4 Apartment 3-C
Um vier Uhr dreizehn wurde Silas Kinsley von einem leisen Donnern geweckt und glaubte, das Haus wackle. Aber das kurze Grollen und die Bewegung waren bereits vorüber, als er sich aufsetzte und vollständig zur Besinnung kam. Er wartete im Dunkeln, lauschte einen Moment lang und entschied dann, die Unruhe sei Bestandteil eines Traums gewesen.
Als er seinen Kopf wieder auf das Kissen sinken ließ, stieg jedoch im Innern der Wand, an der sein Bett stand, ein Geräusch auf. Der zischelnde, schlüpfrige Klang ließ vor seinen Augen Bilder von Schlangen aufziehen, die sich zwischen den Streben hinter der Gipsfaserplatte wanden, was unwahrscheinlich, wenn nicht gar undenkbar schien. Von so etwas hatte er nie zuvor gehört. Er hatte den Verdacht – die Intuition –, es müsse etwas mit der beunruhigenden Geschichte des Hauses zu tun haben.
Die Ruhestörung dauerte vielleicht fünf Minuten. Er lag da, lauschte und machte sich Gedanken, nicht furchtsam, aber durchaus auf der Hut; er achtete wachsam auf jede Veränderung des Geräuschs, die ihm dabei helfen könnte, die Ursache zu identifizieren.
Die nachfolgende Stille war eine erwartungsvolle, die Schlaflosigkeit erzeugt. Er war kürzlich neunundsiebzig geworden und für gewöhnlich erwies sich der Schlaf als etwas, das sich ihm entzog, wenn er einmal gestört worden war. Silas war ein pensionierter Anwalt für Zivilrecht, aber in seinem Kopf herrschte dieser Tage ein so reges Treiben wie damals, als sein Terminkalender noch vollständig mit Mandanten ausgebucht gewesen war. Er stand vor dem Morgengrauen auf, duschte, zog sich an und briet sich Eier in Butter, während vor dem Küchenfenster das grelle Rosa des Morgenlichts Korallenriffe an den Himmel malte.
Später, nach dem Mittagessen, schlief er in einem Sessel ein. Als er sich nach einer Stunde alarmiert aufrichtete, hatte er nicht viel von dem Albtraum in Erinnerung, dem er entronnen war, nur, dass darin Katakomben aus Tropfstein vorgekommen waren, in denen es nicht, wie in den meisten Katakomben, Überreste von Skeletten gab, sondern nur leere Bestattungsnischen, die in die gewundenen Wände gemeißelt waren. Etwas Stummes, Unsichtbares, etwas mit unversöhnlichen Absichten, hatte ihn in diesem Labyrinth gesucht und durch die Gänge verfolgt.
Seine Hände waren so kalt wie die einer Leiche. Er starrte den aufgehenden Mond am unteren Ende jedes seiner Fingernägel an.
Noch später an jenem düsteren Dezembernachmittag stand Silas an einem der Wohnzimmerfenster seines Apartments im zweiten Stock des Pendleton, auf der Kuppe des Shadow Hill, und beobachtete, wie die tiefer gelegenen Boulevards hinter einer aufziehenden Regenwand verblassten. Gebäude aus gelbbraunem Backstein, aus rotem Backstein, aus Kalkstein, sowie die neueren und höheren und hässlicheren Türme mit verglasten Außenwänden wurden sofort zu einem einheitlichen Grau ausgebleicht, als das Unwetter sie überflutete, und wurden so zu den geisterhaften Bauten einer längst ausgestorbenen Stadt in einem Albtraum von Pest und Trostlosigkeit. Weder das warme Zimmer noch sein Kaschmirpullover konnten die Kälteschauer mildern, die wie eine geflügelte Horde durch ihn hindurchfegten.
Die offizielle Geschichte besagte, vor 114 Jahren seien Margaret Pendleton und ihre Kinder Sophia und Alexander aus diesem Haus verschleppt und ermordet worden. Silas bezweifelte mittlerweile, dass es vor so langer Zeit tatsächlich zu dieser Entführung gekommen war. An jenem Tag war den dreien etwas Seltsameres als Mord widerfahren, etwas Schlimmeres.
Shadow Hill stieg bis zum höchsten Punkt dieser Stadt im Landesinneren, an und der zweite Stock war die oberste Etage des Pendleton. Das nach Westen gerichtete Gebäude schien über die vom Regen gepeitschte Großstadt zu herrschen, die sich unter ihm ausbreitete. Sowohl der Hügel als auch die Straße waren nach den Schatten von Bäumen und Gebäuden benannt, die an einem sonnigen Nachmittag stündlich länger wurden, bis sie in der Abenddämmerung auf den Gipfel krochen und dort auf die Nacht trafen, die von Osten her kam.
Das Pendleton war nicht einfach nur ein grandioses Haus, nicht lediglich ein Herrenhaus, sondern genau genommen ein Palast im Beaux-Arts-Stil, 1889 erbaut, zur Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft, rund fünftausendfünfhundert überdachte Quadratmeter, ohne den riesigen Keller oder das separate Kutschenhaus mitzuzählen. Das Gebäude war ein Stilmix aus klassizistischer Architektur und französischer Renaissance, mit Kalkstein verkleidet und mit kunstvoll gemeißelten Fenstereinfassungen. Weder die Carnegies noch die Vanderbilts und noch nicht einmal die Rockefellers hatten jemals ein prächtigeres Haus besessen.
Nachdem er kurz vor Weihnachten 1889 eingezogen war, hatte Andrew North Pendleton – ein Milliardär in einer Ära, als eine Milliarde Dollar noch richtig viel Geld war – sein neues Haus Belle Vista getauft. Und unter dem Namen war es 84 Jahre lang bekannt; 1973 wurde es dann in eine Eigentumswohnanlage umgewandelt und erhielt seinen neuen Namen – das Pendleton.
Andrew Pendleton verbrachte eine glückliche Zeit im Belle Vista, bis im Dezember 1897 seine Frau Margaret und ihre beiden kleinen Kinder angeblich entführt und nie mehr gefunden wurden. Danach wurde Andrew zu einem bemitleideten Einsiedler, dessen Exzentrik sich zu einer vornehmen Form von Wahnsinn auswuchs.
Silas Kinsley hatte seine Ehefrau im Jahr 2008 verloren, nach dreiundfünfzig Ehejahren. Er und Nora waren nie mit Kindern gesegnet gewesen. Da er jetzt selbst seit drei Jahren Witwer war, konnte er sich vorstellen, wie die Einsamkeit und der Kummer Andrew Pendleton seines Verstandes beraubt haben mochten.
Dennoch war Silas zu dem Schluss gelangt, dass Einsamkeit und Verlust vor langer Zeit nicht die Hauptursachen für den Niedergang und den Selbstmord des Milliardärs gewesen waren. Andrew North Pendleton war auch von einer grässlichen Erfahrung in den Wahnsinn getrieben worden, von einem mysteriösen Erlebnis, das er sieben Jahre lang mit großer Anstrengung zu verstehen versucht hatte und auf das er fixiert blieb, bis er sich selbst das Leben nahm.
Eine gewisse Fixierung hatte auch Silas infolge von Noras Tod gepackt. Nachdem er das Haus verkauft hatte, in dem sie gemeinsam gelebt hatten, und diese Wohnung erworben hatte, hatte er sich die Zeit damit vertrieben, mehr über die Geschichte dieses Gebäudes zu erfahren, das den Status eines Wahrzeichens besaß. Diese Neugier wuchs sich zu einer derartigen Besessenheit aus, dass er auf der Suche nach Fakten, und seien sie noch so alltäglich, zahllose Stunden damit zubrachte, über Unterlagen in Staatsarchiven zu brüten, Ausgaben von Zeitungen zu studieren, die mehr als hundert Jahre alt waren, und sich in diversen Archiven herumzutreiben.
Jetzt wich Silas, obwohl er beobachtet hatte, wie die Legionen des Sturms aus dem Tiefland heranmarschiert waren und den langen Nordhang des Shadow Hill erklommen hatten, erschrocken einen Schritt zurück, als die erste nasse Salve gegen die Fensterscheiben schlug, als sei der Regen, den man irrtümlich für nichts weiter als ein Wetterphänomen hielt, ein böswilliger Angreifer, der es auf ihn persönlich abgesehen hatte. Die Stadt verschwamm, der Tag schien dunkler zu werden und die versilbernde Wirkung der Wohnzimmerlampe machte das Fenster zu einem schwachen Spiegel. In der nassen Glasscheibe war sein Gesicht durchscheinend und es fehlte ihm an ausreichenden Einzelheiten, als sei es nicht sein Spiegelbild, sondern müsse stattdessen das Gesicht eines anderen sein, das bleiche Antlitz von etwas, das nicht ganz und gar menschlich war, eines Besuchers aus einer okkulten Sphäre, die durch die Kraft des Unwetters vorübergehend mit dieser Welt in Verbindung stand.
Kantige Blitze spalteten den sich verdüsternden Tag und Silas wandte sich vom Fenster ab, als Donnerschläge auf den Himmel einhieben. Er ging in die Küche, wo die Leuchtstofflampen unter den Hängeschränken die Arbeitsflächen aus goldenem Granit leuchten ließen und wo alle anderen Lichter ausgeschaltet waren. Seine Unterlagen über das Pendleton lagen auf dem Tisch in der Essecke verstreut: Zeitungsartikel, Fotokopien von Dokumenten aus Staatsarchiven, schriftliche Protokolle der Befragungen von Menschen, die behaupteten, vor 1974 Erfahrungen mit dem Gebäude gemacht zu haben, und Fotokopien der elf Papierschnipsel, die von einem handgeschriebenen Tagebuch übrig waren, das Andrew North Pendleton unmittelbar vor seinem Selbstmord vernichtet hatte.
Jedes der Blätter, die nicht in Flammen aufgegangen waren, stellte ein unvollständiges Fragment von Pendletons Notizen dar und jedes war an den Rändern braun und angesengt, da er das Tagebuch im Kamin seines Schlafzimmers verbrannt hatte, ehe er sich den Lauf einer Schrotflinte in den Mund gesteckt und eine tödliche Mahlzeit aus grobem Schrot zu sich genommen hatte. Jeder der elf kurzen Prosatexte war faszinierend und schien darauf hinzuweisen, Andrew Pendleton hätte eine so außergewöhnliche Erfahrung gemacht, dass man sie schon als jenseitig bezeichnen konnte. Aber vielleicht hatte ihn in den letzten Stadien seines Wahnsinns auch nur eine Demenz geplagt, die ihn Albträume und Halluzinationen irrtümlich für Erinnerungen an reale Ereignisse halten ließ.
Unter den elf Fetzen Papier, die den Brand halbwegs überstanden hatten, wandte sich Silas am häufigsten einem kryptischen, verstörenden Fragment über Pendletons Tochter Sophia zu, die bei ihrem Verschwinden sieben Jahre alt gewesen war. Die Worte und all ihre möglichen Bedeutungen verfolgten ihn so beharrlich, dass er sie sich eingeprägt hatte: … und ihre einst rosige Haut grau, ihre Lippen so grau wie Asche und ihre Augen wie Rauch, ein humorloses, eisengraues Grinsen, nicht mehr meine Sophie und ihr mit jedem Moment unähnlicher.
Andrew Pendletons Verlust seiner Familie war nicht die einzige Tragödie in der Geschichte des prachtvollen Hauses. Der zweite Besitzer, Gifford Ostock, Alleinerbe eines beträchtlichen Vermögens, das im Steinkohlebergbau und der Anfertigung von Kohlenwagen für die Eisenbahn zusammengekommen war, lebte von 1905 bis 1935 im Belle Vista und ließ es sich dort richtig gut gehen. Doch eines Nachts im Dezember ’35 schlachtete der Butler Nolan Tolliver die Familie Ostock und das gesamte Personal, das im Haus wohnte, ab, ehe er sich selbst das Leben nahm. Tolliver hinterließ eine unzusammenhängende handschriftliche Notiz, in der er behauptete, sie ermordet zu haben, um »die Welt vor dem ewigen Dunkel zu bewahren«, und obwohl er die Verantwortung für sämtliche sechzehn Morde übernahm, wurden acht der Toten nie gefunden. Bis dato war unbekannt, wie Tolliver die Hälfte seiner Opfer beseitigt hatte und warum er sich der anderen acht nicht gleichermaßen entledigt hatte.