9 Apartment 2-A
Der fast neun Jahre alte Winny hatte sich in seinem Zimmer auf einem Sessel zusammengerollt und sah sich drei Bücher an, um zu entscheiden, welches er als Nächstes lesen wollte. Offiziell war er ein Viertklässler, aber lesen konnte er wie ein Schüler der siebten Klasse. Er war getestet worden. Es stimmte. Er platzte nicht vor Stolz darauf. Er wusste, dass er weder klug noch sonst was war. Wenn er klug wäre, wüsste er, was man zu anderen sagte. Er wusste nie, was er zu irgendwelchen Leuten sagen sollte. Seine Mom behauptete, er sei schüchtern, und vielleicht war er das ja, aber auch das änderte nichts daran, dass er einfach nicht wusste, was er sagen sollte, und ein wirklich kluger Mensch hätte das gewusst.
Dass er so gut lesen konnte, lag nur daran, dass er schon las, solange er zurückdenken konnte. Erst Bilderbücher mit ein paar Wörtern. Dann Bücher mit weniger Bildern und mehr Wörtern. Dann Bücher, die gar keine Bilder mehr hatten. Derzeit las er vorwiegend Jugendbücher, Romane für junge Menschen. Aber in wenigen Jahren würde er wahrscheinlich tausendseitige Bücher für Erwachsene lesen, was auch immer, es sei denn, er las so viel, dass sein Kopf platzte. Dann wäre Schluss damit.
Sein Dad, der in Nashville und Los Angeles zu Hause war und weniger oft vorbeikam als der Paketpostbote und fast so selten wie der Weihnachtsmann, wollte nicht, dass Winny seine Nase ständig in Bücher steckte. Er behauptete, jeder Junge, der die ganze Zeit Bücher las, könnte sich in einen Waschlappen oder sogar in einen Autisten verwandeln, was auch immer das war. Sein Dad wollte, dass er sich mehr mit Musik befasste. Winny mochte Musik, aber er mochte sie nicht so sehr wie das Lesen und das Schreiben.
Außerdem würde er niemals im Musikgeschäft arbeiten. Sein Dad war ein bekannter Sänger und seine Mom genoss als Songwriterin einen gewissen Ruhm, aber Winny wollte niemals für irgendetwas berühmt werden. Was Schlimmeres als berühmt zu sein und nie zu wissen, was er sagen sollte, konnte er sich nicht vorstellen; alle würden an seinen Lippen hängen, über die dann doch kein Wort käme. Das wäre, als fiele man zwanzigmal am Tag vor aller Augen mit der Fresse in den Dreck. Und das an jedem einzelnen Tag seines Lebens. Im Musikgeschäft schienen immer alle zu wissen, was sie sagen sollten. Manche hielten nie den Mund. Die Musik konnte man glatt vergessen.
Es konnte durchaus sein, dass Winny ein Waschlappen war, wie sein Vater es befürchtete. Er wusste es nicht. Ihm gefiel die Vorstellung, es nicht zu sein. Aber er war noch nie auf die Probe gestellt worden. Vier Tage in der Woche besuche er die Grace-Lyman-Schule, die von Mrs. Grace Lyman gegründet worden war. Sie war schon vor dreißig Jahren gestorben, aber es war eine exklusive Schule, obwohl sie längst tot war. Natürlich war sie nicht mehr in der Schule. Sie bewahrten ihren Leichnam nicht in einem großen Gefäß auf oder so. Das wäre cool gewesen, aber sie taten es nicht. Er wusste nicht, wo ihre Leiche war. Niemand sprach jemals darüber. Vielleicht wusste es keiner. Grace Lyman war tot, aber der Schulbetrieb lief immer noch nach ihren Regeln ab, und eine ihrer Regeln war null Toleranz gegenüber Schülern, die andere schikanierten. Doch wenn er nie in direkten Kontakt mit jemandem kam, der ihn schikanieren wollte, konnte er sich eben auch nicht sicher sein, ob er ein Waschlappen war oder nicht.
Er könnte sogar ein Mörder sein. Wenn jemand anfing, ihn rumzuschubsen, und ihn richtig in Rage brachte, würde er vielleicht zum Berserker und dem Kerl den Kopf abreißen oder so was. Er glaubte nicht, dass er ein durchgedrehter Killer war, aber er war nie auf die Probe gestellt worden. Eines hatte Winny aus Büchern gelernt: Man musste im Leben auf die Probe gestellt werden, um herauszufinden, wer und wozu man fähig war. Hoffnungsloser Waschlappen, edler Krieger, Irrer – er konnte alles sein und würde es nicht wissen, bevor er auf die Probe gestellt wurde.
Was er niemals sein konnte, war Weihnachtsmann. Niemand konnte Weihnachtsmann sein. Der Weihnachtsmann war nicht echt, im Gegensatz zum Paketpostboten. Diese Entdeckung hatte Winny erst kürzlich gemacht. Er war sich nicht sicher, wie er dazu stehen sollte. Anfangs war er traurig gewesen. Es war ihm vorgekommen, als sei der Weihnachtsmann gestorben. Aber die Traurigkeit hatte nicht lange angehalten. Eine Person, die es nie gegeben hatte, konnte nicht sterben, man konnte ihr nicht nachtrauern. In erster Linie kam sich Winny vor wie ein Idiot, weil er überhaupt so lange an das ganze dumme Getue um den Weihnachtsmann geglaubt hatte.
Jetzt konnte er also nicht mehr ehrlich behaupten, sein Dad käme so selten wie der Weihnachtsmann, weil der Weihnachtsmann in Wahrheit nie kam, sein Dad dagegen manchmal. Natürlich hatte er seinen Dad schon lange nicht mehr gesehen, und vielleicht würde sich irgendwann rausstellen, dass es seinen Dad auch nie gegeben hatte. Winny bekam ab und zu einen Telefonanruf, aber das konnte eine Finte sein, der Typ am anderen Ende der Leitung könnte jeder sein. Wenn sein Dad an Weihnachten zu Besuch kam, brachte er Winny mit, was er ihm immer mitbrachte: ein oder zwei Musikinstrumente, einen Packen CDs, nicht nur seine eigenen, sondern auch CDs von anderen Sängern, und eine Autogrammkarte, falls er eine neue hatte. Jedes Mal, wenn Farrel Barnett ein neues Fanfoto aufnahm, sorgte er dafür, dass Winny ein Exemplar erhielt. Auch wenn es den Weihnachtsmann nicht gab, brachte er bessere Geschenke als Winnys Dad, den es höchstwahrscheinlich gab, obwohl man das nie so genau sagen konnte.
Winny hatte sich fast entschieden, welches der drei Bücher er lesen würde, als der Boden und die Wände bebten. Die Lampe auf dem Tisch neben seinem Sessel hatte eine Zugschnur, die jetzt hin und her schwang und klirrend gegen den Lampenständer schlug. An den Fenstern raschelten die Vorhänge ein wenig, als setzte sie ein Luftzug in Bewegung, doch es zog nicht. In dem offenen Bücherregal, das in das Kopfende seines Betts integriert war, vibrierten Spielfiguren aus Dragonworld auf dem Holz. Sie ruckelten herum, als erwachten sie zum Leben. Sie ruckelten ganz beachtlich herum. Aber natürlich waren sie noch toter als die alte Grace Lyman.
Winny blieb sitzen, während es bebte, grelle Blitze vor den Fenstern loderten und Donnerschläge dröhnten. Er hatte keine Angst. Er würde sich nicht in die Hose machen oder so was. Aber er war auch nicht ruhig und gefasst. Er war irgendwo dazwischen. Er kannte kein Wort dafür, wie er sich fühlte. In den letzten paar Tagen ereigneten sich seltsame Dinge im Pendleton. Ganz sonderbare Dinge. Aber sonderbar musste nicht immer beängstigend sein. Manchmal war sonderbar echt interessant. Letztes Jahr hatte ihm sein Dad zu Weihnachten ein vergoldetes Saxophon geschenkt, das fast so groß wie Winny war. Das war zwar reichlich sonderbar, aber es war weder interessant noch beängstigend, sondern einfach nur auf eine blöde Art und Weise sonderbar.
In den vergangenen zwei Tagen war ihm zweimal etwas Sonderbares und Interessantes zugestoßen, das er für sich behalten hatte. Er hätte seiner Mutter gern von den seltsamen Erlebnissen erzählt, aber er hatte den Verdacht, dann würde sie glauben, sie müsste seinen Vater benachrichtigen. Aus gutem Grund versuchte sie ständig, den alten Farrel Barnett in das Leben seines Sohnes einzubeziehen. Sein Dad würde bestimmt überreagieren, und ehe Winny sich versah, würde er zweimal in der Woche zum Seelendoktor geschickt, es würde zu einem Kampf um das Sorgerecht kommen und ihm würde Nashville oder Los Angeles blühen.
Als das Beben nachließ, warf Winny einen Blick auf den Fernseher. Er war stumm, der Bildschirm dunkel. Obwohl der Acrylbildschirm nicht so gründlich poliert war, dass er sich darin spiegelte, wie er auf dem Sessel saß, schien er auch nicht flach zu sein, sondern bedrohliche Untiefen zu haben, wie ein trüber Wassertümpel im Schatten eines Waldes. Der Schein seiner Leselampe auf dem Bildschirm schien das bleiche, verzerrte Gesicht eines Ertrinkenden zu sein, der dicht unter der Oberfläche trieb.
* * *
Twyla eilte aus ihrem Arbeitszimmer zu Winnys Zimmer am anderen Ende der großen Wohnung, die auf mehr als dreihundertzwanzig Quadratmetern Wohnraum acht Zimmer, drei Bäder und eine Küche umfasste – eine der beiden größten Wohneinheiten des Gebäudes. Sie klopfte an seine Tür und er rief »Komm rein«, und als sie über die Schwelle trat, fand sie ihn auf dem Sessel vor, die Beine unter sich gezogen und drei Bücher auf dem Schoß.
Er strahlte von innen heraus, zumindest in ihren Augen, doch sie glaubte, dass nicht nur sie das so empfand, denn sie hatte schon oft gesehen, dass andere Leute ihn anstarrten, als fesselte sein Äußeres gegen ihren Willen ihre Aufmerksamkeit. Er hatte ihr dunkles Haar – beinah schwarz – und die blauen Augen seines Vaters, doch sein Reiz beschränkte sich nicht auf das Aussehen. Trotz seiner Schüchternheit und seiner Zurückhaltung besaß er eine unbeschreibliche Eigenschaft, die andere Menschen schon bei der ersten Begegnung für ihn einnahm. Falls man von einem so jungen Knaben behaupten konnte, er besäße Charisma, dann war Winny charismatisch, schien sich dessen jedoch überhaupt nicht bewusst zu sein.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Liebling?«, fragte sie.
»Klar. Mir fehlt nichts. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Was war das für ein Beben?«, sagte sie verwundert.
»Du weißt es nicht? Ich dachte, du wüsstest es.«
»Ich glaube nicht, dass es ein Erdbeben war.«
Er sagte: »Vielleicht ist im Keller etwas explodiert.«
»Nein. Das hätte Alarm ausgelöst.«
»Es war nicht das erste Mal.«
»Wann war denn das erste Beben?«
»Eher, aber es war nicht so schlimm. Vielleicht wird irgendwo etwas gesprengt. Von irgendwelchen Bauarbeitern oder sonst jemandem.«
Sein Schlafzimmer hatte eine drei Meter sechzig hohe Kassettendecke mit einem verschnörkelten Medaillon aus vergoldetem Gips in jeder Kassette und außerdem eine exquisite Wandtäfelung, die vor vergoldetem Hintergrund mit einer Szene im japanischen Stil bemalt war, Libellen und Bambus. Beides war noch aus dem ursprünglichen Pendleton erhalten.
Diese nahezu einschüchternde Eleganz wurde durch Winnys Spielsachen und seine Bücher ausgeglichen, doch Twyla fragte sich – und das nicht zum ersten Mal –, ob sie einen Fehler gemacht hatte, als sie diese Wohnung gekauft hatte, und ob das eine angemessene Umgebung für ein Kind war. Es war ein sicheres Gebäude in einer sicheren Stadt, ein privilegiertes Ambiente, um darin aufzuwachsen. Aber es gab nicht viele Kinder im Pendleton. Winny hatte kein Interesse an Spielkameraden; er schien sich stets mit sich selbst beschäftigen zu können. Doch um seine Schüchternheit zu überwinden, brauchte er den Umgang mit gleichaltrigen Kindern, nicht nur in der Schule, sondern auch zum Spielen.
Twyla setzte sich auf den Hocker vor dem Sessel ihres Sohnes und sagte: »Schätzchen, gefällt es dir eigentlich hier im Pendleton?«
»Ich will nicht in Nashville oder in L. A. leben«, sagte er sofort.
»Nein, nein«, sagte sie. »Das meinte ich nicht. Ich will auch nicht dort leben. Ich meine, vielleicht könnten wir ein Haus in einer normalen Wohngegend finden, nicht so schick wie hier, ein Haus mit einem Garten, vielleicht in der Nähe eines Parks oder so, wo es jede Menge andere Kinder gibt. Wir könnten uns einen Hund zulegen.«
»Wir könnten uns auch hier einen Hund zulegen«, sagte Winny.
»Ja, das ginge, aber in der Stadt ist es nicht so einfach, sich um einen Hund zu kümmern, wie es in einem Vorort wäre. Hunde haben gern Auslauf.«
Er blickte finster. »Du kannst sowieso nicht einfach in eine normale Wohngegend ziehen, weil du bist, wer du bist.«
»Wer bin ich denn? Ich bin einfach nur ich, nichts weiter als jemand, der Songs schreibt. Ich bin niemand Besonderes.«
»Du warst schon öfter im Fernsehen. Dieses eine Mal hast du sogar im Fernsehen gesungen. Und du hast wirklich gut gesungen.«
»Ich bin in einem ganz normalen Stadtteil aufgewachsen, weißt du. Ehrlich gesagt, war es sogar ein eher schäbiges Viertel.«
»Ich mache mir sowieso nicht viel aus Parks. Da bekomme ich immer einen juckenden Ausschlag oder so was. Du weißt doch, dass ich diesen Ausschlag bekomme. Oder ich kann nicht mehr aufhören zu niesen, wegen der Blumen und Bäume und all dem Zeug. Vielleicht macht es ja Spaß, im Winter in einen Park zu gehen, verstehst du, wenn alles tot und gefroren und mit Schnee bedeckt ist, aber den größten Teil des Jahres über ist ein Park für mich nicht so toll.«
Sie lächelte. »Dann ist ein Park für dich also so etwas wie ein kleines Stückchen Hölle hier auf Erden, was?«
»Ich weiß nicht, wie es in der Hölle ist, abgesehen davon, dass es dort wahrscheinlich heiß ist. Die Hölle muss schlimmer sein als der Park, weil sie der schlimmste Ort von allen ist. Lass uns doch einfach bleiben, wo wir sind.«
Sie liebte Winny so sehr, dass sie es am liebsten laut herausgeschrien hätte. So viel Liebe ließ sich kaum in Schach halten. »Ich möchte, dass du glücklich bist, Kleiner.«
»Ich bin glücklich. Bist du glücklich?«
»Ich bin mit dir glücklich«, sagte sie. Seine Füße steckten in Socken. Sie nahm seinen rechten Fuß an den Zehen und schüttelte ihn liebevoll. »Wenn du da bist, bin ich glücklich, ganz egal, wo.«
Er wandte den Blick ab, weil ihm ihre Liebeserklärung peinlich war. »Mir gefällt es hier gut. Das Haus ist cool. Es ist so anders.«
»Wenn du willst«, sagte sie, »könntest du jederzeit Kinder aus der Schule für einen Samstagnachmittag oder zu einer Pyjamaparty einladen.«
Stirnrunzelnd sagte er: »Was für Kinder?«
»Wen du willst. Deine Freunde. Einen oder zwei oder gleich eine ganze Horde, wie du willst.«
Nachdem er gezögert hatte, weil ihn der Gedanke, Kinder nach Hause einzuladen, alarmierte, sagte Winny: »Oder wir beide, du und ich, wir könnten vielleicht in den Park gehen und so, wenn es das ist, was du willst.«
Als sie von dem Hocker aufstand, sagte sie: »Du bist ein Gentleman. Ein richtiger Gentleman.« Sie beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Um sechs Uhr gibt es Abendessen.«
»Ich bleibe bis dahin hier sitzen und lese.«
»Hast du Hausaufgaben auf?«
»Die habe ich schon im Wagen gemacht, auf der Rückfahrt von der Schule mit Mrs. Dorfman.«
Mrs. Dorfman, die Haushälterin, fungierte auch als Winnys Chauffeur.
»Das klingt nicht so, als sei es viel gewesen, für einen Schüler der Grace-Lyman-Schule.«
»Es war ein ganzer Haufen, aber es war Zeug, das total einfach für mich ist. Kein grässliches Mathe oder so was.«
Twyla hatte dem Jungen einmal erzählt, sie sei in Mathe gut gewesen, weil es eine Form von Musik war. Seitdem hatte Winny immer so getan, als fiele ihm Mathe schwer, denn er war wild entschlossen, mit allen Mitteln zu verhindern, dass man ihn drängte, Musiker zu werden.
Es blitzte, viel weniger heftig als vorher, aber statt aus dem Fenster zu schauen, wandte sich der Junge um und betrachtete den dunklen Fernseher in der Regal- und Schrankwand gegenüber seinem Bett. Seine Stirn zog sich in Falten und auf sein Gesicht trat eine wachsame Erwartungshaltung.
Als der Donner grollte, statt wie bisher zu krachen, überkam Twyla eine intuitive mütterliche Sorge. »Stimmt etwas nicht, Winny?«
Er sah ihr direkt in die Augen. »Was zum Beispiel?«
»Irgendwas.«
Nach kurzem Zögern sagte er: »Nein, es ist alles okay.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Mir geht’s gut. Ich fühle mich gut.«
»Ich hab’ dich lieb, mein kleiner Mann.«
»Ich dich auch.« Er errötete und schlug eines der Bücher in seinem Schoß auf.
* * *
Seine Mom war prima, die Beste, wahrscheinlich ziemlich genauso, wie es ein echter Engel gewesen wäre, wenn man mal davon absah, dass sie Dinge wie »mein kleiner Mann« sagte, was ein Engel niemals täte, denn ein Engel wüsste, dass es Winny peinlich war, wenn jemand so etwas zu ihm sagte. Er war klein, das stimmte schon, aber er war kein Mann. Er war nichts weiter als ein magerer Junge, den der Wind umpusten konnte. Er wartete schon länger darauf, dass sein Bizeps größer wurde als ein Pickel, aber da tat sich nichts, obwohl er schon fast neun Jahre alt war. Wahrscheinlich würde er sein ganzes Leben lang ein dürrer Junge bleiben, bis er sich plötzlich übergangslos in einem dürren alten Knacker verwandelte.
Aber seine Mom meinte es immer gut. Sie war nie gemein oder verlogen. Und sie konnte wirklich gut zuhören. Er erzählte ihr Dinge und sie interessierte sich dafür.
Als sie ihn gefragt hatte, ob etwas nicht stimme, da hätte er ihr vielleicht doch von seinen sonderbaren Erlebnissen in der letzten Zeit erzählen sollen, selbst wenn sie es seinem Dad erzählen würde. Vielleicht würde er ihr beim Abendessen von der Stimme berichten, die auf diesem sonderbaren Kanal im Fernsehen mit ihm sprach.
* * *
Zeuge stellte sich an das Klavier in Twyla Traherns Arbeitszimmer, als sie den Raum verließ, mit dem Rücken zu ihm, ohne wahrzunehmen, dass er hinter ihr war. Er folgte der Frau zur Tür und blieb gerade lange genug auf der Schwelle stehen, um sicherzugehen, dass sie sich in die Küche begab, höchstwahrscheinlich, um für sich und ihren Sohn das Abendessen zuzubereiten.
Was auch immer sie vorzubereiten gedachte – sie würden nicht hier sein, um es zu essen. Die Zeit wurde knapp und der Moment rückte bedrohlich näher.
Zeuge schlenderte zum Klavier zurück und blieb vor der Vitrine mit Twylas Auszeichnungen als Songwriterin stehen. Sie hatte schon viel erreicht und bemerkenswerten Erfolg gehabt, bevor sie dreißig wurde. Er erinnerte sich an ihre Songs, weil er nichts vergaß. Überhaupt nichts. Er hatte die CD besessen, die sie aufgenommen hatte, die, auf der sie ihre eigenen Kompositionen sang, mit einer warmen, kehligen Stimme.
Dort, wo er herkam, gab es keine Songwriter, keine Songs, keine Sänger, keine Musiker, kein Publikum. Der Morgen dämmerte unbesungen und im Laufe des Tages und der Nacht wurde die Atmosphäre nicht ein einziges Mal durch einen Ton der Musik der Natur aufgehellt. Unter den letzten Menschen, die er getötet hatte, waren ein Mann gewesen, der mit großer Raffinesse Gitarre spielen konnte, und ein junges Mädchen von vielleicht zwölf Jahren, dessen Stimme klar, lieblich und engelhaft geklungen hatte.
Damals war er nicht er selbst gewesen. Früher einmal hatte er das Recht und die Musik geliebt. Aber dann hatte er sich verändert, war verändert worden, in mancher Hinsicht absichtlich, in anderer nicht. Einst hatte er Musik genossen. Jetzt, da er ohne Musik lebte, verehrte er sie.
Seine Verehrung vermochte ihn allerdings nicht in Twyla Traherns Arbeitszimmer festzuhalten. Alles löste sich flimmernd auf.