Sparkle Sykes
Als die Zunge aus dem verzerrten Gesicht auf der Unterseite des kriechenden Monstrums kam und über das regennasse Glas glitt, wusste Sparkle, dass es nicht das kühle Wasser schmeckte, sondern nichts anderes tat, als sie zu verhöhnen. Anfangs schien das Gesicht vor Leid und Zorn verzerrt zu sein, doch sein Ausdruck verfinsterte sich zu rasender Wut, die durch nichts anderes als Spott verdünnt wurde, während sich der Mund zu einem schamlosen gepressten Hohnlächeln verzog.
Obwohl sie sicher war, dass die getrübten Augen sie sahen, ließ sie den Vorhang offen, denn solange sie die Abscheulichkeit sehen konnte, wusste sie wenigstens, wo sie war. Während es an der Scheibe hinaufkroch, schien das Ding weniger Interesse an seinem Vorankommen zu haben als daran, mit seinen Saugnäpfen an den Zehen jede Verbindung zwischen den Bronzesprossen und dem Glas zu erkunden, als suche es nach einer Lücke oder einer Schwachstelle, die es nutzen konnte, um hereinzukommen.
Gezackte Blitze spalteten den Himmel, und zum ersten Mal, seit Sparkle zugesehen hatte, wie ihr Vater verkohlt und gefällt worden war, unterließ sie es, aus Furcht vor dem tödlichen Potenzial zusammenzucken. Das grässliche Ding auf der Fensterscheibe verdiente ihr Grauen mehr als die helle Wut der Natur. Tatsächlich schien die auflodernde Nacht die Kreatur allerdings zu liebkosen, als sei sie ein Kind, das von dem Unwetter hervorgebracht worden war.
Sie musste im Wachraum anrufen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, damit es nicht ganz so verrückt klang. Sie würde dem Wachmann einfach auffordern, herzukommen und es sich selbst anzusehen. Ihm sagen, dass es dringend sei.
In Iris’ Zimmer gab es kein Telefon. Selbst der angenehmste Klingelton irritierte sie jedes Mal von Neuem.
Sparkle hielt ihren Blick auf das Monstrum am Fenster gerichtet, während sie langsam zum Bett ihrer Tochter zurückwich. Sie sprach leise und achtete darauf, sich keine Spur von Sorge anhören zu lassen, damit das Mädchen bloß nicht einen ihrer Panikanfälle bekam. »Iris, Schätzchen, es ist Zeit für einen Leckerbissen. Jetzt gibt es Eis, meine Süße. Komm mit in die Küche Eis essen.«
Das Mädchen erwiderte nichts darauf und rührte sich auch nicht.
Als die Abscheulichkeit von einer Scheibe des Sprossenfensters zur nächsten strebte, erzeugten ihre Haftfüße ein saugendes Geräusch auf dem Glas.
Sie konnte das Kind nicht allein lassen, noch nicht einmal für die kurze Zeit, die sie gebraucht hätte, um vom nächsten Telefon aus im Wachraum anzurufen.
Autismus war ein gnadenloser Zensor, der Iris die Fähigkeit zur Kommunikation verweigerte. Indem sie lange Absätze aus dem geliebten Buch Bambi auswendig gelernt hatte, hatte das Mädchen eine Möglichkeit gefunden, Zitate aus der Geschichte als eine Art Code zu nutzen, der es ihr dann und wann ermöglichte, einen Gedanken an ihrem Unterdrücker vorbeizuschleusen, indem sie ihn als die Worte einer anderen Person ausgab.
In der Hoffnung, eine Brücke zwischen sich und ihrer emotional isolierten Tochter zu bauen, hatte Sparkle die Geschichte immer wieder gelesen. Manchmal hörte das Mädchen auf die vertrauten Zeilen aus dem Buch und verhielt sich entsprechend, doch wenn dieselbe Aufforderung anders formuliert wurde, ignorierte sie die Worte oder reagierte aufgebracht. Sparkle hatte zahlreiche Stellen gefunden, die sich als nützlich erwiesen, und sie auswendig gelernt.
»›Er ist in den Wäldern und wir müssen gehen‹«, sagte sie, was sich eigentlich auf den Jäger bezog, der die Rehe in den Wäldern am Ufer der Donau in Angst und Schrecken versetzte.
Iris blickte von ihrem Buch auf, sah ihre Mutter aber nicht direkt an, als sei der Blickkontakt zu qualvoll für sie.
»›Fürchte dich nicht‹«, sagte Sparkle und zitierte Bambis Vater aus dem vorletzten Kapitel des Buches. »›Komm mit mir und fürchte dich nicht. Ich bin froh, dass ich dich mitnehmen und dir den Weg zeigen kann …‹«
Wieder einmal wirkte das berühmte Kinderbuch Wunder. Iris legte das Buch, das sie gerade las, zur Seite, stand auf und ging auf ihre Mutter zu, ohne die kriechende Abscheulichkeit wahrzunehmen, die an dem Sprossenfenster weiter nach Einlass suchte.
Sparkle hätte das Mädchen gern an der Hand genommen, doch jeglicher Körperkontakt würde das Mädchen verstimmen, ihrem Entgegenkommen ein Ende bereiten und vielleicht sogar eine heftige körperliche Reaktion hervorrufen. Daher wandte sie sich stattdessen ab und ging auf die offene Tür zu, als sei sie zuversichtlich, dass ihre Tochter ihr folgen würde, wie jedes Rehkitz dem Reh gefolgt wäre, das es zur Welt gebracht hatte. Als sie die Schwelle zum Flur überquerte, warf sie einen Blick zurück und sah, dass Iris hinter ihr herschlurfte.
Sparkle glaubte, einen unmenschlichen Schrei zu hören, einen schrillen Laut, in dem sich immense Gier, Frustration und Wut ausdrückten, wenn auch gedämpft durch das Fensterglas. Aber das Geräusch war so fremdartig und so gruselig, dass sie glauben wollte, es sei nur die Stimme des kreischenden Windes, zu einem dünnen Falsett verweht.
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