Fielding Udell

Die Welt war in einem übleren Zustand, als er es sich in seinen scheußlichsten Spekulationen ausgemalt hatte. Die Situation hatte mehr von dem Film Matrix, als Fielding gewusst hatte. Alles war unecht. Es handelte sich nur um Projektionen einer gutartigen Realität, die ihm von der Herrschenden Elite in den Kopf gebeamt wurden, doch jetzt versagte ihre Maschine, die die Tatsachen verdrehte, und daher verblassten die Projektionen und die Realität verschaffte sich Geltung. Er hatte sich Städte unter Kuppeln ausgemalt, in denen die letzten zwanzig oder dreißig Millionen Bürger, die einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren, vor den erstickenden Toxinen und der nuklearen Ausrottung eines überhitzten, vom Eis eingeschlossenen, von Dürren geplagten, von Unwettern verheerten, von Krankheiten verseuchten, froschlosen Brachlands beschützt wurden, das den größten Teil dieses erbärmlichen Planeten einnahm, eine giftige Hölle, wo Milliarden von Leichen in den Feldern und auf den Straßen verwesten. Aber jetzt sah er, dass er sich nicht in einer Stadt mit einer Kuppel befand, wie er geglaubt hatte, und nicht unter einem undurchdringlichen Kraftfeld in Sicherheit war.

Er hatte in Ruinen gelebt, war jedoch der Überzeugung gewesen, in einer Luxuswohnanlage zu logieren, weil sie ihm das ins Gehirn gebeamt hatten. Noch nicht einmal seine Einrichtung war real vorhanden gewesen, denn als die Maschine, die die Tatsachen verdrehte, jetzt aussetzte, sah er, dass seine Räume bis auf Staub, ein paar tote Insekten und vom Alter vergilbte Papierschnipsel leer waren.

Als er an ein Fenster trat, die Staubschicht von der Scheibe wischte und aus dem zweiten Stockwerk auf den Innenhof hinunterblickte, sah er im Mondschein nicht die Blumen und die gepflegten Hecken und die schön geformten Bäume und die Brunnen, die bisher immer dort gewesen waren, sondern stattdessen Zerstörung und ein urwaldähnliches Gestrüpp. Die Becken der mehrstufigen Brunnen waren hinabgestürzt und zerbrochen, wie riesengroße gesprungene und aufgestemmte Schalen von Jakobsmuscheln und Venusmuscheln. Bäume gab es keine mehr. Die anderen Pflanzen konnte er im Mondschein nicht allzu gut sehen, doch es genügte, um zu erkennen, dass sie mit nichts Ähnlichkeit hatten, was er jemals zuvor gesehen hatte. Im besten Falle waren es Abtrünnige der zeitlosen Kirche der Natur und im schlimmsten Fall waren es Mutationen, grotesk genug, um dämonisch zu wirken; wie die Wellenkämme eines umgekippten Meeres wogten sie über den gewundenen Fußweg, der sich von den Doppeltüren am Westende zu der Mauer im Osten schlängelte, wo ein Tor zu den Garagen des Pendleton hinter dem Hauptgebäude führte.

An anderen Abenden hatte Fielding das Dach des umgebauten Kutschenhauses sehen können, das über der hinteren Mauer des Innenhofs aufragte, und dahinter das etwas höhere Dach der größeren Garage, die erst gebaut worden war, als man das Belle Vista zum Pendleton umgestaltet hatte. Jetzt konnte er keines der beiden Gebäude sehen, obwohl der Vollmond ihre Schieferschindeln hätte versilbern müssen. Das breite Tor in der Mauer des Innenhofs hing an verbogenen Angeln offen und war hinuntergesackt, aber hinter diesen verbogenen Bronzestäben schien nichts anderes als Dunkelheit zu sein. Auch von den Lichtern der Großstadt fehlte jeder Schein, sowohl über der Dachbrüstung des Nordflügels als auch im Osten, wo die Garagen hätten sein sollen.

Woher auch immer sein Essen kam – es wurde weder von Salvatinos Pizzeria noch von einem der anderen Restaurants zubereitet, bei denen er täglich bestellte. Wenn die Stadt nicht existierte, worauf das vollkommene Fehlen von Lichtern hinwies, dann gab es auch die Einrichtungen nicht, die sich erboten, schmackhafte Mahlzeiten ins Haus zu liefern. Wenn er diese duftenden Pakete erhielt, kamen sie offenbar von den verabscheuungswürdigen Handlangern der Herrschenden Elite, und woher sollte er wissen, ob seine belegten Baguettes, die Pasta Bolognese und das Huhn mit Pilzen und chinesischen Gemüsen nicht alle aus demselben Grundstoff bestanden – Soylent Green, mit der Absicht gewürzt, darüber hinwegzutäuschen?

Fielding war weniger erschrocken als entrüstet, weniger entrüstet als von einem tief greifenden Gefühl von Rehabilitation überwältigt, weil er, was den Zustand der Welt betraf, die ganze Zeit recht gehabt hatte und noch weitsichtiger gewesen war, als er überhaupt gewusst hatte. Er bebte vor rechtschaffener Empörung.

Bewegung im Innenhof zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas kam auf dem gewundenen Gehweg um eine Kurve herum, eine Kreatur, die bisher durch die heimtückische, üppig wuchernde Vegetation verborgen worden war. Fielding stieß durch zusammengebissene Zähne ein unfreiwilliges Zischen aus, denn obwohl er nicht wusste, was für eine Art von Bestie sich dort unten zeigte, war ihm sofort und ohne jeden Zweifel klar, dass sie menschlichem Leben feindselig gegenüberstand und böse war.

Sie war bleich, aber nicht nur bleich, sondern sie glühte auch schwach, aber nicht etwa, weil ihre Oberfläche Licht zurückwarf oder verströmte. Das Leuchten war tief in ihrem Innern. Sie bestand vorwiegend aus verschwommenen Umrissen, die von einem langsam pulsierenden Licht durchdrungen waren, das unregelmäßig verteilt, gelbsuchtgelb und methylgrün war. Das Licht bewegte sich in langsamen Wellen und Strudeln durch ihr geheimnisvolles Fleisch, in unterschiedlichen Tiefen und mit verschiedener Intensität, und es zeigte, was die dunklen Klumpen innerer Organe sein könnten, die von einer größeren Dichte als das umliegende Gewebe waren. Sie hatte die Länge eines sich anschleichenden Löwen, war aber fast so groß wie ein Mann und schien in dem unzulänglichen Mondschein auf Insektenbeinen voranzukriechen, die dennoch fleischig waren, ähnlich denen einer Jerusalemgrille. Nach allem, was Fielding sah, hätte der Leib eine Ansammlung von knolligen Formen sein können – geschwollene Blasen, hängende Hodensäcke –, all das um ein unterteiltes Etwas geschlungen, das ihn an einen dicken Bandwurm erinnerte, und dadurch miteinander verbunden. Das Ding bewegte sich nicht schnell, doch er war sicher, dass es in Gegenwart von Beute beträchtlich an Tempo zulegen konnte, und es schien sich auf den Weg zu konzentrieren, der vor ihm lag, als folge es einer Fährte.

Diese Erscheinung war grotesker als alles, was Fielding Udell in den Albträumen von tausend Jahren hätte einfallen können; keine halluzinogene Droge hätte die Macht besessen, so etwas in der menschlichen Vorstellung heraufzubeschwören, denn in seiner Fremdartigkeit war es grauenerregender, als wenn ein Tyrannosaurus Rex plötzlich mit weit aufgesperrtem Maul und Zähnen, so lang wie Säbel, in den Innenhof gesprungen wäre. Er dachte an weit entfernte Sterne, an die luftlose Weite des tiefen Weltraums, an eine Reise, die nur in Lichtjahren messbar war, denn das Ding im Innenhof war bestimmt nicht auf der Erde geboren worden. Ein Schauer durchzuckte ihn, fuhr ihm durch Leib und Seele, und seine Handflächen wurden kalt und klamm, als schmelze jetzt die eisige Courage, die seinen langen Nachforschungen standgehalten hatte.

Als Fielding auf die widerwärtige Kreatur hinunterstarrte, gelähmt wie ein Kaninchen, das plötzlich einer zum Angriff bereiten Klapperschlange begegnet, hob das Ding etwas wie einen Kopf, eine klumpige Masse, der die Symmetrie zwischen links und rechts fehlte, die der Kopf aller Tiere in der Natur aufweist. Es wandte ihm ein Gesicht zu, das in zweierlei Hinsicht heimtückisch war: Erstens schien es sich um eine verschlungene Krebsgeschwulst zu handeln und zweitens war es die Fratze des Bösen schlechthin.

Vielleicht sah es nur den Mond an, so wahnsinnig – oder mondsüchtig –, wie es scheußlich war, aber er glaubte fest daran, dass dieses Ding seinen Blick ganz allein auf ihn richtete, falls es sich bei diesen drei strahlenden silbernen Gestirnen tatsächlich um Augen handelte. Fielding schüttelte seine Trance ab, trat von der schmutzigen Fensterscheibe zurück, verschwand aus der Sicht der Kreatur und war sicher, endlich einen Vertreter der Herrschenden Elite gesehen zu haben, die man nicht zu fassen bekam.

* * *

Nachthaus
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