2

Jawohl, Herr von Studmann hatte recht gesehen: Wolfgang Pagel schrieb und bekam wieder Briefe. Und Herr von Studmann hatte auch darin recht: Wolfgangs neue Lebenslust, seine wiedererwachte Tatkraft hing mit diesen Briefen zusammen, obwohl noch nicht eine Zeile von Petra gekommen, an Petra geschrieben worden war. Trotzdem fröhlich. Trotzdem tatenlustig. Trotzdem alle Welt umarmend. Trotzdem geduldig mit dem Kinde Violet.

Als die alte Minna den ersten Brief des jungen Herrn vom Briefträger in Empfang genommen, als sie die Schrift erkannt, als sie den Absender gelesen hatte, da flogen ihr die Glieder so, daß sie sich erst einmal still auf den Stuhl in der Diele setzen mußte.

Und da wurde sie ganz ruhig und nachdenksam.

Ich darf die alte Frau nicht so erschrecken, dachte sie. Sie ißt nichts mehr, sie trinkt nichts mehr, sie tut nichts mehr, sie sitzt immer nur da und denkt nach. Und wenn sie meint, ich merke es nicht, zieht sie den Zettel aus der Tasche, den er ihr damals hingelegt hat, als er die Sachen heimlich wegholte, auf dem er geschrieben hat, daß er jetzt richtig arbeiten will und daß er nicht eher schreibt, bis er wieder zurecht ist. – Und nun hat er geschrieben!

Sie sah den Brief prüfend, mißtrauisch an.

Aber vielleicht steht doch wieder was Dummes drin, was sie aufregt und noch unglücklicher macht! Minna wurde immer zweifelhafter. Und vielleicht will er wieder nur Geld und sitzt irgendwo fest … Sie drehte den Brief um, aber auf der Rückseite waren bloß die Freimarken. Sie drehte ihn wieder um. Die Schrift ist ganz ordentlich, Wolfi hat schon schlimmer geschrieben. Und auch Tinte, nicht bloß Blei. Nicht so eilig hingekliert, er hat sich Zeit gelassen. Es steht vielleicht doch etwas Gutes darin …

Minna war eine Weile entschlossen gewesen, den Brief heimlich zu öffnen und, wenn gar zu schlimm, von sich aus zu beantworten. Wolfi war ja auch so etwas wie ihr Kind, sie hätte es getan, aber –: Aber wenn es eine Freude ist, soll sie auch zuerst die Freude haben. Ach, es wird schon nichts Schlimmes sein!

Und damit war sie von ihrem Stuhl aufgestanden, Ruhe und Entschlossenheit waren bei ihr eingekehrt. Sie legte den Brief so unter die Zeitung, daß nichts von ihm zu sehen war, und als die gnädige Frau sich unlustig und trübe an den Kaffeetisch gesetzt hatte, verließ Minna gegen alle Gewohnheit ihren Plauderposten unter der Tür, brummelte was von »Markthalle« und verschwand, taub für die Rufe ihrer Herrin. Sie rannte wirklich in die Markthalle auf dem Magdeburger Platz und erstand für neunzig Millionen Mark eine Bachforelle – da würde die gnädige Frau heute mittag endlich wieder mit Appetit essen!

Sie würde es wirklich! Das sah Minna sofort, als sie die Wohnungstür aufschloß. Die Gnädige stand schon auf der Lauer, und ihre Augen funkelten, wie sie in den letzten acht Wochen nicht mehr gefunkelt hatten!

»Alte Gans!« begrüßte sie ihre Getreueste. »Mußt du wirklich weglaufen, daß ich mit keinem Menschen ein Wort reden kann –?! Jawohl, der junge Herr hat geschrieben, er ist jetzt auf dem Lande, auf einem großen Gut, so etwas wie Lehrling. Aber er hat ziemlich viel Verantwortung, ich verstehe nichts davon – das mußt du selber lesen, der Brief liegt auf dem Kaffeetisch. Es geht ihm gut, und er läßt dich grüßen, und es ist wahrhaftig der erste Brief seit, ich weiß nicht wie lange, wo er kein Wort von Geld schreibt. Und bei der Entwertung könnte ich es ihm nicht mal übelnehmen, selbst wenn er das Geld von dem Bild noch hätte, wäre es nichts mehr wert! Er schreibt mächtig fidel, so fidel hat er noch nie geschrieben; es muß da eine Masse komische Menschen geben, aber er scheint mit allen gut auszukommen. Nun, du wirst es ja selbst lesen, Minna, warum soll ich dir das alles erzählen? Dabeibleiben bei der Landwirtschaft will er aber doch nicht, soviel Spaß es ihm macht; er schreibt, es ist so eine Art Sanatorium. Mir soll es recht sein, und wenn er wirklich Taxichauffeur wird, ich rede ihm nicht mehr rein. – Aber antworten tu ich ihm nicht, das kommt natürlich gar nicht in Frage, ich habe nicht vergessen, wie Sie mir gesagt haben, ich habe ihm alles zu leicht gemacht. – Und dabei sind Sie’s gewesen, die ihm immer die Bonbons zugesteckt hat, wenn er mal brüllte, Sie alte Superkluge! Ich hab gedacht, Sie antworten ihm erst einmal, und dann werden wir ja sehen, ob er gleich wieder schmollt und beleidigt ist. Dann ist es noch nichts mit dem Gesundwerden. Und, Minna, er möchte auch gern, daß wir eine Erkundigung einziehen. – Es ist mir nicht recht, nein, es ist mir gar nicht recht, aber ich rede ihm nicht wieder rein, und so können Sie sich heute nachmittag freinehmen und mal hören. Und heute abend schreiben Sie ihm sofort; wenn der Brief heute noch in den Kasten kommt, hat er ihn morgen. Aber vielleicht ist da Landbestellung, dann wird es einen Tag später. Übrigens, einen Gruß könnte ich vielleicht doch drunterschreiben …«

»Gnä’ Frau«, sagte Minna und sah mit gefährlich blitzenden Augen den Frühstückstisch an, den Brief aber gar nicht. Denn allmählich hatte sie ihre immer weiter redende Herrin mit sich aus dem Vorplatz über den Flur ins Speisezimmer gezogen. »Gnä’ Frau – und wenn Sie sich jetzt nicht sofort hinsetzen und nicht Ihr Ei und mindestens zwei Schrippen essen, dann lese ich den Brief nicht, und dann schreibe ich auch keine Antwort heute abend … Das ist doch nun wirklich die reine Unvernunft: erst essen Sie aus Kummer nichts, und dann essen Sie aus Freude nichts, und dann verlangen Sie noch, daß Wolfgang ein ruhiger, vernünftiger Mensch ist …«

»Hör auf, du redest einen ja tot, Minna!« befahl die gnädige Frau. »Lies jetzt den Brief, ich esse ja schon …«

Aber obwohl Frau Pagel wirklich gut zum Frühstück aß und auch mittags der Neunzigmillionenforelle alle Ehre antat, an diesem Tage wurde die Antwort an Wolfgang Pagel noch nicht geschrieben.

So leicht war die erbetene Auskunft nicht einzuziehen, so leicht war die Spur aus der Georgenkirchstraße in die Fruchtstraße nicht zu finden.

Minna mußte auf ihrer Irrfahrt durch die Meldeämter Berlins noch manchen Weg machen, noch manche Stunde geduldig auf Auskunft warten, fragen und sich fragen lassen, hierhin und dorthin geschickt werden, bis sie schließlich doch recht verwundert vor dem großen Plankenzaun stand, auf dem, neben den üblichen Kreidemalereien der Kinder: »Wer dies liest, ist dohf«, in großen weißen Buchstaben gemalt stand: »Emil Krupaß Wwe., Produktenhof«.

Hier? fragte sich Minna zweifelnd und ein bißchen verzweifelt, da haben sie mich doch bestimmt wieder falsch geschickt! Und sie spähte ärgerlich durch das Tor auf den großen Hof, der mit seinen Bergen aus rostigem altem Eisen, seinen verschmutzten Flaschenbatterien und den alten geplatzten Matratzenhaufen wirklich nicht sehr einladend aussah.

»Obacht!« schrie ein junger Bengel und rasselte mit seinem Hundegespann haarscharf an ihr vorüber auf den Hof. Zögernd folgte ihm Minna. Aber auf ihre Frage in einem Schuppen nach Fräulein Ledig wurde ihr ganz bereitwillig geantwortet: »Ist bei den Lumpen. Dahinten – die schwarze Baracke!«

Minna ging schon williger, erwägend: Das arme Ding! Sie wird auch ihre Not haben, ihr bißchen Lebensunterhalt sich zusammenzurackern.

Minna fand, es sah fürchterlich dreckig aus in der alten Baracke, und noch fürchterlicher stank es. Mit einem Wohlgefühl dachte sie an ihre hübsche, saubere Küche, und wenn die Petra wirklich hier drinnen steckte, tat sie ihr noch dreimal so leid!

»Fräulein Ledig!« schrie Minna in das graue Dunkel, in dem Gestalten hockten und Staub wirbelte, und sie mußte husten.

»Ja?« fragte eine Stimme.

Und dann kam es auf die hustende Minna zu, und es hatte einen blaugrünen Mantel an und sah komisch verändert aus, aber oben darauf saß das alte liebe, klare, einfache Gesicht.

»Gott, Petra, Kind, bist du’s denn wirklich?« sagte Minna und starrte sie an, was sie nur starren konnte.

»Minna!« rief Petra erstaunt und erfreut. »Hast du mich also wirklich gefunden?!«

(Und beide merkten es gar nicht, daß sie sich plötzlich »du« nannten, was sie nie zuvor getan hatten. Aber das ist eben so: es gibt Menschen, die merken erst, wenn sie sich lange nicht gesehen haben, beim Wiedersehen, wie gern sie sich haben.)

»Petra!« rief Minna und fiel natürlich sofort mit der Tür ins Haus. »Wie siehst du denn aus?! Du bist doch nicht –?«

»Doch!« lächelte Petra.

»Wann –?« schrie Minna fast.

»Ich denke, zu Anfang Dezember«, antwortete Petra, wieder lächelnd.

»Aber das muß ich dem Wolfi auf der Stelle schreiben!«

»Das wirst du dem Wolf unter gar keinen Umständen schreiben!«

»Petra!« sagte Minna flehend. »Du bist doch nicht etwa böse mit ihm?«

Petra lächelte nur.

»Du bist doch nicht etwa nachtragend?! Das hätte ich nie von dir gedacht!«

Sie sahen sich eine Weile schweigend an, in der staubigen Lumpenbaracke. Ritsch, ratsch, sortierten die Weiber die Lumpen. Sie sahen einander prüfend ins Gesicht, als müßten sie erkennen, wie sehr sich ein jedes verändert.

»Komm doch raus aus der schlechten Luft, Petra«, bat Minna. »Hier können wir doch nicht reden!«

»Ist er draußen –?« fragte Petra langsam, mit großen Augen. Sie dachte daran, was die Mutter Krupaß einmal gesagt hatte, daß sie laufen würde, wenn er auf der andern Straßenseite stünde. Sie wollte partout nicht laufen.

Minna sah Petra prüfend an; plötzlich wußte sie, es war gar nicht gleichgültig, was sie für eine Schwiegertochter bekamen. Viel Kummer vertrug die alte Frau bestimmt nicht mehr.

»Sollen wir hier stehen und Wurzel schlagen in dem Dreck und Mief?!« rief sie, mit dem Fuß aufstampfend. »Wenn er draußen ist, wird er dich schon nicht beißen.«

Petra wurde erschreckend blaß, man sah es selbst in der dunklen Kabache. Aber sie sagte entschlossen: »Wenn er draußen ist, geh ich nicht raus. Das habe ich versprochen!«

»So, du gehst nicht raus?!« schimpfte Minna. »Das wird ja immer schöner! Du gehst nicht zu dem Vater von deinem Kind?! Wem versprichst du denn solche Sachen –?«

»Ach, sei bloß still, Minna!« schalt Petra, und jetzt stampfte sie mit dem Fuße auf. »Warum schickt er dich denn?! Ich dachte, er wäre ein bißchen anders geworden. Aber so ist er immer gewesen: wenn ihm was unangenehm war, ließ er es andere tun.«

»Du mußt dich nicht so aufregen, Petra«, riet Minna. »Das kann ›ihm‹ nicht gut sein.«

»Ich reg mich nicht die Spur auf!« rief Petra und wurde immer zorniger. »Aber soll man sich da nicht ärgern, wenn er nie und nichts lernt und sich überhaupt nicht ändert?! Und nun ist er also wieder bei euch untergekrochen?! Alles genau so, wie es die Krupaß vorausgesagt hat!«

»Die Krupaß –?« fragte Minna eifersüchtig. »Ist das die Witwe, die draußen am Zaun angeschrieben steht? Erzählst du der die Geschichten von unserm Wolfi? Das hätte ich nie von dir gedacht, Petra!«

»Einen Menschen muß man haben, mit dem man sprechen kann!« sagte Petra entschieden. »Auf euch konnte ich nicht warten. – Was macht er denn jetzt?« Und sie deutete mit dem Kopf nach draußen.

»Also hast du richtig Angst vor ihm und willst ihn gar nicht sehen?« fragte Minna, entsetzlich böse. »Wo er doch der Vater von deinem Kind ist!«

Aber plötzlich war es, als hätte ein Gedanke allen Zweifel, alle Angst und Sorge der Petra aus dem Gesicht gewischt. Die alten klaren Züge traten wieder hervor, in der bittersten Not bei der Pottmadamm hatte Minna diese Züge nie böse oder weinerlich gesehen. Und es war auch der alte Klang in der Stimme, jawohl, aus ihren Worten läutete wieder das alte Erz, es erklangen die alten Glocken Vertrauen, Liebe, Geduld.

Petra faßte ruhig der Minna zuckende Hand zwischen die ihren und fragte: »Du kennst ihn doch auch, alte Minna, und du hast ihn sogar groß wachsen sehen, und du weißt, daß man ihm nicht böse sein kann, wenn man ihn kommen sieht und wenn er so lacht und seine Witze mit uns armen Weiberchen macht … Daß einem das Herz dann gleich fortfliegt und daß man immerzu glücklich ist und an nichts mehr denkt, was er einem vielleicht mal angetan hat …«

»Das weiß Gott!« sagte Minna.

»Aber, Minna, jetzt wird er doch ein Vater sein müssen und an andere denken. Es soll doch nicht nur sein, daß alle strahlen, wenn er da ist, sondern er soll Sorgen mit tragen helfen und arbeiten und auch einmal ein ärgerliches Gesicht vertragen, ohne gleich für einen halben Tag auszureißen. Und die Krupaß hat recht, und hundertmal hab ich es in diesen Wochen gedacht: Er muß erst einmal ein Mann werden, ehe er ein Vater sein kann. Jetzt ist er doch bloß unser aller verzogenes Kind …«

»Da hast du recht, Petra, das weiß Gott«, stimmte Minna zu.

»Und wenn ich noch hier mit dir stehe und abwechselnd am ganzen Leib heiß und kalt werde, so ist es doch nicht, weil ich auf ihn böse bin oder ihm etwas nachtrage oder ihn strafen will! Wenn er hier reinkäme, Minna, und gäbe mir die Hand und lächelte mich an auf seine alte Art – ach, ich weiß mir ja gar nichts Besseres, als ihm um den Hals zu fliegen. Ich wäre ja so glücklich! Aber, Minna«, sagte Petra sehr ernsthaft, »es darf doch nicht sein, ich habe es doch jetzt eingesehen, ich darf es ihm doch nicht immer wieder so leicht machen! In der ersten Stunde wäre es wunderschön, aber schon in der nächsten Stunde dächte ich: Soll denn mein Kind solch einen verwöhnten Liebling zum Vater haben, vor dem ich keinen rechten Respekt habe?! Nein, Minna, und tausendmal nein! Und wenn ich hier einen Tag und eine Nacht in der Lumpenbaracke sitzen soll und wenn ich auch von hier wieder fortlaufen soll, fortlaufen vor ihm und vor meiner eigenen Schwäche –: Ich habe es der Krupaß und mir fest versprochen: er soll erst etwas sein. Und wenn es nur ein ganz bißchen ist; und vor einem halben Jahr will ich ihn überhaupt nicht wiedersehen …«

Sie hielt einen Augenblick inne, dachte nach und sagte traurig: »Aber nun ist er ja doch wieder bei euch alten Frauen untergekrochen, der junge Mensch!«

»Aber nein, Peterchen!« rief die alte Minna sehr vergnügt. »Was bildest du dir denn ein?! Gar nicht ist er das!«

»Jetzt lügst du aber, Minna«, sagte Petra und löste ihren Arm aus dem der andern. »Du hast es doch selber gesagt!«

»Gar nichts habe ich davon gesagt! Nein, komm jetzt nur mit raus. Ich habe genug von euerm Gestank und Staub …«

»Ich gehe nicht heraus. Ich gehe nicht zu ihm!« rief Petra und wehrte sich kräftig.

»Aber er steht ja gar nicht draußen! Das bildest du dir doch nur ein!«

»Du hast es selbst gesagt, Minna – bitte, laß uns hierbleiben!«

»Ich hab gesagt, ich will ihm schreiben, daß du ein Kindchen erwartest –: Wie kann ich ihm denn schreiben müssen, wenn er draußen steht! Du hast dir alles bloß eingeredet, Petra, weil du die Angst hast, die Angst vor deinem eigenen Herzen und die Angst um das Kind. Und weil du Angst hast, darum ist alles gut. Und jetzt soll mir nur einer kommen, die Gnädige oder sonst einer, und ein Wort über dich sprechen – ich weiß Bescheid! Und ich bin froh, daß du so geredet hast, denn nun weiß ich auch, was ich ihm schreiben muß, nicht zuviel und nicht zuwenig. Aber jetzt laß dir eine Stunde freigeben und komm mit mir, es wird ja hier in eurer Gegend so etwas geben wie ein Café, und du erzählst mir alles, und ich erzähle dir alles. Den Brief von ihm habe ich meiner Gnädigen auch für dich stibitzt, und sie hat kein Wort gesagt, trotzdem sie es gut gesehen hat. Aber du mußt ihn mir wiedergeben, du kannst ihn dir ja schnell abschreiben – wo gehen wir also hin? Und bekommst du auch frei?«

»Ach, Minna!« sagte Petra übermütig. »Wie soll ich denn nicht freibekommen –? Ich gebe mir ja selber frei! Denn alles, was du hier siehst«, und sie trat mit Minna auf die Schwelle des Schuppens, »alles, die Lumpen und das Papier und das Alteisen und die Flaschen – das steht unter meinem Kommando, und die Leute, die hier arbeiten, natürlich auch. Herr Randolf«, sagte sie freundlich zu einem alten Mann mit Seehundsbart, »ich gehe mit meiner Freundin ein bißchen rauf zu mir. Wenn was Besonderes ist, brauchen Sie mich nur zu rufen.«

»Wat soll denn Besonderes sind, Frollein?« fragte der alte Mann kollerig. »Jlooben Sie, die rollen uns hier heute nachmittag noch Wilhelm seine Krone an –?! Legen Sie sich man ruhig lang. Wenn ick wäre wie Sie, ick steckte mir nich ’n halben Nachmittag bei die Lumpen!«

»Na schön, Herr Randolf«, sagte Petra vergnügt. »Es ist auch mein erster Besuch in dem Vierteljahr.«

Und damit gingen die beiden hinauf in die kleine Wohnung der Mutter Krupaß, und sie setzten sich hin und redeten und erzählten. Und nach einer Weile legte sich Petra dann wirklich lang, aber sie redeten und erzählten weiter. Als aber die Zeit für Minna gekommen war, heimzugehen, um ihrer Gnädigen das Abendessen zu machen, wurde Minna verwegen, und sie tat, was sie seit urdenklichen Zeiten nicht getan hatte: Sie ging ans Telefon und sagte an, sie käme nicht und der Schlüssel zur Speisekammer liege im rechten Fach vom Küchenbüfett hinter den Löffeln und der Schlüssel zum rechten Fach stecke in der Tasche von ihrer blauen Schürze, die bei den Geschirrhandtüchern hänge. Und ehe Frau Pagel diese klare Weisung noch ganz erfaßt hatte, hing Minna schon ab: »Denn sonst quetscht sie mich ja doch schon am Telefon aus, und sie kann auch mal warten. Und nun erzähle mir weiter von deiner Mutter Krupaß – klaut Hemdenknöpfe und hat doch ein gutes Herz. So was steht auch nicht im Katechismus und in der Bibel. Wie lange hat sie, sagst du –?«

»Vier Monate – und das paßt grade, als hätten die’s auf dem Gericht gewußt. Denn Anfang Dezember komme ich zu liegen, und Ende November kommt sie heraus. Sie hat’s auch gleich angenommen, ihr Anwalt, der Herr Killich, hat gesagt, sie soll froh sein. Aber ein Jammer ist es doch, wenn so ’ne alte Frau vor den Richtern steht, ich hab’s mit angesehen. Und der Richter hat sie auch mächtig runtergeputzt, und sie hat immerzu geweint, ganz wie ein Kind, die alte Frau …«

Es war wirklich halb elf Uhr nachts geworden, ehe Minna nach Haus kam. Sie hatte wohl das Licht im Zimmer ihrer Gnädigen gesehen, aber sie dachte: Warte du man! und schlich leise in ihre Kammer. Aber doch nicht leise genug für die Ohren von Frau Pagel. Denn die rief ganz lebhaft durch die Tür: »Sind Sie das, Minna? Na, Gott sei Dank, ich dachte schon, Sie legten sich auf Ihre alten Tage noch aufs Nachtleben.«

»Das wird wohl so sein, gnä’ Frau«, sagte Minna brav. Und dann ganz scheinheilig: »Haben gnädige Frau sonst noch Wünsche?«

»I du falsche Katze!« rief die gnädige Frau entrüstet. »Tust du so, als wenn du nicht wüßtest, was mich juckt?! Was hast du ausgerichtet –?«

»Ach, nichts Besonderes«, sagte Minna gelangweilt. »Bloß, daß gnä’ Frau demnächst Großmutter werden!«

Und damit fuhr Minna mit einer Geschwindigkeit, die man dem alten knochigen Besen nie zugetraut hätte, in ihre Küche, und von der Küche in ihre Kammer, und die Kammertür schloß sie so geräuschvoll, daß klar wurde: heute abend war die Sprechstunde aus!

»I du Donner!« sagte die alte Gnädige, rieb sich energisch die Nase und sah träumerisch die Teppichstelle an, auf der eben noch ihr Hausdrache gestanden. »Kommst du mir so?! Großmutter! Eben noch verwaiste Frau ohne allen Anhang, und nun plötzlich Großmutter … Nein, die Arznei schlucken wir noch nicht, wenn du sie mir auch noch so gerissen eingibst, du alter rachgieriger Teufel, du!«

Damit schüttelte Frau Pagel ihre Faust in dem leeren Flur und zog sich zurück in ihre Gemächer. Schlecht bekommen aber mußte ihr die Nachricht doch nicht sein, denn sie schlief so fest und so rasch ein, daß sie nicht mehr hörte, wie die Minna noch einmal aus dem Hause schlich, einen Brief in der Hand, den sie sogar noch ganz bis zum Postamt trug – und es war doch nun schon nach Mitternacht!

Und dieser Brief wurde der Anfang jenes Briefwechsels mit Neulohe, der aus Wolfgang Pagel einen jungen Mann machte, der, nach Herrn Studmanns Worten, die Welt zu umarmen schien, und das, obwohl nicht eine Zeile von Petra Ledig dabei war –!

Wolf unter Wölfen
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