Winny

Der Versorgungsraum dieses verfallenen Pendleton war ein Ort von genau der Sorte, über den die Mutter jedes Jungen schon zehntausend Mal gesagt hatte, er sollte sich bloß davon fernhalten: zahllose Reihen von klobigen alten Geräten hintereinander und übereinander, von denen ihn jedes zerquetschen würde, wenn es umkippte, kaputte Boiler mit Blechschäden, ausrangiertes Werkzeug mit scharfen Kanten, modernde Sockel mit splitternden Brettern, lose Enden von Isolierrohren für Kabel, aus denen blanke Drähte hervorstanden, die möglicherweise genug Strom leiten konnten, um einem die Augäpfel im eigenen Körperfett zu frittieren, mehr Rost als auf einem viertausend Quadratmeter großen Schrottplatz, Schimmel und Mehltau, Rattenskelette und daher uralte pulverisierte Rattenkacke, jede Menge krumme Nägel und zerbrochenes Glas. Unter anderen Umständen wäre es der coolste Ort überhaupt für Erkundungen gewesen. »Andere Umstände« hieß: ohne Monster.

Nach einem Klirren und dem darauffolgenden Klappern hatte Winny bis auf das matschige Geräusch von Schuhen mit Gummisohlen, wenn sie in die eine oder andere Sorte von Dreck traten, nichts mehr gehört. Falls Iris hier Zuflucht gesucht hatte, verhielt sie sich stiller als eine Maus, denn eine Maus würde wenigstens quieken. Natürlich war sie so gut wie immer still. Für sie war das nichts Neues. Winny hielt sich erst seit kurz vor dem Sprung in ihrer Nähe auf und hatte sie vorher nur ein paarmal gesehen, wenn ihre Mütter sich im Treppenhaus begegnet und stehen geblieben waren, um einen Moment miteinander zu plaudern, und dann war sie im Allgemeinen so stumm gewesen wie ein Möbelstück.

Ab und zu hatte er sich gefragt, wie es wohl sein musste, so wie Iris zu sein. Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen. Er vermutete, dass sie im Grunde genommen sehr einsam war. Obwohl seine Mom immer für ihn da war, überkam auch Winny von Zeit zu Zeit die Einsamkeit, und das war nie ein gutes Gefühl. Er nahm an, wenn er sich einsam fühlte, war das nur ein winziger Bruchteil der Einsamkeit, mit der Iris ihr ganzes Leben verbrachte. Dieser Gedanke machte ihn immer traurig. Er hatte sich gewünscht, etwas für sie tun zu können, aber es hatte nie etwas gegeben, was ein spilleriger Junge mit einem Haufen eigener Probleme für sie oder für irgendjemanden tun konnte.

Bis jetzt.

Winny schlich zwischen den Geräten durch, an Metallregalen vorbei, auf denen modernde Pappkartons standen. An den Regalen hingen Girlanden aus etwas, das wie Entenmuscheln aussah und aufgrund des Gewichts dieser Kolonien wabbelig war. Alles in dem großen Raum schien in einem bedenklich instabilen Gleichgewicht zu sein und sah so aus, als würde es umkippen, wenn man nieste oder auch nur zu genau hinschaute.

Er schlitterte durch etwas, das nach altem Stinkkäse roch und sehr wenig Lärm machte, aber gerade genug, um für ein paar Schritte die Geräusche zu übertönen, die etwas anderes in einem anderen Teil des Raums hervorzubringen begann. Als Winny den letzten Rest des schwammigen Zeugs hinter sich ließ und das andere Geräusch hörte, blieb er ganz still stehen, legte den Kopf in den Nacken und horchte. Die Geräusche waren verstohlen und erfolgten in kurzen Schüben, als wollte etwas keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie klangen spröde und gingen rasch vorüber; irgendwie hatten sie etwas von trockenem Herbstlaub, das von einer schwachen Brise über einen Bürgersteig geweht wird. Als die Geräusche zum dritten Mal einsetzten, wurde ihm klar, dass sie von der Decke kamen, nicht direkt über ihm, sondern weiter hinten im Keller.

Hier war das gelbe Licht nicht so hell wie in dem Raum mit dem Pool. Da, wo Schatten waren, und das war hier beinah überall, waren sie so dicht und samtig, dass es fast möglich erschien, sie zu packen und wie einen Tarnumhang um sich zu ziehen.

Er konnte hier doch nicht einfach stehen bleiben und lauschen, wie das Rascheln über seinem Kopf in kurzen Aktivitätsschüben näherkam. Er musste das Mädchen finden und von hier verschwinden, ehe sich etwas von der hohen Decke löste und ihm den Kopf abbiss. Er wagte es, »Iris« zu hauchen, als er sich dem Ende einer weiteren Gerätereihe näherte.

Winny hatte die Furcht inzwischen hinter sich gelassen. Das hieß nicht etwa, dass er keine Angst mehr hatte. Nach der bloßen Furcht kamen viel schlimmere Ängste. Er wusste jetzt, was der derbe Ausdruck, dass einem »der Arsch auf Grundeis geht«, wirklich zu bedeuten hatte. Jetzt befürchtete er nicht mehr, sich in die Hose zu scheißen, sondern kniff seine Pobacken schon so lange so fest zusammen, dass er, falls er überlebte, bestimmt einen Monat lang Verstopfung haben würde. Für kurze Zeit hatte ihn eine Art jugendlicher Abenteuerlust angetrieben und er hatte sich gegruselt, aber die Furcht hatte ihm nicht die Eingeweide zusammengeschnürt. Ohne es wirklich zu merken, hatte er die Grenze vom Gruseln zum echten Grauen überschritten, wahrscheinlich deshalb, weil seine Intuition ihm sagte, was seine Augen und Ohren ihm nicht mitteilten – dass er immer näher an etwas herankam, was ihm die Kehle herausreißen würde.

Selbst wenn er die samtigen Schatten wie einen Tarnumhang um sich hätte ziehen können, hätte er es nicht getan, weil er sich sicher war, dass sich bereits etwas Feindseliges darin eingehüllt hatte und auf ihn lauerte.

Als er um die Ecke in den nächsten Gang zwischen zwei Reihen von Geräten einbog, sah er Iris vor einer riesigen Blase oder Pustel stehen, die sich in der Ecke bildete, wo zwei Wände aufeinanderstießen. Sie war etwa einen Meter zwanzig breit und gut zwei Meter hoch und wölbte sich aus der Ecke heraus, als sei sie ein gigantischer Wasserball. Die Pustel schimmerte schwach, nicht annähernd so hell wie das Pilzlicht und mehr grün als gelb, und man brauchte keine gruselige Musik, um zu wissen, dass sie großen Ärger machen würde.

Winny wollte Iris nicht überraschen, damit sie nicht vor Schreck floh, aber er wollte sich ihr auch nicht lautstark ankündigen. Er schlich also näher an sie heran, kam ihr aber nicht nah genug, um sie zu berühren, wenn er eine Hand ausstreckte, weil die Aussicht, berührt zu werden, vielleicht ausreichen würde, um sie erneut in die Flucht zu schlagen.

Das Gesicht des Mädchens hatte ein zombiehaftes Grün angenommen, aber nur weil das bleiche Licht der Blase darauf fiel. Ihre Augen waren weit aufgerissen und auch in ihnen leuchtete dieses gespenstische Licht. Ihre Lippen bewegten sich, als spräche sie mit jemandem, aber sie gab keinen Laut von sich.

Etwa aus der Mitte des langen Kellerraums kam das Rascheln von der Decke, als rücke etwas stückweise vor, vielleicht einen halben Meter, ehe es wieder stillhielt, um zu lauschen.

Während Winny versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, was er sagen könnte – sein übliches Problem –, sah er sich die Blase genauer an und stellte fest, dass es sich um eine feuchte und straff gespannte Membran handelte, die von einem Aderngeflecht durchzogen zu sein schien, durchscheinend, aber nicht durchsichtig. Das Licht in ihrem Inneren war sehr schummrig, doch er entdeckte etwas darin, etwas Großes und Seltsames.

Dann war die Blase also eine Art Gebärmutter. Früher oder später würde etwas herauskommen. Er hoffte, später.

Iris bewegte weiterhin lautlos ihre Lippen. Da sie nicht wirklich etwas sagte, fragte sich Winny, ob sie vielleicht die Worte bildete, die etwas in der Blase ihr telepathisch sandte.

»Iris«, flüsterte er, und sie drehte den Kopf zu ihm um.

Nachthaus
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