Silas Kinsley

In dem düsteren gelben Licht wichen die öligen Schatten vor dem Schein der Taschenlampe zurück und der riesige Raum schien fast unter Wasser zu stehen, da die Strahlen von oben durch zahllose Faden Tiefe gefiltert wurden. Die kaputten und verrosteten Geräte im Versorgungsraum türmten sich auf und neigten sich zur Seite wie ein untergegangenes Schiff, das schon seit langer Zeit auf dem Meeresboden liegt.

Es war still im Keller, bis auf ein kaum wahrnehmbares Säuseln, das Zugluft sein konnte, die irgendwo anders im Gebäude ihren Ursprung hatte und durch das Labyrinth von Leitungen kam, die schon lange kein Wasser mehr für die Heiß- und Kühlwasseranlage führten und an manchen Stellen gebrochen oder von den Kniestücken abgekoppelt waren. In Anbetracht der Umstände gelang es Silas nicht, den Verdacht zu unterdrücken, dass er nicht nur einen Luftzug hörte, sondern stattdessen das Flüstern von Menschen, die ihn hinter der Deckung der Geräte überwachten, die nicht mehr in Betrieb waren. Oder wenn nicht Menschen, dann könnte vielleicht in der Nähe ein Geschöpf wie das lauern, das Perry Kyser, der Baustellenleiter, 1973 gesehen hatte, die Abscheulichkeit, die mit der gemarterten Stimme des vermissten Malermeisters zu ihm gesprochen hatte.

Mit der Pistole des Wächters in der Hand begab sich Silas tiefer in das Labyrinth hinein. Er musste sich möglichst große Klarheit über die herrschende Situation verschaffen. Wenn er der Furcht gestattete zu triumphieren, würde er Entscheidungen treffen, die mehr auf Gefühlen als auf Vernunft gründeten, und das würde auf schnellstem Weg zu seinem Tod führen.

Der Abfluss im Boden dieses Kellers schien zu einem System zu gehören, durch das in regelmäßigen Abständen massive Entladungen magnetischer oder anderer Formen von Energien die Gegenwart dazu brachten, sich kurzfristig in die Zukunft einzubinden. Die Intuition des Anwalts sagte ihm, hier im Epizentrum würde er wahrscheinlicher als anderswo entscheidende Hinweise finden, die ihm und seinen Nachbarn, wenn man sie zu einer Beweiskette verknüpfte, helfen könnten, dem Todesurteil zu entgehen.

Der Schein seiner Taschenlampe glitt über eines der Kälteaggregate. Das dünne Blechgehäuse war von Einschusslöchern durchsiebt und in einigen davon hatten Spinnen begonnen, winzige Netze zu weben, als seien sie zu erschöpft gewesen, um großflächigere architektonische Gebilde zu bauen. Je weiter Silas ging, desto mehr Einschusslöcher, Spuren von Querschlägern und von Kugeln zerschmetterte Messgeräte fand er. Er sah herumliegende Patronenhülsen aus Messing, erst Dutzende und dann Hunderte, durch die er behutsam lief, wobei es unvermeidlich war, dass einige davonrollten und andere ein schwaches, aber melodiöses Klirren wie Feenglöckchen von sich gaben.

Er rechnete damit, die Überreste der Kämpfer nach einer der nächsten Biegungen zu finden, was auch bald der Fall war, doch es waren nicht die Überreste von Männern. In einem Gang zwischen Boilern und Wasserenthärtern lagen nebeneinander zwei Skelette, denen die Eckigkeit und die knubbeligen Gelenke menschlicher Knochen fehlten. Diese Exemplare lagen nicht ungeordnet und gespreizt durcheinander, nicht in den spreizbeinigen und fast schon komischen Posen hingefallener menschlicher Skelette, die immer den Anschein erweckten, sie seien am Ende eines grotesken Tanzes auf den Boden gefallen. Vom Tode entblößt waren diese Knochen anmutig, so geschmeidig wie die Striche eines meisterlichen Kalligrafen, der darauf bedacht war, aus Sätzen in handschriftlicher Prosa visuelle Kunst zu machen. Vielleicht zwei Meter zehn groß. Zweibeiner. Zusätzliche Knöchel und Finger- und Zehenglieder in ihren langen Füßen und Händen. Sechs Zehen an jedem Fuß, der erste und der sechste länger als die anderen vier, sicher gut zum Klettern. Ihre Schädel waren nicht so rund wie die von Menschen, sondern eher wie ein großer Football ohne die zugespitzten Enden geformt. Ihre Kiefer waren lang und kräftig, damit sie ordentlich zubeißen konnten, die Zähne furchterregend, das Todesgrinsen breit und haifischartig.

Die Taschenlampe zeigte auch, dass diese Knochen nicht weiß, sondern grau waren, und sogar die Zähne waren grau. Der einheitliche Farbton wies darauf hin, dass sie immer grau gewesen waren und dass es sich nicht um eine Farbveränderung handelte, die auf die seither vergangene Zeit oder auf Flecken zurückzuführen war, die verwesendes Fleisch hinterlassen hatte. Als Silas in die Hocke ging und einen der Arme hochhob, fühlte er sich viel leichter an als Knochen, aber als er ihn fallen ließ, erzeugte das Auftreffen auf den Beton einen nahezu metallischen Klang.

Nicht weit von den beiden ersten Skeletten fand er drei weitere von ihrer Sorte. Aus den Knochen konnte er mit ziemlich großer Sicherheit die Schlussfolgerung ziehen, dass diese Geschöpfe stark, wendig und sehr schnell gewesen waren. Sogar im Tod wiesen ihre Zähne sie noch klar und deutlich als raubtierhafte Wesen aus.

In der südwestlichen Ecke des langen Raumes entdeckte er schließlich vierzehn menschliche Skelette, die mit den Rücken an der Wand lehnten, zehn Erwachsene und vier Kinder. Kein Fleisch klebte mehr an ihren Knochen, und in der Feuchtigkeit des Kellers waren ihre Kleidungsstücke ebenfalls zum größten Teil vermodert. Da er die intensiven Flüssigkeiten der Verwesung aufgenommen hatte, war der Beton um sie herum dunkel gesprenkelt. Obwohl seit dem Tod dieser Unglücklichen viel Zeit vergangen sein musste, glaubte Silas, immer noch einen schwachen Hauch von Fäulnis riechen zu können, eine Art olfaktorischer Spuk an diesem zutiefst gespenstischen Ort.

Das Skelett eines der Erwachsenen biss immer noch auf den abgesägten Lauf einer Schrotflinte mit Pumpaction und Pistolengriff, die sich nicht von der Stelle bewegt hatte, als sie ihm den Hinterkopf weggesprengt hatte. Zwei weitere Erwachsene mit abgesägten Schrotflinten. Bleibende Flecken an der Wand brachten Silas dazu, sich alle vierzehn genauer anzusehen, und er entdeckte Austrittswunden in der Rückseite sämtlicher Schädel. Hier in der untersten Etage des Gebäudes, in dem fensterlosen Keller, hatten sie sich den Raubtieren ein letztes Mal entgegengestellt – und ihre letzte Munition für sich selbst aufgehoben. Die Erwachsenen hatten offenbar zuerst die Kinder getötet, um sie vor den Gräueln zu bewahren, die ihnen die Raubtiere angetan hätten.

Vielleicht waren diese Menschen die letzte Generation der Pendleton-Bewohner gewesen, bevor das Gebäude verfallen war. Und jetzt konnte Silas die Frage nicht mehr umgehen, die er sich nicht hatte stellen wollen, weil es ihm widerstrebte; er konnte es nicht länger hinauszögern, nach oben zu gehen und dort nach Antworten zu suchen: Wenn dieses prachtvolle Haus ein so bitteres Ende genommen hatte und wenn fantastische Bestien unbekannten Ursprungs in seinen Räumen umherschlichen, was war dann aus dem Rest der Welt geworden?

Nachthaus
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