7

Der Rittmeister von Prackwitz sprang eilig aus der Autodroschke, zahlte und lief die Stufen zu der Eingangshalle des Schlesischen Bahnhofs hinauf. Zwar war es noch eine gute halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges, aber er mußte ja auch noch seine Leutekolonne vom Vermittler übernehmen, mit dem Mann abrechnen, Sammelfahrschein ausstellen lassen …

Trotz der durchwachten Nacht fühlte der Rittmeister sich unternehmend und hoffnungsvoll – daß er nicht allein, nicht mehr ohne Freunde nach Neulohe zurückfuhr, war gut. Und dann wehte hier am Schlesischen Bahnhof etwas von der Luft des Ostens. Am Alexanderplatz dachte man nur noch an Berlin, fühlte man nur die Riesenstadt – hier am Schlesischen Bahnhof dachte man an Felder und Ernte … Es galt die Neuloher Ernte gut hereinzubringen –!

Wie vom Blitz getroffen blieb der Rittmeister unter dem Türbogen stehen. Er stand, starrte, spähte – ungeduldig wies er mit einem Kopfschütteln einen Gepäckträger von sich … Nun trat er etwas zurück, voll Angst, entdeckt zu werden …

Es war schon so, nur ihm konnte das passieren: der Arbeitgeber versteckte sich vor seinen Arbeitern, bekam bei ihrem Anblick Angst!

Dort an der Treppe standen sie, ein Haufe, eine Horde – der Rittmeister zweifelte keinen Augenblick, daß dies seine Leute sein sollten, obwohl der Vermittler im Augenblick nicht zu entdecken war.

»O Gott!« stöhnte der Rittmeister aus tief verwundetem Herzen, »und so was will bei mir Roggen puppen, dies will Kartoffeln buddeln, diese Horde in Neulohe leben …«

Junge Bengel, die Schiebermütze keß aufs Ohr gesetzt, den Zigarettenstummel im Mundwinkel, mit unendlich weiten, scharf gebügelten Hosen bis zur Schuhspitze, das Chaplinstöckchen kokett in der Hand … Andere Lümmel, langsträhnig, entweder ohne Kragen oder mit verschmutztem Schillerkragen, das Hemd über der Brust offen, die Arme blau und rot tätowiert wie die Brust, zerrissene Hose, barfuß oder ausgelatschte Turnschuhe … Zwei Straßenmädchen mit fast weißem, gebleichtem Haar, in Seidenfähnchen, auf Stöckelschuhen aus Lackleder … Ein uralter Mann mit Nickelbrille, sein schwarzer Gehrock hing traurig über die dürren Lenden, eine Botanisiertrommel hing am Bindfaden von der schrägen Achsel … Wieder ein Mädchen, irgendeine grüngestreifte Flanellbluse über den Brüsten wie Mehlsäcken – ein schreiendes Kind auf dem Arme …

»O mein Gott!« stöhnte der Rittmeister wieder.

Und nicht ein Stück Gepäck, keine Margarinekistchen, nicht einmal ein Persilkarton – nur diese eine verbeulte grüne Botanisiertrommel, Gemeinschaftsgepäck aller.

Nicht einmal sechzig Zahnbürsten hätten in dem Dings Platz, geschweige denn sechzig Hemden!

Und das alles schob sich in bester Laune, lachend, schwatzend, Schlager pfeifend und johlend durcheinander; zwei knutschten sich schon, auf einer Treppenstufe sitzend … Ungeniert wurden vorbeieilende Reisende angerufen, verspottet, angebettelt …

»Eine Zigarette, Herr Chef, bitte, schenken Sie mir eine Zigarette!« Und der Bengel nahm dem Verblüfften die brennende Zigarette aus dem Munde. – »Danke, Herr Chef, ich bin nicht so, wir haben alle dieselbe Krankheit …«

Die Fahrt nach Neulohe, das Einbringen der Ernte: eine Landpartie, ein willkommener Ulk für diese – Bande!

»Bande!« knirschte der Rittmeister. – Und aufgeregt zu dem mit einem Handkoffer anlangenden von Studmann: »Sieh dir diese Bande an! Und so was will auf dem Lande arbeiten! In Lackschuhen – mit Shimmyhosen!«

»Schlimm!« sagte von Studmann nach kurzer Musterung. »Nimm sie einfach nicht. Du hast doch Landarbeiter verlangt!«

Der Rittmeister sagte ein wenig verlegen: »Aber ich muß Leute haben! Die Ernte verfault mir draußen!«

»So such andere. Auf einen Tag kann es nicht ankommen. Fahren wir morgen!«

»Aber jetzt, mitten in der Erntezeit, gibt es keine vernünftigen Leute. Jeder hält fest, was er hat. Und kein Aas will aufs Land – lieber verhungern sie hier bei ihren Kinos.«

»So nimm diese – zu irgend etwas werden sie schon zu gebrauchen sein.«

»Und mein Schwiegervater –?! Meine Schwiegermutter –?!! Ich mache mich ja unsterblich lächerlich, die lachen mich ja aus, ich bin ja ein erledigter Mann, wenn ich mit diesen Leuten ankomme! Das sind ja alles Nutten und Zuhälter!«

»Ziemlich verwahrlost sehen sie aus – aber wenn du Arbeiter haben mußt! – Was willst du also tun?«

Der Rittmeister vermied eine direkte Antwort: »Ich sage dir, Studmann«, sagte er ärgerlich, »ich hab’s mir nicht leicht gemacht. Ich bin kein Landwirt, da hat mein Schwiegervater recht; ich lese, ich überlege, ich renne von früh bis spät, aber ich mache doch viel Bockmist, zugegeben! Einfach, weil ich den Dreh nicht so kenne … Und nun ist mir wirklich was gewachsen, keine Bombenernte, aber doch ganz erträglich – es steht draußen, es müßte rein – und nun dies: keine Leute! Es ist zum Verzweifeln!«

»Aber warum hast du denn keine Leute, wenn andere sie doch haben. Verzeih, Prackwitz, aber du sagtest vorhin selbst: die halten sie alle fest.«

»Weil ich kein Geld habe! Die andern engagieren sich ihre Leute im Frühjahr, ich habe mir so lange hingeholfen. Ich habe das Engagement bis zum letzten Augenblick aufgeschoben, um Löhne zu sparen … Sieh mal, Studmann, mein Schwiegervater ist ein reicher Mann, ein schwerreicher Mann, aber ich habe nichts. Schulden habe ich! Er hat mir den Hof verpachtet, wie er steht und geht, mit allem Inventar, ich habe kein Geld dazu gebraucht. Bis jetzt habe ich mir noch immer so durchgeholfen, ein bißchen Kartoffeln verkaufen, ein bißchen Vieh – das hat die Löhne gebracht und was wir so zum Leben brauchen. Aber jetzt, jetzt muß Geld rein! Sonst bin ich erledigt, ratzekahl pleite! Und das Geld ist da, es steht auf dem Felde – ich brauche nur einzufahren, zu dreschen, zu liefern, und ich habe Geld! Und da kriege ich solche Leute! Aufhängen müßte man sich!«

»Ich weiß nicht, wieviel Millionen Arbeitslose wir haben«, sagte von Studmann. »Es werden ja alle Tage mehr. Aber für Arbeit gibt’s keine Arbeiter.«

Von Prackwitz hatte nicht hingehört. »Und ich nehme die Leute nicht!« sagte er mit grimmiger Entschlossenheit. »Vielleicht würden sie sogar ein bißchen was tun, in der ersten Zeit, solange sie kein Rückreisegeld und Hunger haben. Aber ich lasse mich nicht auslachen von der ganzen Gegend und der lieben Verwandtschaft! Ich mache aus meinem Leutehaus kein Bordell – sieh bloß mal, wie die beiden sich da antatschen auf der Treppe, ekelhaft – ich finde das zum Kotzen! – Und ich verderbe mir mein Neulohe nicht; mit den Leuten aus Altlohe ist es schon schwer genug … Nein, ich nehme sie nicht.«

»Und was tust du statt dessen? Da du doch Leute haben mußt –?«

»Ich will dir was sagen, Studmann. Ich rufe das Zuchthaus an, wir haben das Zuchthaus Meienburg bei uns in der Gegend, ich lasse mir ein Zuchthauskommando kommen. Lieber die Bengels, mit ein paar richtigen Wachtmeistern dabei, den Karabiner in der Flosse – als die hier! Das kann mir der Direktor im Zuchthaus nicht verweigern – und eventuell fahren wir beide mal hin zu ihm – jetzt habe ich ja dich zur Hilfe!«

Plötzlich lächelt der Rittmeister. Daß er einen richtigen Freund, mit dem er über alles reden kann, von nun an in seiner Nähe hat, wird ihm plötzlich wieder klar. Darum hat er ja auch in den letzten fünf Minuten mehr geredet als in fünf Monaten vorher.

Studmann nickt, und von Prackwitz sagt: »Sieh mal, Studmann, mein Schwiegervater hat ja wieder recht: ich bin kein Geschäftsmann. Da fahre ich in der eiligsten Zeit nach Berlin, lasse vierundzwanzig Stunden den ganzen großen Betrieb mit der Ernte, auf die alles ankommt, einem Schnösel und Windhund, gebe eine Menge Geld aus, verspiele noch mehr, komme mit einem Haufen Schulden bei dir und dem jungen Pagel zurück und bringe keine Leute, sondern tue das, was mir meine Nachbarn schon vor vier Wochen geraten haben: ich nehme ein Zuchthauskommando …«

Von Prackwitz lächelt; leise, sehr vorsichtig lächelt auch von Studmann.

»Na schön, also habe ich’s wieder mal verkehrt gemacht. Aber was weiter? Wir machen alle unsere Dummheiten, Studmann (mein Schwiegervater nämlich auch), aber die Hauptsache ist, daß wir unsere Dummheiten einsehen. Ich sehe sie ein! Ich mach sie besser. Aber ich mach weiter, Studmann, und du hilfst mir.«

»Natürlich!« stimmt Studmann zu. Aber wird es denn nicht Zeit mit unserm Zug? Du mußt wohl noch mit dem Vermittler reden? Und der junge Pagel ist auch noch nicht da!«

Aber von Prackwitz hört jetzt nicht. Macht es der Freund? Macht es das aufrüttelnde Erlebnis in der Nacht? Prackwitz ist redselig. Prackwitz will Geständnisse machen, Prackwitz möchte beichten.

»Du hast jetzt so lange im Hotel gearbeitet, Studmann, du hast sicher was weg von Buchführung und Geldeinteilung und Leutebehandlung. Ich brülle bloß immer gleich los. – Wir müssen es schaffen! Was –? Daß ich den Hof behalte! Ich weiß, mein Schwiegervater möchte ihn zu gerne wiederhaben. (Entschuldige, daß ich soviel von meinem Schwiegervater rede. Aber der ist mein rotes Tuch. Ich kann ihn nicht ausstehen, und er kann mich nicht ausstehen.) Der alte Herr kann mich nicht wirtschaften sehen. Und wenn ich nun zum ersten Oktober die Pacht nicht zusammenkriege, dann muß ich raus – und was mache ich dann?«

Er sieht von Studmann wütend an. Dann: »Aber sie steht draußen, Studmann, und wir kriegen sie rein, und überhaupt, wo ich dich jetzt habe, machen wir aus Neulohe ein Mustergut. Ach, Studmann, es ist ja doch ein Glück, daß ich dich getroffen habe! Erst, muß ich dir ja gestehen, habe ich wirklich einen Schreck gekriegt, als ich dich da im schwarzen Rock Dienerchen vor jeder aufgedonnerten Schickse machen sah … Was bist du gesunken, Studmann, dachte ich …«

»Da kommt Pagel!« rief Studmann, dem bei diesen Geständnissen des sonst so zurückhaltenden Prackwitz heiß und kalt wurde.

Denn das wird der Gute eines Tages bitter bereuen, denkt Studmann. Und dann nimmt er es mir übel, daß er heute so zu mir geredet hat!

Aber von Prackwitz ist wie betrunken, es muß wirklich hier die Luft am Schlesischen Bahnhof machen.

»Gepäck haben Sie ja genug, Pagel«, sagt er sehr wohlwollend. »Hoffentlich halten Sie so lange bei mir aus, daß Sie alles, was Sie da drin haben, einmal bei mir anziehen. Auf dem Lande wird nämlich gearbeitet, nicht gespielt! – Na ja, schon gut, ich habe es gar nicht so gemeint! Übrigens habe ich ja selber gespielt! Und nun seien Sie so gut und besorgen am Schalter drei Karten Zweiter, erst mal bis Frankfurt – und dann werden wir uns in der letzten Minute im Sturmlauf durchschlagen …«

»Aber willst du nicht erst mal mit dem Vermittler reden? Die Leute sind doch schließlich hierherbestellt …«

»Also holen Sie die Karten und kommen Sie dann gleich wieder hierher, Pagel. – Was soll ich denn mit dem Manne reden? Er hat mich reinlegen wollen, nun lege ich ihn rein!«

»Aber so macht man doch so was nicht, Prackwitz! Du brauchst doch die Auseinandersetzung nicht zu scheuen. Du kannst doch mit vollem Recht die Leute zurückweisen – es sind keine Landarbeiter. Man rennt doch nicht heimlich die Treppen rauf – wie ein Schuljunge …«

»Studmann! Ich bin kein Schuljunge!! Ich muß dich bitten …«

»Wie ein Schuljunge, habe ich gesagt, Prackwitz.«

»Also kurz und gut, Studmann, ich möchte es machen, wie ich es für richtig halte.«

»Aber ich denke, Prackwitz, du wolltest grade meinen Rat haben …«

»Natürlich, Studmann, natürlich! Zieh doch bloß kein Gesicht. Immer höre ich deinen Rat gerne, nur diesmal, siehst du … Die Wahrheit ist nämlich, daß ich dem Manne gesagt habe, die Leute können aussehen, wie sie wollen, wenn sie nur Hände zum Arbeiten haben …«

»Ach so!«

»Aber daß er da eine solche Bande schickt –! Dafür kann ich doch keine paar hundert Goldmark Provision zahlen! – Also bitte, geh mit Pagel voran, ich komme dann schon nach. Laß mich dieses eine Mal so handeln, wie ich möchte …«

»Gut, gut, Prackwitz«, sagt von Studmann nach kurzem Nachdenken. »Also dieses eine Mal noch. Richtig ist es zwar nicht, und es ist auch kein guter Anfang unserer Zusammenarbeit, aber …«

»Weg mit euch!« ruft der Rittmeister. »Raucher, Zweiter! Noch acht Minuten. Und dann Schluß mit Berlin – Gott sei Dank!«

Sehr nachdenklich steigt von Studmann neben dem jungen Pagel die Treppe zum Bahnsteig hoch.

Nehmen wir es also nicht als den Anfang der Zusammenarbeit, nehmen wir es als das Ende von Berlin!

Er ist froh, daß er nicht zu sehen braucht, wie der Rittmeister von Prackwitz sich durch einen Sturmlauf um das Zahlen einer Vermittlungsprovision drückt. Der Anblick des Rittmeisters bei andern Sturmläufen war ihm immer wohltuend gewesen. Verdammte Zeiten, die einen Mann so ändern konnten –!

»Also haben Sie sich doch entschlossen«, sagt er zum jungen Pagel. »Das ist schön von Ihnen.«

Wolf unter Wölfen
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