Dr. Kirby Ignis
Im Regenmantel und mit einem Schirm unter dem Arm schloss Kirby, der für die Verabredung zum Abendessen mit seinem Kollegen im Topper’s schon spät dran war, in dem Moment seine Wohnung im ersten Stock ab, als eine Schockwelle durch das Gestein rollte, auf dem das Pendleton erbaut war. Die Firma, die man mit den Sprengungen auf der anderen Seite von Shadow Hill beauftragt hatte, waren wohl später als gewöhnlich zugange. Es wunderte ihn, dass jemand bereit war, Überstunden zu bezahlen, um in dieser grauenhaften Wirtschaftslage ein Hochhaus zu bauen, aber er nahm an, sie erwarteten in ein paar Jahren einen Umschwung.
Als er forsch auf das westliche Ende des nördlichen Hausflurs zulief, hatte er noch chinesische Opernklänge im Ohr. Kirby summte ein paar Takte seiner Lieblingsarie.
Die Nachbarn in 2-E, Cheryl und Henry Cordovan, die seit dem letzten Samstag in Europa waren und erst in zwölf Tagen zurückerwartet wurden, hatten Biscuit, ihren Springerspaniel, bei ihrem Sohn und seiner Familie gelassen. Kirby vermisste den Hund. Zweimal in der Woche, wenn die Cordovans zum Abendessen ausgingen und Kirby die Absicht hatte, zu Hause zu essen, ließen sie Biscuit für ein paar Stunden bei ihm. Der Spaniel war so goldig, wie es ein Hund nur sein konnte, und Kirby hatte ihn gern um sich.
Bis vor drei Jahren hatte er seinen eigenen Gefährten gehabt, eine Hündin namens Lucy, doch der Krebs hatte ihm den schwarzen Labrador genommen. Der Verlust hatte Kirby derart zugesetzt, dass er erst seit kurzer Zeit daran dachte, vielleicht doch einen neuen Hund in sein Leben zu lassen und neuerlichen Kummer zu riskieren. Tropische Fische waren hübsch anzusehen, aber wenn man sich nach Gesellschaft sehnte, taugten sie nicht viel.
Wenn er auf einem bequemen Sofa saß, eine Hundeschnauze auf dem Schoß hatte, dem Hund die Ohren rieb und seinen Kopf streichelte, konnte Kirby klarer denken und weitere Durchbrüche in der Theorie und der Technologie erzielen, die dem Ignis-Institut zu Erfolg verhalfen. Ein guter Hund brachte tiefen Frieden mit sich, der zu geistigen Höhenflügen anregte und Problemlösungen noch mehr begünstigte als Musik oder das anmutige Spektakel schwimmender Fische.
In den letzten drei Jahren hatte er alle Arten von Hunderettungs-Initiativen mit beträchtlichen Geldsummen unterstützt, sich auf Animal Planet Hundesendungen angesehen und sich an zwei Abenden in der Woche um Biscuit gekümmert, aber als er jetzt zum nördlichen Aufzug ging, beschloss er, sich noch vor Weihnachten einen neuen Gefährten zuzulegen. Oft glaubte er, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn Hunde die klügsten Geschöpfe auf dem Planeten wären und wenn sich die Menschen mit all ihrem Stolz, ihren Begierden und ihrem Hass nie entwickelt hätten.
Als sich die Türen des Aufzugs öffneten, trat ein großer Mann in einem Abendanzug heraus. Er hielt sich wie eine vornehme Persönlichkeit auf einer prunkvollen Veranstaltung. Die Natur hatte ihm ein distinguiertes Gesicht mitgegeben, eine Patriziernase, Augen so blau wie reines, tiefes Wasser, eine hohe Stirn und schneeweißes Haar.
Kirby trat verblüfft zurück. Das Hemd und das Gesicht dieses Fremden waren mit Blut bespritzt. »Sir, fehlt Ihnen etwas? Sie sind verletzt.«
Der Abendanzug war schmutzig, zerknittert und stellenweise zerrissen, als sei der Mann in ein Handgemenge geraten, vielleicht auf der Straße überfallen worden – aber andererseits war er nicht vom Regen durchnässt. Anscheinend bestürzt sah er sich im Hausflur um, blickte auf die Doppeltüren von Twyla Traherns Wohnung zu seiner Linken und dann zur Tür von Hawks’ Wohnung, die direkt vor ihm lag. »Was ist das für ein Ort? Es ist das Belle Vista … und ist es doch nicht.«
In seiner Stimme schwang mehr als nur eine Spur von Verwirrung mit. Außerdem bebte sie vor Angst und vielleicht sogar Verzweiflung.
Auf den zweiten Blick sah Kirby, dass das vornehme Gesicht bleich und abgespannt wirkte. Grauen schlich sich in die erschrockenen blauen Augen.
»Was ist Ihnen denn zugestoßen?«, fragte Kirby.
»Dieser Ort … Wo ist das? Wie bin ich hierhergekommen? Wo bin ich?«
Kirby trat vor, um den Mann mit den Blutspritzern am Arm zu nehmen, denn er schien wacklig auf den Beinen zu sein und eine Stütze zu brauchen.
Ehe Kirby ihn berühren konnte, hob der Fremde abwehrend beide Hände, die von glitschigem Blut bedeckt waren. »Fast hätten wir es geschafft, alle unberührt …«, murmelte er, »doch dann die Sporen.«
Kirby wich wieder zurück und sagte: »Sporen?«
»Zeuge hat gesagt, sie seien von einer gutartigen Sorte und wir hätten nichts zu befürchten. Aber er ist ein Teil von alldem und man darf ihm nicht glauben.«
Der Blick des Mannes wanderte weiter über die Wände und die Decke, und sein Gesicht verzog sich bekümmert, als wiche seine Ratlosigkeit rasch einer tiefer greifenden Verwirrung und sein Wahrnehmungsvermögen, sein Gedächtnis und seine Vernunft entglitten ihm.
»Ich habe sie alle getötet. Den Herrn und die Herrin, die Kinder, das Personal.«
Bei genauerer Betrachtung sah Kirby, dass es sich bei dem Anzug nicht um einen gewöhnlichen Smoking handelte. Er sah eher nach einer eleganten Livree aus, die ein Dienstbote von hohem Rang tragen mochte.
»Sie waren infiziert, da bin ich mir sicher, deshalb musste ich sie alle töten, sogar die wunderschönen Kinder, Gott steh mir bei, ich musste sie alle töten, um die Welt zu retten.«
Ein plötzliches Gefühl von Todesgefahr überwältigte Kirby und er wich mit klopfendem Herzen vor dem Mann zurück, zu der Tür, die zum nördlichen Treppenaufgang führte.
Der Butler, falls er das war, schien keinerlei Interesse an Kirby zu haben, und ihm schien keine Spur von Böswilligkeit geblieben zu sein. Er sagte: »Jetzt muss ich mehr Munition holen, damit ich mich selbst umbringen kann.« Während er durch den Flur lief, begann er durchsichtig zu werden, als sei er nie wirklich vorhanden gewesen, sondern nur eine geisterhafte Erscheinung. Er verschwand durch die Wand, in Hawks’ Wohnung.
Obwohl Kirby nicht an Gespenster glaubte, konnte das eines gewesen sein – bis auf das Blut, das von den Händen des Mannes getropft war und Flecken auf dem Läufer im Flur hinterlassen hatte.
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