18 Apartment 1-C
Am früheren Nachmittag, ehe sie im Geschirrkabinett dem Dämon begegnet war, hatte Sally Hollander das Abendessen für Martha und Edna zubereitet, und jetzt wollte sie für heute Schluss machen und gehen. Alles stand im Kühlschrank und musste nur noch aufgewärmt werden. Die Kreatur – der Geist oder was auch immer –, die sie gesehen hatte, beschränkte sich vielleicht nicht darauf, in der Wohnung der Cupps herumzuspuken; sie könnte neben ihr auftauchen, nachdem sie sich in den hintersten Winkel der Erde begeben hatte, um ihr zu entkommen. Dennoch würde sie sich in ihrer eigenen Wohnung sicherer fühlen. Wenn sie Zeit hatte, über das, was sie gesehen hatte, nachzudenken, ohne sich Ednas Erklärungen anhören zu müssen, von denen eine abgefahrener war als die andere, würden sich ihre Nerven wahrscheinlich wieder beruhigen und sie würde den Mut aufbringen, am Morgen wieder zur Arbeit zu erscheinen.
Bailey Hawks bot an, sie zu ihrer Wohnung zu begleiten, der hintersten Wohnung im Nordflügel des Erdgeschosses. Diese Wohneinheit gehörte den Cupp-Schwestern und sie wohnte dort umsonst. Sie sorgten gut für sie und sie konnte sich nicht vorstellen, was sie ohne sie täte; daher musste sie in der Behaglichkeit und Abgeschiedenheit ihres eigenen Zuhauses für sich selbst klarstellen, was vorgefallen war.
Sally war kein Schwächling. Sie hatte schon schlimmere Schrecken überstanden als das Ding im Geschirrkabinett. Trotzdem nahm sie Baileys Angebot erleichtert und dankbar an.
Als sie im Aufzug vom zweiten Stock ins Erdgeschoss fuhren, verloren sie kein Wort über ihre außergewöhnliche Begegnung, sondern sprachen voller Zuneigung über die Cupps. Sie und Bailey waren etwa im selben Alter und immer locker miteinander umgegangen; sie hatten sich von Anfang an benommen wie alte Freunde. Sally mochte ihn und glaubte, dass auch er sie mochte.
Gelegentlich fragte sie sich, wie sie wohl in einer Beziehung miteinander zurechtkämen, aber es war nicht ihre Art, die Initiative zu ergreifen und eine Romanze anzubahnen. Sie war nicht zaghaft, obwohl sie sich eingestand, dass sie ein bisschen was von einem Mauerblümchen hatte. Und da die Cupps Baileys Klienten waren, nahm Sally an, er hielte es für unangebracht, mit ihr auszugehen.
Die Liebe hatte sie schon einmal enttäuscht und sie war zwanzig Jahre lang bestens ohne sie zurechtgekommen. Sich zu verlieben konnte wie der Sturz von einer Klippe sein – kein Wasser darunter, aber jede Menge Felsen.
Früher war sie einmal verheiratet gewesen. Ihr Ehemann Vince war Musiker, Gitarrist einer Combo, die zum Glück ständig Engagements in Nachtklubs und auf privaten Partys bekam. Manchmal begann Vince in den Pausen der Band zu trinken, schüttete nach dem Auftritt noch mehr von seinem liebsten Gift in sich hinein und kam vollständig abgefüllt nach Hause. Er wollte Sex, war aber zu alkoholisiert, um einen hochzukriegen, und in seinem Frust wandte er sich dem zu, was er »das Zweitbeste« nannte, eine Mischung aus körperlicher und seelischer Misshandlung.
Beim ersten Mal hatte er sie überrumpelt. Er packte mit einer Faust ihr Haar und zog so fest daran, dass ihr Tränen in die Augen traten, ohrfeigte sie wiederholt und setzte seinen Körper ein, um sie in eine Ecke zu drängen und sie so fest gegen die Wand zu stoßen, dass sie glaubte, ihre Wirbelsäule würde brechen, wenn er nicht von ihr abließ. Während er sie bearbeitete, bedachte Vince sie mit den abscheulichsten Schimpfwörtern, weil er die Absicht hatte, ihr ebenso viel Kränkung wie Schmerz zuzufügen, und sie war so schockiert und verwirrt, dass sie sich nicht wehrte.
Es war ihr peinlich, sich daran zu erinnern, dass sie eine Zeitlang geglaubt hatte, ein Teil der Schuld an diesem Vorfall müsse bei ihr liegen. Der nüchterne Vince, ein sanfter und umgänglicher Musiker, schien bis auf seine Eifersucht keine Fehler zu haben, und für die entschuldigte er sich sogar oft. Der betrunkene Vince dagegen war Mr. Hyde hoch zwei und entschuldigte sich für nichts. Als es das zweite Mal passierte, leistete sie Widerstand – und musste erfahren, dass er viel stärker war, als sie geglaubt hatte, und dass Widerstand ihn noch mehr anstachelte. Aus Ohrfeigen wurden Hiebe und er weidete sich genüsslich an dem tätlichen Angriff. Als er fertig war und sie mit blauen Flecken und blutend vor seinen Füßen lag, sagte er: »Ich hätte Schlagzeuger werden sollen, so, wie ich dich gerade bearbeitet habe.« Er schwor ihr, wenn sie ihn jemals verließe, würde er sie umbringen.
Schließlich floh sie vor Vince, ließ sich scheiden und begann ein neues Leben. Die Cupp-Schwestern versorgten sie nicht nur mit einem guten Gehalt, sondern auch mit Familienanschluss. Sally hatte innerhalb von ein paar Monaten aus tiefer Verzweiflung zu einer gewissen Zufriedenheit gefunden, von Selbstverachtung zu Selbstachtung. Ein so weiter Weg in so kurzer Zeit, daher würde ihr immer bewusst sein, dass das Leben ebenso plötzlich eine Wendung zum Schlechteren nehmen konnte wie zum Besseren.
Als Sally vor ihrer Wohnungstür den Schlüssel im Schloss umdrehte, sagte Bailey: »Wäre Ihnen wohler zumute, wenn ich mit reinkäme, bis Sie sich vergewissert haben, dass alles … in Ordnung ist?«
Seine Frage erinnerte sie wieder daran, wie ernsthaft er sich ihre Geschichte in der Küche der Cupp-Schwestern angehört hatte, ohne ein ungläubiges Wort oder den geringsten Ausdruck von Zweifel oder Belustigung. Jetzt sah sie ihm eine Anspannung an, die ihr vorher nicht aufgefallen war, eine nicht vollständig verborgene Wachsamkeit, mit der er den Flur vor ihrer Tür im Auge behielt und die er auch nicht ablegte, als sie die Schwelle überquerten und in ihre Diele traten, als glaubte er voll und ganz an die Möglichkeit einer Bedrohung in diesem sichersten aller Wohnhäuser.
Wenn das der Fall war, war sie nicht dumm genug sich einzubilden, ihre Geschichte von dem Dämon im Geschirrkabinett sei derart elektrisierend gewesen, dass sie einen unerschütterlichen Investmentberater und früheren Marine davon überzeugt hatte, hier sei etwas Übernatürliches im Gange. Er würde nur dann auf der Hut sein, wenn er selbst etwas erlebt hatte, was ihre Geschichte bekräftigte.
»Das ist nett von Ihnen, Bailey. Und ich nehme Ihr Angebot gern an. Ich bin immer noch ein bisschen … zittrig.«
Sowie sie in ihrer Wohnung waren, übernahm er unauffällig die Führung, blieb an ihrer Seite und manövrierte sie nicht in der Reihenfolge durch die Räume, die sie gewählt hätte, sondern hielt sich stattdessen vielleicht an die Strategien, die man ihm beim Militär beigebracht hatte. Er schien nicht zu glauben, dass er eine gefährliche Durchsuchung vornahm, denn er behielt weitgehend die Haltung eines freundlichen Nachbarn bei, der sich mehr um ihren Seelenfrieden sorgt als um eine echte Gefahr, in der sie schweben könnte, doch Sally nahm trotzdem die Ernsthaftigkeit wahr, mit der er diese Aufgabe absolvierte.
Er schaltete nicht nur die Deckenbeleuchtung an, sondern auch eine Lampe nach der anderen, und als sie auch im letzten Raum keinen Eindringling gefunden hatten, sagte er: »Sie sollten vielleicht besser alle oder die meisten Lichter brennen lassen, bis Ihre Nerven sich beruhigt haben und Sie sich wieder rundum wohlfühlen. Ich täte das an Ihrer Stelle, das ist doch ganz natürlich.«
Als sie wieder in der Diele standen und Bailey seine Hand auf den Türknopf legte, sagte Sally: »Was haben Sie gesehen?«
Er schaute sie an, als wollte er sagen, er verstünde ihre Frage nicht, doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Nicht das, was Sie gesehen haben. Aber etwas … Sonderbares. Ich denke noch darüber nach und verarbeite es. Hören Sie, sind Sie wirklich sicher, dass Sie allein hierbleiben wollen? Martha und Edna brächten Sie bestimmt gern für eine Nacht in ihrem Gästezimmer unter.«
»Ich weiß. Aber ich lebe seit fast zwanzig Jahren in dieser Wohnung. Wenn ich hier nicht sicher bin, dann wäre ich es nirgendwo. All meine Sachen sind hier, meine besten Erinnerungen. Im Moment brauche ich nur das Gefühl, dass alles so ist, wie es sein sollte – normal, ganz gewöhnlich. Mir fehlt nichts. Das wird schon wieder.«
Er nickte. »In Ordnung. Aber rufen Sie mich an, falls Sie Hilfe brauchen. Ich komme sofort runter.«
Fast hätte sie ihn gebeten, noch ein Weilchen zu bleiben, aber wenn sie mit Bailey allein wäre, könnte sie vielleicht nicht verbergen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Vielleicht würde sie es gar nicht vor ihm verbergen wollen. In all diesen Jahren, die sie allein verbracht hatte, war sie nicht einsam gewesen, doch manchmal sehnte sie sich nach einem zärtlichen Gefährten. Falls er ihr Interesse bemerkte und nicht darauf reagierte, käme sie sich töricht vor und wäre beschämt. Aber wenn er darauf reagieren würde, war sie sich andererseits nicht sicher, ob sie sich auf mehr als eine platonische Freundschaft einlassen konnte. Vor ihrer Ehe mit Vince hatte sie nur wenige und sehr unschuldige Erfahrungen mit der Liebe gemacht, und nachdem sie Vince überlebt hatte, würde sie vielleicht feststellen, dass jede Aussicht auf körperliche Liebe von der, wenn auch sehr unwahrscheinlichen Möglichkeit überschattet wurde, eine Saat der Gewalttätigkeit warte nur darauf, durch eine Beziehung befruchtet zu werden.
Sie bedankte sich also bei Bailey für seine Freundlichkeit, schloss die Tür und schob beide Riegel vor. Sie war zu Hause, in ihrem Nest, einem Nest für eine Person, und sie war froh, hier zu sein, wo sie mit allem vertraut und alles sorgsam gepflegt war, wo niemand, der gelobt hatte, sie zu lieben und zu ehren, nur darauf wartete, sein Gelübde zu brechen.
Sie musste zur Ruhe kommen und nichts beruhigte sie mehr als die Zubereitung eines delikaten Desserts. In der Küche ging sie als Erstes zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen, nachdem sie beschlossen hatte, einen Battenbergkuchen mit Kakao und einer Hülle aus weißem Marzipan zu backen. Als Sally den Wasserhahn aufdrehte, wurde sie von hinten angegriffen. Eine Hand packte ihr Haar, eine andere schloss sich brutal um ihren linken Arm und zwang sie, sich vom Spülbecken abzuwenden und sich zu ihrem Angreifer umzudrehen. Während der Drehung dachte sie Vince, denn sie nahm an, er hätte sie nach all den Jahren doch gefunden. Aber es war der Dämon aus dem Geschirrkabinett: dieser beinah menschliche haarlose Kopf, die bleifarbene Haut, diese grässlichen grauen Augen, die mit ihrer schwarzen Iris wie bodenlose Brunnen wirkten, kräftiger als ein Mann, aber irgendwie geschlechtslos. Die aschfahlen Lippen zogen sich von spitzen grauen Zähnen zurück und die Kreatur zischte, griff mit der Schnelligkeit einer Schlange an und biss sie in den Nacken, ehe sich ihr ein Schrei entringen konnte.
Mit dem Biss ging eine sofortige Lähmung einher und Kälte durchströmte ihren Körper, gefolgt von dem Verlust jeglichen Gefühls in ihren Gliedmaßen. Ihr plötzlich starres Gesicht fühlte sich an, als sei es vom Gips einer Totenmaske umhüllt, und sie hatte keine Stimme für einen Schrei, noch nicht einmal für ein Flüstern. Sie konnte riechen und hören, sie konnte ihre Augen und ihre Zunge bewegen, sie konnte atmen und ihr Herz raste; aber wenn das Geschöpf sie losließe, würde sie schlaff und reglos auf den Boden sacken.
Ihr Grauen war so immens, dass es sie hätte lähmen können, wenn das nicht bereits durch den Biss geschehen wäre. Die Nächte der letzten zwanzig Jahre hatte sie größtenteils in einer wohltuenden, friedlichen Abgeschiedenheit allein verbracht. Erst jetzt wurde Sally Hollander von einer verzweifelten Einsamkeit überwältigt, dem Bewusstsein eines furchterregenden Abgrunds, der unter dem Leben liegt und in jedem einzelnen Moment aufzureißen und alles, aber auch alles, zu schlucken droht. Ihr unmittelbar bevorstehender Tod jagte ihr nicht annähernd so viel Angst ein wie die Aussicht, ihr Leben in einem fortwährenden Rückzug verbracht zu haben, ein Leben gelebt zu haben, das am Ende auf viel weniger hinauslief als das, was sie sich jemals erhofft hatte, ein Leben, das ohne einen Zeugen in den Armen dieser Kreatur enden würde, deren Augen die Pforten zu einer unbarmherzigen Leere waren.
Eine Zunge fuhr zwischen den spitzen Zähnen hervor, weder eine menschliche Zunge noch, wie sie erwartet hatte, die einer Schlange. Sie war grau und schimmernd, röhrenförmig hohl und ähnelte einem sehr biegsamen Gummischlauch von gut zwei Zentimetern Durchmesser. Sie flatterte vor ihr durch die Luft und glitt dann wieder in den Mund zurück, als sei es eben doch keine Zunge, sondern stattdessen ein anderes Geschöpf, das in der Kehle der größeren Kreatur hauste.
Der Dämon war mindestens zwei Meter groß und er hielt Sally in seinen starken Armen, beugte sich vor und senkte sein Gesicht auf sie herab, als hätte er vor, seine Zähne in sie zu schlagen und sie bei lebendigem Leibe zu verschlingen. Sie merkte, dass ihr Unterkiefer herunterfiel, doch es stand weiterhin nicht in ihrer Macht, den Mund zu schließen oder zu schreien. Sie war angewidert, als sich der offene Mund der Kreatur über ihren Lippen schloss, nicht etwa zu einem Kuss, sondern so, als wollte er den Lebenshauch aus ihr heraussaugen. Während die röhrenförmige Zunge über ihre eigene Zunge glitt, wurde ihr Ekel so unerträglich, dass sie fast den Verstand verlor. Als der unglaublich lange Fortsatz tief in ihren Mund und von dort aus in ihre Kehle hinunterstieß, wo etwas Kaltes und Dickes und Fauliges herausquoll und ihr die Fähigkeit zum Schlucken nahm.