23 Apartment 3-H
Alles konnte jederzeit passieren.
Fielding Udell besaß die Weisheit, die immerwährende Unbeständigkeit des Kosmos’, des Planeten, des Kontinents, der Stadt und des Augenblicks zu erkennen. Er war fleißig genug, um die grässliche Wahrheit über die Welt zu erforschen und sie mit der Hingabe zu analysieren und zu archivieren, mit der ein Mönch im finsteren Mittelalter Bücher handschriftlich kopierte, um die Werke der Vergangenheit am Leben zu erhalten.
An jenem Donnerstagabend blieb er an seinem Computer sitzen, vor dem er um acht Uhr morgens Platz genommen hatte. Seitdem hatte er sich sich nur zweimal erhoben, um auf die Toilette zu gehen, und einmal, um eine Lieferung von der Pizzeria Salvatino in Empfang zu nehmen. Dort hatte er Pasta Bolognese und einen Salat zum Mittagessen sowie ein belegtes Baguette und eine Tüte Kartoffelchips als Abendessen bestellt. Er war sich des schlechten Wetters bewusst, schenkte ihm aber kaum Beachtung. Dezemberstürme besaßen nicht das Potenzial, zum Inbegriff eines Tornados zu werden, zum schlimmsten Tornado aller Zeiten. Diese erdgeschichtliche Katastrophe würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und Tausende von Quadratkilometern weitgehend entvölkern, aber nicht heute Abend.
Vielleicht waren Fielding Udells wesentlichste persönliche Qualitäten seine Gerissenheit und seine Vorausschau. Er war klug und umsichtig genug, um bei seinen Nachforschungen seine Identität zu verbergen. Indem er sich von seinem Computer aus in das Fernsprechamt einer Stadt einloggte, die einen halben Kontinent entfernt war, und von dort aus durch eine Universität im japanischen Kyoto seine Spur weiter verschleierte und sich tarnte, indem er seine Datenrecherche durch den Internetlink der Stadtbibliothek in Oshkosh, Wisconsin, vornahm, und durch zahlreiche andere Vorsichtsmaßnahmen konnte er seine Ermittlungsergebnisse zusammentragen und riskierte dabei kaum, dass seine Fährte bis zum Pendleton zurückverfolgt würde.
Wenn sie von seinem Projekt wüsste, würde ihn die Herrschende Elite ermorden lassen oder Schlimmeres. Fielding hätte nicht mit Sicherheit sagen können, was schlimmer als der Tod sein konnte, aber sein stets wachsendes Verständnis für die wahre Natur der Welt legte viele Möglichkeiten nahe.
Er hielt täglich Ausschau nach Neuigkeiten aus Oshkosh, beispielsweise nach einer Boilerexplosion in der Hauptgeschäftsstelle der Bücherei, die natürlich bedeuten würde, dass die Herrschende Elite die unschuldigen Bibliothekare eliminierte, in deren Namen Fielding seine Nachforschungen angestellt hatte.
Er wollte sich keine Gedanken über Schicksale machen, die schlimmer waren als der Tod. Er war kein negativer Mensch. Er hielt sich selbst sogar für einen Optimisten: trotz all der Gräuel und Übel auf der Welt immer noch Optimist. Er war der Überzeugung, dass er die ränkeschmiedenden Mistkerle eines Tages bezwingen könnte, wer auch immer sie waren, was auch immer ihre Beweggründe sein mochten und ungeachtet des unbekannten, aber bestimmt abscheulichen Ursprungs, von dem sie ihre immense Macht herleiteten.
Zur Herrschenden Elite gehörte keine der Personen, die hohe öffentliche Ämter bekleideten, und ebenso wenig einer der reichen Bosse, die große Wirtschaftsimperien und Banken leiteten. Sie waren nichts weiter als Werkzeuge, mit denen die wahren Herrscher der Welt ihren skrupellosen Willen durchsetzten. Fielding war sich nicht sicher, ob die Industriegiganten und Politiker merkten, dass sie manipuliert wurden wie Marionetten, oder ob sie bereitwillig ihren gesichtslosen Herren dienten. Irgendwann würde er die Wahrheit wissen. Er würde die heimlichen Herrscher dieser gemarterten Welt triumphierend entlarven und sie auf die eine oder andere Weise zur Rechenschaft ziehen.
Jetzt legte er eine Pause ein und ging in die Küche, um sich ein Glas selbst gemachte Cola einzuschenken. Er hatte Grund zu der Annahme, alkoholfreie Getränke, die in Massenproduktion hergestellt wurden, seien einer der Träger für die Droge – falls es sich überhaupt um etwas so Simples wie eine Droge handelte –, die den Massen durch die Herrschende Elite verabreicht wurde und sie anfällig für die Illusionen und Täuschungen machte, die heutzutage als Realität durchgingen. Um sicherzustellen, dass sie ihn keiner Gehirnwäsche unterziehen konnten, bereitete Fielding seine eigene Limonade zu; die enthielt zwar keine Kohlensäure und schmeckte eher nach Zuckerrübensirup und nach Lakritz als nach Cola, doch er mochte sie ganz gern. Das Entscheidende war nicht die Qualität seiner Cola, sondern dass er Cola und Freiheit zugleich haben konnte.
Er hatte zwei Wohnungen gekauft und sie miteinander verbunden, um reichlich Platz für Arbeitstische und Aktenschränke zu haben, wo er sein belastendes Material zusammentrug und lagerte. Er verließ sich nicht darauf, seine umfangreichen Archive nur in digitaler Form aufzubewahren, wo sich jemand einhacken könnte und sie innerhalb von Momenten dem Vergessen anheimfallen würden.
Seine Küche konnte mit allen erdenklichen Gerätschaften aufwarten, doch er kochte nie. Er bestellte seine Mahlzeiten in zahlreichen Restaurants und ließ sie ins Haus liefern, wobei er die Reihenfolge dem Zufall überließ, damit sich kein Schema herausbildete, das es einem Mörder gestatten könnte, sein Verhalten vorherzusagen und seine Pizza oder sein Kung-pao-Huhn zu vergiften.
Als er sich ein Glas Cola aus dem Krug einschenkte, hörte er ein Klopfen an den Fensterscheiben und nahm an, der Regen müsse in einen Graupelschauer übergegangen sein. Er warf keinen Blick auf das Fenster, weil er an gewöhnlichem Wetter nicht das geringste Interesse hatte, nur an den Superstürmen, die eines Tages Großstädte vom Angesicht der Erde scheuern würden, den Stürmen, die in manchen Regionen der Welt vielleicht schon wüteten, über die aber auf Befehl der Herrschenden Elite nicht berichtet wurde.
Zwanzig Jahre lang hatte er sich leidenschaftlich für seine Suche nach der Wahrheit engagiert, seit er mit einundzwanzig seinen Universitätsabschluss gemacht hatte. Das war nicht nur seine Berufung und sein Zeitvertreib. Es war sein Leben und nicht nur das, sondern der Sinn seines Lebens.
Fielding Udell war mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen. Als er sein Erbe angetreten hatte, fühlte er sich unredlich, kriminell, sogar moralisch verkommen. Ohne dafür zu arbeiten, hatte er alles, was er für den Rest seines Lebens brauchen würde, während so viele so wenig hatten.
Das Schuldbewusstsein hatte so schwer auf ihm gelastet, dass er beinah sein ganzes Geld verschenkt und ein Armutsgelübde abgelegt hätte und Mönch geworden wäre. Er hatte auch mit dem Gedanken gespielt, irgendeinen beliebigen Job anzunehmen, den er mit seinem Universitätsabschluss finden konnte, und ein gewöhnliches mittelständisches Leben mit kleinen Freuden und bescheidenen Erwartungen zu führen. Aber da er nicht gläubig war, erschien es ihm sinnlos, Mönch zu werden, und zu seinem Erstaunen öffnete ihm sein Abschluss in Soziologie mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung keine Türen, null, zero, nada.
Obwohl er von Schuldgefühlen zerfressen wurde, behielt er sein Geld. Es war sein Fluch, sein Klotz am Bein.
Zum Glück sah er in den melancholischen Tiefen seines moralischen Dilemmas, als er noch ein zartbesaiteter Einundzwanzigjähriger war, zufällig einen Fernsehbericht über den mysteriösen Tod zahlloser Frösche überall auf der ganzen Welt und hörte, dass führende Wissenschaftler das Aussterben der Art innerhalb von sechs bis zehn Jahren vorhersagten. Alarmiert durch die Schreckensvision einer froschlosen Welt und durch alles, was diese unheilvolle Entwicklung bedeuten könnte, begann Fielding, sich mit dem Thema zu beschäftigen – und fand seine Berufung.
Zuerst hatte er den Nachrichten entnommen, dass nicht nur sämtliche Frösche ihrem Aussterben entgegensahen, sondern auch die Bienen. Das Bienensterben wurde nicht durch die üblichen Milben oder Krankheiten hervorgerufen, sondern dadurch, dass sie aus Gründen, die niemand erklären konnte, in großer Zahl dem Bienenvolkkollaps zum Opfer fielen, obwohl man einhellig der Meinung war, Verschmutzung oder eine andere, durch Menschen verursachte Krankheit müsse schuld daran sein. Ohne Bienen, die Blütenpflanzen bestäubten, würde der Nahrungsbestand der Welt drastisch sinken. Tatsächlich hatten einige Wissenschaftler spätestens für das Jahr 2000 große Hungersnöte vorhergesagt.
Wie wenig er damals noch verstanden hatte. Wie dumm er doch gewesen war.
Jetzt trug er das Glas Cola durch eine Reihe von Räumen, die alle seiner Arbeit dienten, zu seinem Computer zurück. Das Pochen an den Fenstern folgte ihm und wurde lauter, ein Klopfen, als hätten sich nun kleine Hagelkörner mit dem Graupelschauer vermischt. Regen, Graupelschauer und Hagel mochten vielleicht denjenigen Sorgen bereiten, die nicht so aufgeklärt waren wie Fielding Udell, aber derlei Phänomene waren so unbedeutend, dass sie ihn völlig kalt ließen. Das ging so weit, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, im Vorbeigehen aus einem der Fenster zu schauen.
Im Jahr 2000, als aufgrund des Bienensterbens Millionen verhungern sollten, drohte zugleich der Millenium-Bug Y2K. Man war sich allgemein darüber einig, dass zur Jahrtausendwende sämtliche Computer weltweit verrückt spielen würden, was zu einem Zusammenbruch des Bankensystems, zum unaufhaltsamen computergesteuerten Abschuss von Atomraketen und zum Ende der Zivilisation führen würde.
Als Fielding die Vergangenheit untersucht hatte, um herauszufinden, ob es früher ebenso viele Bedrohungen der menschlichen Existenz gegeben hatte wie zu seiner Zeit, fand er eine anscheinend endlose Zahl von Bedrohungen, die so alarmierend waren, dass er sich über seinen Arzt genug Schlaftabletten besorgte, um Selbstmord zu begehen, falls er eines Tages aufwachen und feststellen sollte, dass er in einer Mad-Max-Welt mit wenigen Ressourcen und Banden plündernder Psychopathen lebte. Man war sich darüber einig gewesen, dass Überbevölkerung und Industrialisierung um 1970 zu Hungersnöten, dem Sterben von Milliarden und der Ausschöpfung sämtlicher Öl- und Erdgasvorkommen der Welt führen würden, um 1980 herum zum Tod aller Weltmeere und daher zu einem stetigen Schwund an Sauerstoff, bis die Luft des Planeten nicht mehr zum Leben reichte. In den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts waren sich die Wissenschaftler nach Angaben der Medien darüber einig gewesen, dass eine Eiszeit unmittelbar bevorstand, die innerhalb von wenigen Jahrzehnten mit Sicherheit den größten Teil von Nordamerika unter zig Meter hohen Gletschern begraben würde. Allerdings war die Welt nicht nur gezwungen, diese Bedrohung über sich ergehen zu lassen, sondern jetzt hatte die Aussicht einer globalen Erwärmung, die nach sich zog, dass wir uns mit eben dem CO2 umbrachten, das wir in jeder Minute unseres Lebens ausatmeten, außerdem eine Kehrtwende von hundertachtzig Grad bewirkt und die Menschen an den gegenüberliegenden Abgrund und zu einer neuen Bedrohung geführt.
Anfangs war Fielding verzweifelt, als er all diese drohend bevorstehenden Katastrophen recherchierte. Nachdem er für seinen Abschluss in Soziologie so hart gearbeitet hatte, war es ihm nicht gelungen, eine Anstellung zu finden; und jetzt würde die Welt, falls er jemals einen Job fand, nicht lange genug bestehen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich in seinem gewählten – oder irgendeinem anderen – Beruf hervorzutun.
Wirklich schade.
Dann war ihm ein ganz anderer Gedanke gekommen, eine Einsicht, eine Art Theorie, die ihm Hoffnung machte. Viele dieser übereinstimmenden Meinungen der Wissenschaftler schienen sich im Lauf der Jahre als falsch erwiesen zu haben, was nahelegte, dass vielleicht auch andere sich nicht bewahrheiten würden. Dieser Gedanke führte bald zu folgender Überlegung: Vielleicht fabrizierte die herrschende Elite – damals sah er das noch nicht als einen festen Begriff an, den er in Gedanken mit einem großen H versah – Krisen, um die Massen durch Furcht zu beherrschen und so ihre eigene Macht zu vergrößern.
Diese Theorie beschäftigte ihn eine Zeitlang, doch dann sagte ihm dieses Mädchen, das er in sein Bett zu kriegen hoffte, er sei ein Verschwörungstheoretiker, »ein total bekloppter Spinner«, und dass er sie nackt sehen würde, sei genauso wahrscheinlich, wie dass er beweisen würde, Elvis Presley sei nicht tot, sondern lebe nach einer operativen Geschlechtsumwandlung in Schweden. Eine Woche lang legte Fielding ihren Sarkasmus fälschlicherweise als einen heißen Tipp aus, doch dann erwies sich, dass an dem Elvis-in-Schweden-Gerücht nichts dran war oder zumindest nichts, was er finden konnte. Als er sich vollständig über die grausame Natur der Zurückweisung des Mädchens klar wurde, war er durchaus betrübt, allerdings nicht lange.
Während Fielding weiterhin Recherchen zu den Bedrohungen der Menschheit, der Zivilisation und des Planeten angestellt hatte, war ihm schließlich ein bedeutender Durchbruch gelungen, der seine Theorie der Beherrschung der Massen durch Angst kindisch erscheinen ließ. Heute errötete er sogar dann, wenn er allein war, manchmal bei dem Gedanken daran, wie naiv er gewesen war, zu glauben, die Wahrheit sei auch nur annähernd so einfach. Denn die Wahrheit war viel schrecklicher und weitaus finsterer. Wissenschaftler befassten sich mit Tatsachen, richtig? Ein Konsens von Wissenschaftlern setzte voraus, dass sich viele sehr kluge Leute über beweisbare Tatsachen einig waren, richtig? Daher musste es sich bei den Tatsachen tatsächlich um Tatsachen handeln. Wenn Einigkeit darüber bestand, dass bis zum Jahre 1990 eine Eiszeit Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertreiben würde, dann musste eine Eiszeit im Jahre 2011 schon ziemlich weit fortgeschritten sein. Die kluge Herrschende Elite fabrizierte also doch keine Krisen; stattdessen versuchte sie, eine beängstigende Flut von tatsächlich vorhandenen Krisen vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, um Panik, den Zusammenbruch der Zivilisation und letztlich den Verlust ihrer Macht zu verhindern.
Als er jetzt zu seinem Computer zurückkehrte, sich auf einen Stuhl setzte und die erfrischende selbst gemachte Cola trank, ertönte über ihm ein eigentümliches zischelndes Geräusch und wurde schnell so laut, dass es lästig war. Als wohnte Fielding unter einem Serpentarium. Er nahm an, der Wind hätte einen Weg in den Dachboden des Pendleton gefunden und jagte dort zwischen den Pfeilern und Dachsparren seinen eigenen Schwanz, und nach einer Weile verstummten die Geräusche auch wieder.
Indem sie totale Kontrolle über die weltweiten Medien ausübte, verstummte die Herrschende Elite nie, sondern verbreitete sieben Tage in der Woche rund um die Uhr aggressive Lügen, um eine entsetzliche Wahrheit nach der anderen vor der leichtgläubigen Öffentlichkeit zu verbergen. Die heroischen Wissenschaftler besaßen die Kühnheit, obwohl ihre Finanzierung von reichen Regierungen bewilligt wurden und sie eigentlich hätte vereinnahmen sollen, den Machthabenden tapfer die Wahrheit zu sagen und sie vor den bevorstehenden erdgeschichtlichen Katastrophen zu warnen, um dann dumm dazustehen, wenn die Katastrophen nicht eintraten – doch in Wirklichkeit traten sie ja ein, wurden aber von der Herrschenden Elite vertuscht.
Fielding war in diese schaurige Realität gestolpert, als ihm beim Ansehen einer Nachrichtensendung, die angeblich live aus Kanada übertragen wurde, im Hintergrund einer Einstellung etwas auffiel, was eine Palme zu sein schien, vielleicht sogar zwei. Ihm wurde sofort klar, dass der Bericht nicht aus Kanada kam, sondern dass Kanada vorgetäuscht wurde; sie filmten in Georgia oder irgendwo anders und gaben es als Kanada aus, so wie Filmregisseure manchmal vermeintliche Nachtaufnahmen am Tag drehten. Sie hatten es vermurkst. Und Fielding Udell hatte sie drangekriegt. Sie hätten keinen Grund gehabt, Georgia als Kanada auszugeben, es sei denn, Kanada war bereits unter zig Metern vorrückender Eismassen begraben, die eines Tages den größten Teil der Vereinigten Staaten gleichermaßen überrollen und unter sich begraben würden.
Anfangs schien es so, als vertrüge sich die drohende globale Erwärmung nicht mit der Realität einer andauernden Eiszeit, doch sowie er seine neue Theorie anzuwenden begann, stellte er fest, dass sie jede Frage beantwortete. Offensichtlich hatten beide Gruppen von Wissenschaftlern recht, und sowohl eine Eiszeit als auch ein Zeitalter tödlicher globaler Erwärmung traten gleichzeitig auf, wobei erstere vom Nordpol aus über die Welt hereinbrach, wogegen letztere vom Südpol aus nach Norden voranschritt. Früher oder später würde sich die Menschheit auf den Äquator beschränken müssen, in einen Klimaschraubstock eingezwängt, dessen eine Klemmbacke tödliche Kälte war, die andere dagegen sengende Hitze. Die Herrschende Elite verschleierte diese Situation und die widersprüchlichen Bedrohungen, indem sie gefälschte Meldungen aus Südamerika ausstrahlte, eine kunstvoll ausgeschmückte Fantasie dessen erschuf, was sich dort unten angeblich tat, und sie als Nachrichten verkaufte, um zu vertuschen, dass in jenem Teil der Welt bereits Millionen von Menschen durch Dürren, Hungersnöte, Hitzeperioden, großflächige Brände und zahllose Fälle von menschlicher Selbstentzündung umgekommen waren.
Das hieß, dass es auf der Erde nicht etwa viele Nationen gab, von denen jede ihre eigenen Interessen verfolgte, sondern dass es sich stattdessen um einen einzigen Polizeistaat mit einer gut versteckten diktatorischen Gesellschaftsklasse handelte, die mit Hilfe von Marionettenregimen regierte, um die wahre Natur der Welt zu verbergen. Sämtliche Nachrichten- und Unterhaltungsorgane waren vereinnahmt worden, und Menschen, die behaupteten, sie seien kürzlich nach Kanada gereist, mussten entweder lügen oder einer Gehirnwäsche unterzogen worden sein; das Gleiche galt für jene, die behaupteten, einen herrlichen Urlaub in Peru oder Chile verbracht zu haben.
Das größe Geheimnis, das es noch zu lösen galt, war die Identität der Herrschenden Elite. Ihre Angehörigen entzogen sich nicht nur jeglichem Zugriff und gingen verstohlen vor. Sie waren so unsichtbar wie Gespenster, allmächtige böswillige Geister, überall gleichzeitig, und doch zeigten sie nie ihr Gesicht. Im Laufe der Jahre hatte Fielding die verschiedensten Möglichkeiten in Betracht gezogen und nicht eine von ihnen verworfen. Oder doch, die Freimaurer und das Priorat von Zion und Opus Dei und die Juden schied er aus, weil sie als mutmaßliche Bösewichte ein solches Klischee waren, dass sie nichts anderes als Ablenkungsmanöver sein konnten, und weil alle, die sie genug hassten, um sich gegen sie zu organisieren, sich als schwafelnde Irre erwiesen, mit denen Fielding nichts zu tun haben wollte. Er neigte zu dem Glauben, Überlebende des untergegangenen Kontinents Atlantis, die jetzt in einer Superzivilisation unter Wasser lebten, könnten hinter den Kulissen zugange sein, oder andernfalls Außerirdische oder vielleicht der Benevolent and Protective Order of Elks, den niemand jemals irgendwelcher Verschwörungen verdächtigte, denn genau das ließ ihn Fielding Udell verdächtig erscheinen.
Als er sein Glas abstellte und seine Aufmerksamkeit wieder dem Computer zuwandte, erhob sich ein Stück weit entfernt eine leise und unheilverkündende Stimme, gedämpft und doch nah. Der Sprecher klang wie ein Nachrichtensprecher im Fernsehen, der über ein grauenhaftes Ereignis mit Hunderten von Toten berichtet. Fielding konnte beinah, aber nicht ganz verstehen, was gesagt wurde.
Er rollte seinen Drehstuhl vom Computer zurück und drehte sich langsam einmal im Kreis, neigte den Kopf von einer Seite auf die andere und versuchte den Ursprung ausfindig zu machen. Die Stimme schien von allen Seiten zu kommen, von keinem Punkt mehr als von jedem anderen. Er befand, sie müsse aus der Wohnung unter ihm kommen, obwohl die dicken Böden aus Beton und Stahl nur selten zuließen, dass Geräusche von einer Ebene des Pendleton auf eine andere vordrangen.
Im ersten Stockwerk befanden sich zwei Wohnungen direkt unter seiner. Eine stand derzeit leer und war zu verkaufen. Die andere gehörte den Shellbrooks, die im Urlaub waren. Fielding war sich immer noch sicher, dass die Stimme von unten kam, nicht vom Dachboden, wo er den Ursprung des zischelnden Geräuschs vermutet hatte.
Er drehte sich noch einmal langsam auf seinem Bürostuhl um, und nachdem er einen weiteren Kreis von dreihundertsechzig Grad beschrieben hatte, war er sich ziemlich sicher, dass der Nachrichtensprecher – falls es das war, was er gehört hatte – in einer Fremdsprache redete, aber in keiner, die er identifizieren konnte. Die Stimme veränderte sich mit jedem Moment, der verging, wurde drängender und eindringlicher, als verbreite sie eine Warnung.
Nein, keine Warnung. Eine Drohung.
Fielding war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass er paranoid sein könnte, wie es ihm das Mädchen vorgeworfen hatte, das er für würdig befunden hatte, sein Bett zu teilen. Das hieß aber nicht, dass er sich irrte, was die Geheime Weltordnung und die Herrschende Elite anging, oder dass sein Ermittlungsergebnis auf falschen Voraussetzungen beruhte. Er konnte vollkommen richtig liegen und paranoid sein. Die beiden Sachverhalte schlossen sich nicht gegenseitig aus. Tatsächlich war die Paranoia sogar unerlässlich für sein Überleben, falls er recht hatte.
Der Sprecher, der eindeutig etwas anderes als Englisch von sich gab, schien plötzlich nicht mehr eine Stimme zu sein, sondern viele, eine Horde von murmelnden Verschwörern, die einander zum Handeln, zum Angriff, zum Begehen einer ungeheuerlichen Tat drängten, und zwar jetzt, sofort, auf der Stelle.
Alarmiert und in der festen Überzeugung, dass er den Tonfall und die Absicht der Sprecher korrekt deutete, erhob sich Fielding von seinem Bürostuhl.
Ein tiefes Rumpeln grollte durch das Gebäude und er nahm subtile Vibrationen im Fußboden wahr. Etwas Ähnliches war schon vorher passiert, ein paar Male, aber er war zu sehr in seine Nachforschungen im Internet vertieft gewesen, um wirklich darauf zu achten.
Was bisher nicht vorgekommen war, waren die schimmernden, wogenden Massen aus blauem Licht, die knisternd über die Decke zogen. Alle kleinen Metallgegenstände auf dem Schreibtisch – Stifte, Büroklammern, Scheren – erhoben sich in die Luft, sausten zur Decke, bebten dort in funkelnder Bläue und prasselten zurück auf den Boden, als das eigenartige Leuchten stockend endete.
In diesem instabilen Kosmos, der sich durch unaufhörliche Katastrophen auszeichnete, konnte alles jederzeit passieren. Das war nicht nur Fieldings Philosophie, sondern auch ein Teil der Wahrheit, die er entdeckt hatte. Und jetzt schien es, als würde jeden Moment etwas Unerhörtes demonstriert.