Sparkle Sykes
Während sie im Wohnzimmer der Cupps an einem der Fenster stand und beobachtete, wie sich die Steppe aus phosphoreszierenden blassgrünen Gräsern im Mondschein wiegte, als würden ihre Richtungswechsel durch ein träges Metronom bestimmt, und dem eindringlichen Gespräch der anderen lauschte, hatte Sparkle das sichere Gefühl, sie würde das lebend überstehen, denn dies sei, wie auch immer sie einst sterben sollte, weder die Nacht noch der Ort dafür.
Wenn irgendeine Macht, die kolossal genug war, um die Realität zu verändern, sie hierherbringen konnte, wo auch immer hier sein mochte, dann konnte diese Macht sie auch wieder dorthin zurückbringen, wo sie hergekommen waren, an den Ort, an den sie gehörten. Lebensverändernde Blitze von der metaphorischen Sorte konnten serienweise einschlagen, ebenso wie die echte Sorte, die erst ihren Vater und dann ihre Mutter getötet hatte.
Eine Ahnung des Unheimlichen ließ ihren Nacken kribbeln, aber das war eine Reaktion auf die tiefe Fremdartigkeit der Kulisse, nicht ein Symptom ihrer Furcht. Sie hatte keine Angst um sich. Ihr Leben war derart mit Schicksalsschlägen durchwoben, dass sie sich schon vor langer Zeit notgedrungen in ihr Los gefügt hatte und da Einfluss nahm, wo sie es konnte, aber nicht bereit war, sich Sorgen über den Rest zu machen. Sie hatte sich nur die Furcht vor dem Blitz gestattet, der ihren Vater und ihre Mutter getötet hatte, und jetzt lag sogar dieses Grauen hinter ihr. Falls sie sich plötzlich in dem zauberhaften Pendleton wiederfinden würden, das so war, wie es sein sollte, und ein heftiges Unwetter über der Stadt tobte, würde sie nach unten in den Innenhof gehen, sich dort hinstellen und ruhig und voller Zuversicht zum Himmel aufblicken und darauf vertrauen, dass, wie auch immer es ihr bestimmt war, den Tod zu finden, er sie nicht vor dem Moment ereilen würde, der schon von ihrer Geburt an festgelegt war.
Professor Talman Ringhals, eine Meskalinvergiftung, Iris und andere metaphorische Blitzschläge hatten Sparkle neue Pfade durch das Leben gebahnt und dieses bizarre Ereignis war nur das neueste. Sie akzeptierte es rascher als ihre Nachbarn, weil sie schon seit Monaten das Gefühl gehabt hatte, ein weiterer Blitzschlag sei überfällig.
Vor fast dreizehn Jahren, als sie festgestellt hatte, dass sie mit Iris schwanger war, hatte ihre kleine Erbschaft nicht mehr für ihre Lebenshaltungskosten und die Studiengebühren ausgereicht. Sie war vom College abgegangen und hatte vorgehabt, sich einen Job als Empfangsdame oder Büroangestellte zu suchen. Obwohl sie noch nie ein Lotterielos gekauft hatte, kaufte sie zwei am selben Tag, und für das zweite wurden ihr bereits eine Woche später 245 000 Dollar ausbezahlt. Nach Abzug der Steuern genügte das, um sie trotz der Extra-Aufwendungen, die für Iris erforderlich waren, über vier bis fünf Jahre zu bringen. Daher beschloss sie, ihr Studium nicht wieder aufzunehmen, und stattdessen wandte sie sich der Arbeit zu, von der sie sich schon kurz nach jener stürmischen Nacht, in der sie verwaist war, erhofft hatte, ihr nachgehen zu können.
Drei Jahre nach dem Lotteriegewinn wurde Sparkle von einer neuen Form von Blitzschlag getroffen, als ihre Arbeit spektakulären Anklang fand, woraufhin sie beschloss, diese Welt sei ein äußerst geheimnisvoller und verzauberter Ort mit gelegentlichen grauenvollen Episoden, um ihm Struktur zu geben. Der Tod war lediglich der Eintrittspreis, und billig, wenn man bedachte, was man dafür alles bekam. Sich vor dem Tod zu fürchten, hieß, sich auch vor dem Leben zu fürchten, was dem Leben an sich jeglichen Sinn raubte.
Bis zu dem unwahrscheinlichen Vorfall heute Abend hatte sie sich nur die Furcht vor dem Blitz gestattet, weil sie das Gefühl hatte, wenn man nicht um sich selbst bangte, führe man die Parzen in Versuchung und fordere Schicksalsschläge heraus. Da sie sich jetzt vor nichts mehr fürchtete, blieb ihr nur noch die Furcht um Iris, denn das Mädchen schien ein Blitzableiter zu sein, auf den sich die Parzen konzentrierten, wenn sie schlecht gelaunt waren. Ihre Tochter zu verlieren könnte der Schlag sein, der auch Sparkle tötete, denn es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, wie sie sich noch von der Welt verzaubern lassen könnte, wenn dieses schwierige, aber vollkommen unschuldige Mädchen ihr genommen würde.
Iris stand etwas abseits von ihrer Mutter mit dem Rücken zu den Fenstern und der Junge, Winny, blieb in ihrer Nähe, hielt aber gerade genug Abstand, um deutlich zu machen, dass er ihr Bedürfnis verstand, einen gewissen persönlichen Freiraum zu gewährleisten, eine Verteidigungslinie gegen die Welt. Winny hatte etwas an sich, was Sparkle nicht genau definieren konnte, ein einnehmendes Wesen, das ihm eines Tages helfen würde, seine Schüchternheit zu überwinden.
Obwohl es ihn sichtlich Mühe kostete, trug der Junge sogar etwas zu der Gruppendiskussion bei, indem er die Parallelwelten erwähnte, über die er in einigen seiner Lieblingsbücher gelesen hatte, andere Erden, die Seite an Seite mit unserer existierten, manche von ihnen kaum abweichend, andere dagegen radikal anders.
Sparkle las keine Romane dieser Sorte. Aber schon seit einigen Jahrzehnten wurde die Kultur in Büchern und Filmen derart von Fantasy dominiert, dass es ausgeschlossen war, nicht doch irgendwie mit den Konzepten des Genres vertraut zu sein, die ihre Nachbarn jetzt eines nach dem anderen ansprachen und zu bedenken gaben. Sie redeten hektisch miteinander und fielen sich gegenseitig ins Wort, bis sie sich an ein Star Trek-Klubtreffen erinnert fühlte, in das sie im College eines Abends versehentlich geraten war, wo über die wahre Natur der Klingonen oder ein gleichermaßen tiefgründiges Thema mit einer solchen Leidenschaft und in einer so pseudowissenschaftlichen Sprache diskutiert wurde, dass sich die zwei Dutzend Teilnehmer nur halbwegs verrückt anhörten.
Sparkle schlang ihre Arme umeinander, um ein inneres Frösteln abzuwehren, als sie sich von dem Fenster und der gespenstischen Niederung dort draußen abwandte und sich zu ihren Nachbarn umdrehte. Mit Ausnahme der beiden Kinder, die sich etwas abseits hielten, standen die anderen – Dr. Kirby Ignis, Bailey, Twyla und die Cupp-Schwestern – im Kreis herum. Es gab keine Sitzgelegenheiten und der hölzerne Boden war zersplittert, schmutzig und da und dort von ekligem Schimmel überzogen.
Aufgrund seines großväterlichen Gebarens, das beruhigend wirkte, aber auch durch die Beteuerung, Parallelwelten seien theoretisch und seiner Meinung nach äußerst problematisch, übernahm Dr. Ignis, den Sparkle nicht besonders gut kannte, die Führung. Er sagte: »Das Konzept kam überhaupt erst als eine Art verzweifelte Erklärung dafür auf, warum unser Universum akribisch geordnet ist, um Leben unvermeidlich zu machen.«
»Weshalb sollte jemand dafür eine Erklärung brauchen?«, fragte Edna Cupp. »Was ist, das ist, so einfach ist das.«
»Ja, aber verstehen Sie, es gibt zwanzig universelle Konstanten, von Plancks kleinstmöglichen Zeit- und Raumquanten bis hin zur Feinstruktur der Schwerkraft, und wenn auch nur eine von ihnen minimal von dem abweichen würde, was sie ist, wäre das Universum ein wüster, chaotischer Ort, der nicht in der Lage wäre, Galaxien, Sonnensysteme oder Planeten zu bilden, nicht in der Lage wäre, irgendeine Lebensform zu erhalten. Die Wahrscheinlichkeit eines Universums, das so gastlich ist wie unseres … nun ja, das ist unmöglich, die Chancen stünden Billionen von Billiarden zu eins.«
»Was ist … ist«, wiederholte Edna.
»Ja, aber die enorm spezifische Natur dieser Konstanten weist auf einen Entwurf hin, sie beharrt sogar darauf. Die Wissenschaft darf und will sich mit der Vorstellung eines Gestalters des Universums nicht abfinden.«
»Ich kann mich ohne Weiteres damit abfinden«, beteuerte Edna.
»Mir geht es um Folgendes«, fuhr Ignis fort. »Die Wahrscheinlichkeit, dass alle zwanzig universellen Konstanten so sind, wie sie sind, ist so gering, dass manche Physiker, um unser lebenserhaltendes Universum zu erklären, ohne Zuflucht zu einem Konstrukteur zu nehmen, davon ausgegangen sind, es müsse eine unendliche Anzahl von Universen geben und nicht nur unseres. Wenn unter Billionen und Aberbillionen von Universen eines – nämlich unseres – mit diesen zwanzig Konstanten ist, die genauso eingestellt sind, dass sie Ordnung und Leben erhalten, dann ist es wahrscheinlich, dass wir das Produkt des Zufalls und nicht das eines Schöpfers sind.«
Mit einer verächtlichen Geste schmetterte Ignis diese Theorie ab, wie er eine lästige Fliege verscheucht hätte, und fuhr fort: »Was auch immer Sie glauben möchten – es ist Zeitvergeudung, sich zu sagen, wir könnten in eine Parallelwelt transportiert worden sein. Das hier ist unser Universum, unsere Erde, zu irgendeinem Zeitpunkt in der fernen Zukunft. Die Dinge, die einige von Ihnen gesehen haben, die fremdartige Landschaft, die wir alle draußen vor diesen Fenstern gesehen haben, sind entweder die Produkte von Hunderttausenden von Jahren Evolution oder sie sind das Ergebnis eines unvorstellbar katastrophalen Ereignisses, das in wenigen Jahrhunderten weltweite Veränderungen nach sich gezogen hat.«
»Dieses Pendleton ist in einem beklagenswerten Zustand«, sagte Martha Cupp, »aber es es steht noch nicht einmal seit einigen Jahrhunderten hier und ganz bestimmt nicht seit Hunderttausenden von Jahren.«
»Die Stadt ist verschwunden«, rief ihr Ignis ins Gedächtnis zurück. »Eine Metropole bricht nicht innerhalb von Jahrzehnten zusammen, zerbröckelt und weicht einer Steppe.«
»Aber warum steht das Pendleton noch – und nichts anderes mehr?«, fragte Bailey Hawks. Er wies auf die sieben von den zwölf bronzenen Wandleuchtern, die offensichtlich nach dem Verkauf der Wohnung der Cupps an einen neuen Eigentümer angebracht worden waren und immer noch Licht spendeten. »Woher kommt der Strom? Und warum sollten diese Glühbirnen nach Jahrhunderten noch funktionieren? Gibt es in dieser Zukunft noch Menschen? Wenn ja, wo sind sie? Wenn es keine Menschen gibt … wer erzeugt dann die Elektrizität?«
Sie sahen einander an, aber niemand stellte eine Theorie auf.
Dann sagte Twyla: »Wir sind doch nicht auf Dauer hier, oder? Das kann nicht sein. Es muss einen Weg nach Hause geben.«
»Die Tür, die nach Hause führt, wird keine sein, die wir nach Belieben öffnen können«, sagte Dr. Ignis. »Ebenso wenig, wie wir die geöffnet haben, die uns hierhergeführt hat. Sie wird tun, was sie tun wird, wenn die richtigen Bedingungen eintreten.«
»Was für Bedingungen?«, fragte Twyla.
Dr. Ignis schüttelte den Kopf. »Das weiß ich auch nicht.«
Twyla sagte: »Und warum haben nur Menschen diesen … diesen Sprung gemacht?«
»Menschen und Katzen«, sagte Edna, als zwei schöne graublaue Katzen misstrauisch aus einem anderen Raum hereinkamen. Sie hob eine von ihnen auf und schloss sie in ihre Arme. Ihre Schwester wollte ihre Pistole nicht weglegen, um mit der anderen zu schmusen, und daher ließ sie sich von Dr. Ignis vom Boden hochheben.
»Katzen und Menschen«, sagte Twyla. »Und alles, was wir anhaben oder bei uns tragen. Aber sonst nichts.«
»Jedes Lebewesen erzeugt ein schwaches elektromagnetisches Gleichstromfeld«, sagte Dr. Ignis. »Vielleicht hat es etwas damit zu tun. Alles, was sich unmittelbar im elektromagnetischen Feld eines Lebewesens befindet, könnte betroffen sein.«
»Es sind schon früher Menschen aus dem Pendleton verschwunden«, erklärte Martha Cupp. »Andrew Pendletons Kinder, damals im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert.«
»Wurden die nicht entführt?«, fragte Sparkle.
Martha sagte: »Die Ehefrau und die beiden Kinder. Es hieß, sie seien entführt worden, aber sie wurden nie wieder gesehen. Sie blieben verschwunden. Die Einzelheiten kenne ich nicht. Silas Kinsley. Er wohnt nebenan. Er ist der selbst ernannte Historiker des Pendleton. Er hat einmal etwas über Gewalt gesagt, die hier alle … ich glaube, er sagte, alle achtunddreißig Jahre auftritt. In meinen Ohren klang das sehr nach üblen Schundblättern und ich habe ihn nicht ermutigt weiterzureden. Doch ich glaube, jetzt sollten wir besser mit Silas reden.«
Dr. Ignis sagte: »Wir werden alles auskundschaften müssen. Je weniger wir unsere Lage verstehen …« – er warf einen Blick auf die Kinder – »… desto unwahrscheinlich ist, dass wir das so gut überstehen, wie es uns lieb wäre.«
»Sally«, sagte Edna Cupp. »Sally Hollander. Sie hat das, wovon sie behauptet hat, sie hätte es im Geschirrkabinett gesehen, tatsächlich gesehen. Sie ist allein unten im Erdgeschoss. Wir müssen sie holen.«
»Wir werden sie holen«, sagte Bailey. »Wir sollten das Gebäude von oben bis unten durchsuchen, um herauszufinden, wer sich sonst noch hier aufhält. Vielleicht sind wir nicht wirklich sicherer, wenn wir mehr Leute sind, aber es gibt einem zumindest das Gefühl von Sicherheit.«
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