farrel mit fünfzehn Songs die Country-Hitlisten gestürmt; zwölf dieser Hits hatte Twyla geschrieben, und davon hatten es acht auf den ersten Platz geschafft.

Noch wichtiger war, dass sie ein gemeinsames Kind hatten – Winston, der nach Twylas Vater benannt worden war. Twyla war anfangs entschlossen gewesen, Winny nicht in einem Zuhause ohne Dad aufzuziehen. Mit der Zeit verstand sie, dass in seltenen Ausnahmefällen ein kaputtes Zuhause für einen Jungen besser sein kann als eines, wo sich sein narzisstischer Alter nur gelegentlich blicken ließ und selbst dann nur, um sich von Tourneen und Ehebruchmarathons zu erholen, und sich weniger mit seinem Sohn abgab als mit seiner kleinen Entourage von Speichelleckern.

Sie liebte Farrel zwar nicht mehr und mochte ihn nicht einmal sonderlich, aber sie hasste ihn auch nicht. Wenn »One Rainy Night in Memphis« fertig war, würde sie den Song Farrel als Erstem anbieten, weil er das Beste daraus machen konnte. Mit ihren Songs unterstützte sie ihre alternde Mutter. Noch dazu waren sie Winnys Zukunft. Was das Beste für einen Song war, hatte einen höheren Stellenwert als das Begleichen alter Rechnungen.

Als das Rumpeln nicht etwa von dem stürmischen Himmel kam, sondern aus dem Boden unter dem Gebäude aufstieg, erstarrten Twylas Finger auf den Bünden und hoben das Plektrum von den Saiten. Während der letzte Akkord verklang, fühlte sie ein Beben durch das Pendleton ziehen. Ihre Grammys und ihre Preise der Country Music Association klapperten auf den Glasplatten in der Vitrine hinter ihrem Klavier.

In Erwartung einer bevorstehenden Katastrophe sah sie immer noch durch das hohe Fenster, als mehrere grandiose Blitze wie mit Stacheln versehene Peitschen auf den Himmel eindroschen. Es hatte den Anschein, als fiele der Regen nur stockend. Die Blitze leuchteten mit geradezu apokalyptischer Kraft auf und schienen die anderen Gebäude, die die Shadow Street säumten, auszulöschen. Als die Beben, die vom Boden aufstiegen, vorbei waren und schwere Donnerschläge den Nachmittag erschütterten, verschworen sich Blitz und Regen für einen Moment, um den Eindruck zu erzeugen, die vier Spuren Asphalt seien verschwunden. Die Straßen der Stadt weiter unten, die Gebäude und ihre Lichter lösten sich auf. In der flackernden himmlischen Auslage schien es nichts anderes mehr zu geben als eine riesige leere Landschaft, den langen Hügel und darunter eine grässliche Ebene, etwas wie ein Meer aus hohem Gras, durchsetzt mit dicht zusammenstehenden schwarzen Bäumen, deren schroffes Geäst sich in die Düsternis krallte.

Diese Vision musste ihr von dem Gewitterlicht auf dem vom Regen überspülten Glas vorgegaukelt worden sein, denn als das Feuerwerk endete, war die Stadt wieder da, mit all ihren Gebäuden und Parks. Starker Verkehr fuhr den langen Boulevard hinauf und hinunter; Regen floss in Strömen über den Asphalt, der im Widerschein von Autoscheinwerfern und sich schlängelnden roten Rinnsalen von Rücklichtern glitzerte.

Twyla stellte fest, dass sie von dem Hocker aufgestanden war und ihre Gitarre auf den Teppich gelegt hatte, ohne dass sie sich daran erinnern konnte. Sie stand am Fenster. Was sie gesehen hatte, konnte nichts anderes als eine optische Täuschung gewesen sein. Dennoch wurde ihr Mund trocken, während sie auf eine weitere Salve von Blitzen wartete. Im nächsten Sperrfeuer verschwand die Stadt nicht, sondern behauptete sich. Die ungeheure unbevölkerte Weite, auf die ihr Blick zuvor gefallen war, tauchte nicht wieder auf. Eine Fata Morgana. Eine Illusion.

Sie drehte sich um und richtete ihren Blick auf die Vitrine hinter dem Klavier. Keine der Auszeichnungen war umgefallen, aber das Erschauern des Gebäudes war real gewesen, kein Streich, den ihr das Licht und die im Regen verschwommene Fensterscheibe gespielt hatten.

Nachthaus
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