Silas Kinsley

Im Erdgeschoss wandte sich Silas vom südlichen Aufzug und den drohenden Stimmen ab, die hinter den automatischen Schiebetüren hallten. Sie waren wie die Stimmen eines aufgebrachten Pöbels in gewissen Träumen, fordernd, drohend und doch unzusammenhängend, keine klar verständlichen Worte, das eifrige Summen von Heerscharen von Verfolgern, deren Beweggründe für ihn nicht greifbar waren, aber deren verbissenes Ziel seine Zerstörung war. Er erinnerte sich wieder daran, in den frühen Morgenstunden erwacht zu sein und einem fürchterlichen zischelnden Geräusch in der Wand hinter seinem Bett gelauscht zu haben. Diese Stimmen in dem Schacht hatten nichts mit dem Geräusch gemein, und doch wusste er, dass ihr Ursprung derselbe sein musste. Er ging zu dem nahen Treppenaufgang und eilte in den Keller hinunter.

Er war zwar zu alt und verzehrte sich zu sehr nach seiner verlorenen Nora, um sich Sorgen zu machen, er könnte sein Leben verlieren, aber Silas hatte trotzdem Angst um seine Nachbarn und wollte sie unbedingt warnen, damit sie das Gebäude verließen. Am unteren Ende der Treppe öffnete er behutsam und leise die Tür, da er sich Sorgen machte, die riesige Ungeheuerlichkeit, die Perry Kyser 1973 gesehen hatte, das Ding, das offenbar einen seiner Kollegen getötet hatte, könnte dort lauern, um ihn anzugreifen. Wenn Andrew Pendleton in dieser Nacht lange nach seinem Selbstmord hier am Leben sein konnte, dann könnte jeder – und alles – aus jeder Zeit in diesem Gebäude herumlaufen.

Der südliche Flur, der an den Abstellräumen vorbei und zum Lastenaufzug am hinteren Ende des Gebäudes führte, schien menschenleer zu sein, und in dem langen Westflur war niemand außer einem Mann zu sehen, der gerade aus dem Versorgungsraum kam. Er schloss die Tür hinter sich und ging forsch auf den nördlichen Lift am hinteren Ende des Korridors zu.

Silas konnte den Mann nicht gut genug sehen, um ihn eindeutig zu identifizieren, aber er hatte das sichere Gefühl, es sei Mickey Dime. Als Vorstandsmitglied des Wohnungseigentümerverbandes kannte Silas jeden Bewohner des Gebäudes, doch er kannte nicht alle gleich gut. Dime war für ihn in erster Linie ein Name, da der Mann sehr für sich blieb.

Als Dime in dem Aufzug am Ende des Flurs verschwand, kam Silas aus dem südlichen Treppenaufgang heraus und eilte an der Hausmeisterwohnung vorbei. Am Wachraum klopfte er leise. Als niemand reagierte, klopfte er etwas lauter. Schließlich öffnete er die Tür und trat ein.

Das Bedienungspult war nicht besetzt. Niemand stand an der Kaffeemaschine in der Küchennische. Die Tür zur Toilette stand offen, und auch dort war niemand.

In den Sicherheitsrichtlinien stand, der diensthabende Wächter würde seinen Posten nur verlassen, wenn er wegen eines Ernstfalls in einen anderen Teil des Gebäudes gerufen wurde oder um eine seiner obligatorischen Runden von fünfzehn Minuten durch den Keller, das Erdgeschoss und den Innenhof zu drehen, zwei während der Spätschicht und zwei während der Nachtschicht, täglich zu einer anderen Uhrzeit. Aber die früheste Runde wurde nie vor acht oder neun Uhr abends gedreht, und bis dahin waren es noch Stunden.

Silas entdeckte ein nasses rotes Ausrufezeichen auf dem Fußboden in der Nähe eines der Stühle am Bedienpult. Er kniete sich hin, um sich den Fleck genauer anzusehen. Ein zweieinhalb Zentimeter langer Strich aus Blut und am Ende ein Punkt. Erst vor so kurzer Zeit vergossen, dass die Luft noch nicht begonnen hatte, es an den Rändern verkrusten zu lassen oder einen dünnen Film darauf zu bilden. Außerdem lag in dem Ausschnitt für die Knie unter dem Computerarbeitsplatz der Waffengurt des Wächters samt Halfter und Pistole.

Silas merkte, dass sein Mund trocken geworden war und er schnell und flach durch den Mund atmete, vielleicht schon, seit er den Stimmen im Aufzugschacht gelauscht hatte. Er konnte ein Trommeln hören, die Urwaldtrommel seines Herzens in der wilden tiefen Dunkelheit seines Brustkorbs, rasche Schläge, aber noch nicht panisch.

Nur die Rauchmelder in jedem Raum und in jedem Flur oder der Wachmann an seinem Computer konnten im ganzen Gebäude einen durchdringenden Feueralarm auslösen. Als eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung war der Computer mit dem Notstromgenerator verbunden, für den Fall, dass die städtische Stromzufuhr versiegte, ehe Alarm geschlagen werden konnte.

Silas wusste nicht, wie man den Computer zu diesem Zweck nutzte, aber er war sich sicher, dass Tom Tran es hinkriegen würde. Er begab sich an die Tür der Hausmeisterwohnung nebenan und läutete. Er hörte die Folge von sieben Tönen durch die Räume hallen, doch obwohl er dreimal läutete, machte ihm niemand auf.

Der Flur im Keller sah nicht anders aus als sonst auch, aber er kam ihm anders, etwas kam ihm falsch vor. Die Decke sackte nicht hinunter und die Wände bogen sich nicht, doch Silas fühlte eine gewaltige Last auf dem Gebäude, als drückten das Unwetter und der Himmel hinter dem Unwetter und das Universum, das der Himmel war, allesamt auf das Pendleton, ein so furchtbares Gewicht, dass das Gebäude darunter zertrümmert würde. Und die Trümmer würden zu Staub zerfallen.

Obwohl die Phase seiner Berufspraxis, in der er sich auf Strafverteidigung spezialisiert hatte, schon sehr viele Jahre zurücklag, hatte Silas sein intuitives Gespür für Verschleierung und finstere Absichten nicht eingebüßt. Mr. Dime hatte keinen verstohlenen Eindruck erweckt; er hatte sogar im Gegenteil die Ausstrahlung eines Mannes gehabt, der in aller Öffentlichkeit seinen rechtmäßigen Geschäften nachgeht, aber Silas konnte sich keinen Grund dafür denken, weshalb einer der Bewohner jemals den Versorgungskeller aufsuchen müsste.

Da seine Gewissheit wuchs, dass nicht etwa die Zeit knapp wurde, sondern dass jeden Moment ein unbegreifliches Unheil, das der Zeit zugestoßen war, über das Pendleton hereinbrechen würde, musste Silas unbedingt ins Erdgeschoss zurückkehren und Padmini Bahrati fragen, ob sie wusste, wo Tom Tran war, oder ob sie einen Feueralarm auslösen konnte.

Aber vorher sah er sich gezwungen, in den Wachraum zurückzukehren und die zurückgelassene Pistole des Wachmanns an sich zu nehmen. Er war seit zehn Jahren nicht mehr auf einem Schießstand gewesen. Er wollte keine Waffe benutzen, aber die Dinge entwickelten sich eben nicht immer so, wie es einem lieb war. Er nahm auch die Dose Pfefferspray und die Taschenlampe aus dem Waffengurt. Dann trat er wieder auf den Gang hinaus und eilte zur nächsten Tür links. Sie war nicht abgeschlossen. Er betrat den Versorgungsraum.

* * *

Nachthaus
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