3 Der Pool im Keller

Ob gleich nach dem Aufstehen um vier Uhr morgens, wie jetzt, oder nach der Arbeit – Bailey Hawks zog es vor, seine Bahnen nur mit der Unterwasserbeleuchtung zu schwimmen, während der Rest des langen Raums im Dunkeln lag, der Pool ein riesiger funkelnder Edelstein war und helle, wässrige Spiegelungen wie lichtdurchlässige Flügel über die weißen Keramikfliesen an den Wänden und der Decke flatterten. Der angenehm warme Pool, der astringente Chlorgeruch, die Geräusche, mit denen seine Gliedmaßen das Wasser teilten, das sanfte Aufbäumen kleiner Wellen, die gegen die blassblauen Kacheln schwappten … Die angespannte Erwartungshaltung, die einem Handelstag an der Börse vorausging, und die geistig-seelische Ermattung, die auf einen solchen Tag folgte, wurden aus ihm herausgeschwemmt, wenn er seine Bahnen zog.

Er stand vor dem Morgengrauen aus dem Bett auf, um zu schwimmen, zu frühstücken und an seinem Schreibtisch zu sitzen, bevor die Märkte öffneten, aber das frühe Aufstehen war nicht der Grund für die Erschöpfung, die er jeden Freitagabend verspürte. Ein Tag, den er damit zugebracht hatte, das Geld anderer Menschen zu investieren, konnte ihn so abgekämpft zurücklassen wie ein Tag an der Front, als er noch bei den Marines gewesen war. Mit achtunddreißig war er in seinem sechsten Jahr als unabhängiger Vermögensverwalter, nachdem er im Anschluss an seine militärische Laufbahn drei Jahre lang bei einer großen Investmentbank gearbeitet hatte. Während seines ersten Jahres bei der Bank hatte er geglaubt, mit der Zeit, wenn der Erfolg seine Zuversicht stärkte, würde ihn die Verantwortung, das Anlagevermögen seiner Klienten zu schützen und zu vermehren, weniger drücken. Aber die Last wurde nie leichter. Geld konnte eine Form von Freiheit sein. Wenn er einen Teil der Investitionen einer anderen Person verlor, wäre das gleichbedeutend damit gewesen, einen bestimmten Teil der Freiheit dieses Klienten achtlos fortzuwerfen.

Als er ein Junge war, hatte seine Mutter ihn »mein Beschützer« genannt. Dass es ihm nicht gelungen war, sie zu beschützen, war ein Dorn in seinem Fleisch, der sich selbst nach all diesen Jahren noch fortwährend durch seine Seele vorarbeitete und zu tief saß, um sich rausziehen zu lassen. Er konnte, wenn überhaupt, nur dadurch Buße tun, dass er anderen zuverlässige Dienste erwies.

Am Ende seiner fünften Bahn stellte er sich hin und drehte sich zum fernen Ende des langen schimmernden Rechtecks um, wo er die Stufen ins Wasser hinuntergestiegen war. Der Pool war einen Meter fünfzig tief und Bailey maß einsachtundachtzig, und daher reichte ihm das Wasser nicht ganz bis an die Schultern, als er sich an den Beckenrand zurücklehnte, um sich auszuruhen, ehe er weitere fünf Bahnen schwamm.

Er strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht zurück … und sah unter Wasser eine dunkle Gestalt auf sich zukommen. Er hatte nicht gemerkt, dass nach ihm noch jemand in den Pool gestiegen war. Die gekräuselte Wasseroberfläche wob aus dem bebenden Licht und den Schatten der kleinen Wellen plätschernde Muster, die dafür sorgten, dass die näher kommende Gestalt erheblich verzerrt wurde. Wenn man unter Wasser war, wurde die Fortbewegung durch den größeren Widerstand erschwert. Es war einfacher, Bahnen an der Oberfläche zu schwimmen, doch dieser Schwimmer bohrte sich wie ein Torpedo durch das Wasser. Die Anstrengung, die erforderlich war, um so rasch voranzukommen, hätte den Mann eigentlich zwingen müssen aufzutauchen, um Luft zu holen, ehe er eine Bahn von dreißig Metern Länge bewältigen konnte, doch er schien sich unter Wasser so absolut in seinem Element zu fühlen wie ein Fisch.

Zum ersten Mal seit seinen Zeiten im Marine Corps nahm Bailey eine tödliche und unmittelbar bevorstehende Bedrohung wahr. Er vergeudete keinen Moment darauf, an seinen Instinkten zu zweifeln, sondern drehte sich um und presste die Hände flach auf die Pooleinfassung, stemmte sich hoch und schwang sich aus dem Pool und auf die Knie. Jemand packte von hinten seinen linken Knöchel. Er wäre ins Wasser zurückgezerrt worden, wenn er nicht mit dem rechten Fuß heftig zugetreten und das getroffen hätte, was das Gesicht seines Angreifers zu sein schien.

Sowie er sich befreit hatte, rappelte Bailey sich auf, um auf die Füße zu kommen, wankte auf den Fliesen mit der matten Oberfläche zwei Schritte weit und drehte sich um, plötzlich atemlos und von der irrationalen Furcht überwältigt, er befände sich in Gegenwart von etwas Unmenschlichem, des einen oder anderen mythischen Ungeheuers, das jetzt nicht mehr ein reines Fabeltier war. Nichts stellte sich ihm entgegen.

Die Unterwasserlampen strahlten nicht mehr so hell wie zuvor. Tatsächlich hatten sich die Eigenschaften des Lichts verändert. Es war von einem strahlenden Weiß zu einem düsteren Gelb übergegangen. In diesem schwefligen Schimmer wirkten die blauen Kacheln am Beckenrand grün.

Der dunkle Umriss bewegte sich unter der Oberfläche und kehrte geschmeidig und blitzschnell zu den Stufen zurück. Bailey eilte am Beckenrand entlang und versuchte den Schwimmer genauer zu sehen. Das Wasser im Pool war jetzt säuregelb und wirkte verschmutzt, an einigen Stellen klar, doch an anderen trüb. Es erwies sich als schwierig, Einzelheiten der Person – oder des Dings – im Wasser zu erkennen. Er glaubte, Beine, Arme und eine den groben Umrissen nach menschliche Gestalt auszumachen, und doch entstand der Gesamteindruck von etwas zutiefst Befremdlichem.

Zuerst einmal setzte der Schwimmer keinen Frogkick ein, was nahezu unerlässlich war, um ohne Schwimmflossen unter Wasser gut voranzukommen, und er machte auch nicht die Schwimmstöße eines Brustschwimmers. Er schien sich mit dem muskulösen Winden eines Hais dahinzuschlängeln und auf eine Weise voranzukommen, die einem Menschen unmöglich war.

Wenn Baileys Besonnenheit größer gewesen wäre als seine Neugier, dann hätte er sich seinen dicken Frotteebademantel von dem Haken geschnappt, an dem er hing, wäre hineingeschlüpft, hätte die Füße in seine Flipflops gesteckt und wäre zu dem nahen Wachraum im Westflügel des Kellers geeilt. Dort würde Devon Murphy Dienst haben. Aber die gespenstische Natur des Schwimmers und die jenseitige Stimmung, in die der Raum getaucht war, hatten Bailey in ihren Bann gezogen.

Das Gebäude bebte kaum merklich. Ein leises Grollen stieg aus der Erde unter dem Fundament des Pendleton auf, und Bailey blickte auf den Boden vor sich und rechnete beinah damit zu sehen, wie sich in den Mörtelfugen zwischen den Kacheln Haarrisse bildeten, was jedoch nicht passierte.

Gleichzeitig mit der schwachen Erschütterung veränderte sich das Licht im Pool wieder und ging diesmal von dem unappetitlichen Farbton von Urin, der sich durch eine Krankheit dunkler verfärbt hat, zu Rot über. Dicht vor den Stufen machte der Schwimmer mit dem mühelosen Schlängeln eines Aals kehrt und schwamm an das Ende des Pools zurück, von dem Bailey geflüchtet war.

Dort, wo das Wasser klar war, hatte es die Farbe von Cranberrysaft. Wo es so trüb war, als sei Schlick aufgewirbelt worden, ähnelte es Blut, und dieser widerwärtige Fleck breitete sich jetzt rascher im Pool aus.

Die flatternden, wässrigen Spiegelungen auf den schimmernden weißen Kacheln der Wände und der Decke verwandelten sich in züngelnde Flammen, die auf die Kacheln gemalt zu sein schienen. Der lange Raum wurde dämmriger und düsterer und Schatten schwollen an wie sich aufblähende Rauchschwaden.

Als er sich dem anderen Ende des langen Pools näherte, war der Schwimmer schwerer zu sehen, obwohl er in dem besudelten Wasser noch sichtbar war. Kein Mensch hätte drei Bahnen so schnell schwimmen können, ohne an die Oberfläche aufzutauchen, um Atem zu holen.

Die Erschütterung dauerte fünf oder sechs Sekunden, und eine halbe Minute, nachdem sie nachgelassen hatte und es wieder still im Gebäude geworden war, gingen die Poollampen schrittweise von Rot zu Gelb über und wurden schließlich wieder weiß. Die aufgemalten Flammen, die an den schimmernden Wänden hinaufgezüngelt waren, wurden wie zuvor zu tanzenden Flügeln aus Licht, und im Raum wurde es heller. Das trübe Wasser wurde von Neuem kristallklar. Der geheimnisvolle Schwimmer war verschwunden.

Bailey Hawks hatte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt; Wasser tropfte von ihm herab und in die Pfütze, in der er stand. Sein Herz schlug nicht ganz so heftig, wie es das in den alten Zeiten unter feindlichem Beschuss möglicherweise getan hätte, aber doch so stark, dass er selbst es hämmern hörte.

Nachthaus
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