26 Da und dort
Mickey Dime
Er wusste nicht, was mit den Leichen passiert war. Er wusste nicht, warum sich der Versorgungsraum verändert hatte. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte.
Nach einer Weile beschloss er, in seine Wohnung zurückzukehren. Die Fotografien von seiner Mutter, ihre Einrichtungsgegenstände, die Dinge, die sie geliebt hatte, würden ihn ihr so nah wie möglich bringen. Ihre Habseligkeiten und die Erinnerungen an sie würden ihn inspirieren. Dann würde er wissen, was zu tun war.
Und wenn das nicht klappte, war vielleicht der Zeitpunkt für Sparkle und Iris gekommen. Schließlich fühlte er sich abgewiesen, wie vor fünfzehn Jahren, als ihn die Bardame gedemütigt hatte. Jetzt lehnte ihn die Welt ab. Er war sich klein und dumm vorgekommen, als sie ihn verschmäht hatte, aber er hatte sich gleich viel besser gefühlt, nachdem er sich von ihr, ihrer Schwester und ihrer Freundin genommen hatte, was er wollte; sein Selbstwertgefühl und sein Wohlbefinden waren geradezu sensationell wiederhergestellt gewesen.
Als er aus dem Versorgungsraum trat, erwies sich der Gang im Keller als ebenso verändert wie der Raum hinter ihm. Dreckig, vermüllt. Die Hälfte der Deckenlampen brannte nicht; sie waren zerbrochen. An den Wänden und an der Decke schwammig wirkende Wucherungen, manche schwarz, andere gelb schimmernd. Die Luft roch schlecht, der absolute Gegensatz zu Limonenessenz oder Seidendessous.
Verwirrt wandte er sich nach rechts, fort von dem nördlichen Aufzug, den er brauchte. Splitter von Leuchtstoffröhren knirschten unter seinen Füßen. Seine Schritte schienen einen widerlichen, beißenden Gestank aus den Abfällen auf dem Boden aufsteigen zu lassen.
Am Wachraum und an der Hausmeisterwohnung vorbei. In der hintersten Ecke hing knapp unter der Decke ein kleiner Monitor. Konzentrische Kreise blauen Lichts breiteten sich pulsierend von der Mitte des Bildschirms aus. Nachdem Mickey acht oder zehn Schritte gemacht hatte, drang aus dem Fernseher eine Art Roboterstimme: »Erwachsene männliche Person. Braunes Haar. Braune Augen. Im Keller. Westflügel. Eliminieren. Eliminieren.«
Das ging zu weit. Das Pendleton verfiel im Handumdrehen zu einer Ruine. Der tote Jerry und Klick das Arschloch verschwanden. Nichts war mehr so, wie es sein sollte. Und jetzt ordnete irgendein Klugscheißer an, dass er abgeknallt werden sollte. So lief das aber nicht. Mickey knallte andere ab, er wurde nicht selbst abgeknallt.
Die Starken agierten, die Schwachen reagierten. Mickey agierte. Er zog seine Pistole und sprengte den blauen Bildschirm mit einem einzigen Schuss in die Luft.
Sogleich fühlte er sich besser. Er war zwar immer noch verwirrt, aber nicht mehr vollständig orientierungslos. Er merkte, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Ehe er umkehrte, beschloss er, einen Blick in den Wachraum zu werfen. Er wusste nicht, wie Vernon Klicks Leiche aus dem Versorgungsraum wieder dorthin gekommen sein könnte, aber irgendwo musste sie schließlich sein und dieser Ort war auch nicht abwegiger als jeder andere.
Als er die Tür öffnete, fand er den Wachraum ebenso verändert vor wie alles andere, doch er hatte sich nicht auf eine ähnliche Weise verwandelt. Bis auf eine dünne Staubschicht auf dem Boden war der Raum sauber. Sämtliche Lichter funktionierten. Die Kaffeemaschine und der Unterbaukühlschrank waren verschwunden. Das galt auch für die Stühle und den Arbeitsplatz. An den Wänden waren Computer, Bildschirme und Reihen von elektronischen Geräten aufgereiht, die Mickey nicht identifizieren konnte, die jedoch in der kurzen Zeit seit seinem letzten Aufenthalt bestimmt niemand installiert haben konnte.
Die Geräte surrten, tickten und blinkten emsig, als käme das System bestens allein zurecht und bräuchte keine Loser wie Vernon Klick oder Logan Spangler, um es zu überwachen. Die Leiche des Wächters war nicht da. Ebenso wenig der Waffengurt, den Mickey zurückgelassen hatte, um ihn später zu holen.
In der Staubschicht auf dem Boden waren wirre Fußabdrücke verteilt, die anscheinend alle von demselben Paar Schuhsohlen stammten.
Mickey wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Er war kein Kriminalbeamter. Er war der Typ, den die Ärsche von der Mordkommission aufspüren wollten, aber das schafften die nie. Er wusste, wie man es vermied, Spuren zu hinterlassen, aber er hatte keinen Schimmer davon, wie man einzelne Beweisstücke miteinander in Verbindung brachte, um ein Rätsel zu lösen.
Er wollte es auch gar nicht lernen. Er wollte nichts daran ändern, wer er war. Er wollte so bleiben, wie er war, denn er liebte es, so zu sein. Er bewunderte sich für das, was er war.
Wenn es so schien, als stellten neue Fakten die eigene Philosophie auf den Kopf, dann hielt man am besten weiterhin an seinem Glauben fest. Nur die Schwachen kamen von ihrem Glauben ab. Die Starken änderten die Fakten. Seine Mutter hatte gesagt, die Besten und Klügsten ändern ihre Überzeugungen nicht, um sie der Realität anzupassen. Sie verändern die Realität, damit sie sich ihren Überzeugungen anpasst. Die größten politischen Visionäre in der Geschichte der Menschheit gaben einfach nur immer mehr Geld aus, übten immer größere Macht über das Erziehungswesen und die Medien aus, eliminierten je nach Notwendigkeit immer mehr Dissidenten, bis sie die Gesellschaft so geformt hatten, dass sie zu ihrer Theorie von einer idealen Zivilisation passte. Dummköpfe werden von der Realität aufgefressen. Die Klugen legen der Realität ein Würgehalsband und eine Leine an und lassen sie bei Fuß gehen.
Jedes Mal, wenn er gehört hatte, wie seine Mom solche Dinge sagte, hatte er sich energiegeladen und elektrisiert gefühlt. Aber jetzt hatte sich die Realität plötzlich um hundertachtzig Grad gedreht und ihm wurde klar, dass er nicht wusste, wie er sie wieder unter Kontrolle bekam. Seine Mom hätte es gewusst. Sie hatte alles gewusst. Aber obwohl sie Mickey gelehrt hatte, wie man über die Realität dachte, hatte sie ihm nichts darüber beigebracht, wie man ihr ein Halsband anlegte und sie darauf abrichtete, an der Leine zu gehen. Im Moment erschien ihm die Realität so schlüpfrig wie ein fettiger Aal.
Sowie er wieder in seiner eigenen Bude war und das ganze Zeug von seiner Mutter um sich hatte, würde er vielleicht wieder klar denken können. Vielleicht hatte sie ihm ja doch alles beigebracht, was er bauchte, um in einer Situation wie dieser zurechtzukommen, nicht nur die allgemeinen Prinzipien, was man von der Realität zu halten hatte, sondern auch die speziellen Techniken, um sie zu kontrollieren. All das hatte sie ihm doch gewiss beigebracht. Er hatte es bestimmt nur vergessen. Umgeben von Andenken an sie würde sich seine Verwirrung zerstreuen, er würde sich ihre Weisheit ins Gedächtnis zurückrufen und er würde wieder wie ein Gott sein.
Er verließ den Wachraum und lief durch den langen, gespenstisch beleuchteten Korridor und an dem Versorgungsraum vorbei. Als er sich dem nördlichen Aufzug näherte, stieß ein weiterer pulsierender blauer Bildschirm dieselbe Drohung aus wie der, den er bereits abgeknallt hatte. Er knallte auch den hier ab.
Als der Aufzug auf seinen Knopfdruck reagierte und kam und die Türen auseinanderglitten, war es nicht die Kabine, mit der er vertraut war. Das Wandgemälde mit den Vögeln war verschwunden. Im Inneren bestand alles aus Edelstahl, und Paneele in der Decke verströmten ein kaltes blaues Licht. Ihm gefiel die neue Realität des Aufzugs nicht. Sie gefiel ihm überhaupt nicht.
Er beschloss, die Treppe zum zweiten Stock zu nehmen.
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