8

Jetzt ist es nach zehn Uhr abends, Pagel sitzt vor seinen Lohnbüchern, Krankenkassenbeiträge müssen errechnet, Lohnsteuermarken geklebt werden, und irgendwie muß das Kassenbuch zur Übereinstimmung mit der Kasse gebracht werden.

All dies sind für einen müden Mann fast unbesiegbare Schwierigkeiten; wenn man müde ist, geht keine Arbeit von der Hand. Und dazu kommt ja noch, daß es mit dem Gelde immer schwieriger wird. Er rechnet für einen Arbeiter irgendeinen Wochenlohn aus, genau nach dem Tarif, soundso viel Millionen und Milliarden – aber er kann ihm das Geld nicht geben! Es gibt nicht genug Millionen- und Milliardenscheine, Pagel muß irgendeinen großen Schein nehmen, einen von diesen Dreckscheinen über einhundert oder zweihundert Milliarden Mark. Er ruft vier Mann heran: »So, faßt jeder einen Zipfel an, er gehört euch gemeinsam. Es ist zwar ein bißchen zuviel, ich weiß nicht genau, zwei oder drei Milliarden, aber nun ab mit euch in die Stadt! Kauft gemeinsam ein, ihr müßt euch irgendwie einigen. Meinethalben schimpft auf mich – ich kriege kein anderes Geld mehr.«

Schön, sie gehen schließlich, sie kaufen gemeinsam ein. Sie finden einen Kaufmann, der ihnen den Schein wechselt. Aber wo findet er, wo findet Wolfgang Pagel einen Mann, der seine Kasse stimmend macht? Oh, er ist ein großer Mann, er bekommt wöchentlich ein Gehalt von zwei und einem halben Zentner Roggen – aber soviel fehlt regelmäßig in seiner Kasse! Oft fehlt noch viel mehr, er grübelt, er denkt nach, der kleine Meier hat sicher nie soviel unrichtige Zahlen in sein Kassenbuch geschrieben! Das soll sich einmal ein Bücherrevisor ansehen – ab ins Gefängnis mit diesem Defraudanten!

Pagel stützt den Kopf in die Hand, sie kotzt ihn an, diese Zahlenwildnis. Es steckt etwas so Unsauberes darin, dieses Prunken mit immer astronomischeren Zahlen! Jeder kleine Mann ein Millionär – aber verhungern werden wir Millionäre alle noch! Die Zahlen wachsen – das Elend wächst auch. Wie hatte der Arzt vorhin zum Förster gesagt: »Jetzt sollen bald die Billionenscheine kommen – eine Billion sind tausend Milliarden – höher geht’s dann nicht mehr! Dann bekommen wir eine feste Währung. Sie werden pensioniert – und bis dahin bleiben Sie schön ruhig im Bett. Sie sind so verkalkt, daß ich das mit gutem Gewissen verantworten kann – auch ohne das Zureden Ihres jungen Freundes hier!«

»Bekommen wir wirklich noch einmal wieder anständiges Geld?« fragte der Förster ängstlich. »Werde ich es auch noch erleben? Ich möchte es wirklich noch erleben, Herr Doktor, daß man in einen Laden geht und der Kaufmann verkauft einem was und sieht den Geldschein nicht wütend an, als wäre man ein Betrüger.«

»Sie werden es bestimmt noch erleben, alter Vater!« versicherte der Arzt und zog dem Förster die Decke unters Kinn. »Und nun schlafen Sie schön – morgen bringt Ihnen der Milchwagen ein Schlafmittel mit.«

Draußen aber sagte der Arzt zum jungen Pagel: »Sehen Sie zu, daß der alte Mann nicht ganz zum Liegen kommt. Geben Sie ihm irgendeinen Pusselkram zu tun. Völlig verbraucht und erschöpft. Daß der noch alle Tage zehn Stunden im Walde herumgelaufen ist, zu verstehen ist es auch nicht! Wenn er erst fest liegt, steht er bestimmt nicht wieder auf.«

»Also wird er das Ende dieser Inflation nicht mehr erleben?« fragte Pagel. »Es gibt nämlich, weiß ich noch von der Schule her, Billiarden und Trillionen und Quadrillionen und …«

»Machen Sie einen Punkt, Mensch!« schrie der Arzt. »Oder ich schlage Sie auf der Stelle mit meinem Perkussionshammer zur Erde! Wollen Sie all diese Schweinereien noch erleben? Sie haben ja einen Lebensappetit, junger Mann, davon kann einem übel werden! – Nein«, flüsterte er, »ich weiß es von einem Herrn auf der Bank – mit vierhundertzwanzig Milliarden wird der Dollar stabilisiert.«

»Ach, solches Gerede hört man seit einem halben Jahr«, sagte Pagel. »Ich glaube kein Wort davon.«

»Junger Mann«, erklärte der Arzt feierlich und funkelte Pagel durch die Brillengläser an. »Ich will Ihnen was sagen: An dem Tag, an dem der Dollar über vierhundertzwanzig Milliarden steigt, setze ich mir eine Maske auf und chloroformiere mich selbst aus dieser Welt heraus. Denn dann habe ich es dicke!«

»Also – wir sprechen uns wieder«, sagte Pagel.

»Nicht so, wie Sie denken!« schrie der Arzt zornig. »Ihr heutige Jugend seid ja ekelhaft! So was von Zynismus hatte zu meiner Zeit nicht mal ein hundertjähriger Greis!«

»Wann war denn eigentlich Ihre Zeit, Herr Doktor?« fragte Pagel grinsend. »Ziemlich lange her, was?«

»Ich habe Ihnen von dem Augenblick an mißtraut«, sagte der Arzt traurig und kletterte in seinen Opel-Laubfrosch, »als Sie mich so hundeschnäuzig fragten, wie lange der Mann wohl tot sein könnte …«

»Still doch, Doktor!«

»Na schön, in dem Punkt bin ich nun wieder zynischer. Das macht der Beruf. Gute Nacht. Und wie gesagt, wenn der Dollar nicht bei vierhundertzwanzig stabilisiert wird …«

»Dann warten wir noch ein bißchen länger!« hatte Pagel dem losfahrenden Arzt nachgeschrien.

Es wäre gut gewesen, wenn nun ein Kaffee auf dem Büro gewesen wäre, aber es würde natürlich diesmal keiner dasein. Amanda Backs war längst schlafen gegangen. Aber Pagel hatte die Amanda wieder einmal unterschätzt – der Kaffee stand auf dem Tisch. Aber leider war der Kaffee nun auch wieder nicht so, daß er ihn richtig munter gekriegt hätte, oder Pagels Müdigkeit war zu dick – jedenfalls saß er trostlos über seinen Büchern. Er kam nicht weiter, wollte ins Bett, wollte aber auch noch an seine Mutter schreiben und plagte sein Gewissen mit dem Satz: Wenn ich nicht zu müde bin, an Mama zu schreiben, darf ich auch nicht zu müde sein, meine Lohnbücher fertigzumachen.

Dieser alberne Satz, bar jeder Logik, dieser tiftlige Satz, die Ausgeburt eines übermüdeten Kopfes, plagte den jungen Pagel so hartnäckig, daß er weder zum Rechnen noch zum Schreiben, noch zum Schlafen kam. Schließlich versank er in einen Zustand quälenden Halbwachseins, dumpfer Benommenheit, in dem durch sein Hirn schreckliche Gedanken krochen, Zweifel am Leben, Zweifel an sich selbst, Zweifel an Petra –

»Zum Teufel!« rief Pagel und stand auf. »Jetzt springe ich aber lieber in den saukalten Schwanenteich des werten Geheimrats voller Entengrütze und nehme das klapprigste, kälteste Bad meines Lebens, als daß ich hier noch länger verdüst und verdöst herumsitze!«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Eine weibliche, rasche Stimme, die ihm bekannt und doch fremd vorkam, sagte an, Herr Pagel möge doch sofort in die Villa kommen, die gnädige Frau wünsche ihn zu sprechen.

»Komme sofort!« antwortete Pagel und hing an.

Was war das bloß für ein Weibsbild, das mit ihm gesprochen hatte? Die Stimme klang verstellt!

Er sah auf die Uhr. Es war drei Viertel elf. Ein bißchen reichlich spät für einen Mann, der um fünf, um halb fünf, um vier aufstand! Nun, es brannte wohl mal wieder da drüben! Die Sache mit dem Rittmeister war schiefgegangen, oder die gnädige Frau hatte doch endlich irgend etwas wegen Violet erfahren, oder sie wollte auch nur wissen, wieviel Kartoffeln grade heute gebuddelt waren – manchmal kam sie so etwas an! Sie war ja zuzeiten auch eine Tochter ihres Vaters, dann dachte sie, sie müsse den jungen Beamten kontrollieren.

Vergnügt pfeifend wanderte Pagel durch das Gut zur Villa hinaus. Obwohl er sofort zur gnädigen Frau kommen soll, macht er doch noch den Umweg über den Pferdestall. Verschlafen fährt die Stallwache hoch – aber es ist alles in bester Ordnung. Die Stute steht schon wieder in ihrer Box und sieht sich mit ihrem lebhaften Auge nach Pagel um. Das unglaublich langbeinige Fohlen schläft. Den Wachtmann schickt Pagel nunmehr auch schlafen.

In der Villa öffnet ihm die gnädige Frau selbst. Sie hat sich sehr verändert in den letzten Wochen. Diese ewigen Fahrten mit ihrem qualvollen, irrsinnigen Hoffen, der dumpfen Rückfahrt, dieses verzehrende Warten auf etwas, das nie eintritt, diese qualvolle Ungewißheit tagaus, tagein, der die schlimmste Gewißheit vorzuziehen gewesen wäre – all das hat ihre Züge scharf gemacht.

Ihr Auge, dies sonst so freundliche, frauliche Auge, hat einen trockenen, brennenden Blick.

Aber es ist nicht nur dies allein: Seit Frau Eva sich nicht mehr pflegt, nicht mehr regelmäßig ißt, hat ihre sanfte Haut mit den blonden Tönen des Pfirsichs etwas Schlaffes, Zerfallenes bekommen; der Hals hat Falten, die Backen hängen … Diese veränderte Frau hat auch eine andere Sprache. Sie konnte früher so schön lachen, sie war eine Frau im Einklang mit sich und der Welt. Ihre Stimme hatte etwas Reifes, Schmelz und Schwingung … Vorbei, vorbei … Ein eiliges, fast tonloses und scharfes Gerede – die Stimme klingt, als sei ihr die Kehle ausgedörrt.

Mit dieser scharfen, leisen Stimme wird Wolfgang ein trockenes »Guten Abend« gesagt. Die gnädige Frau bleibt auf der Diele stehen, sie mustert ihn mit bösen Augen, sie sagt dann eilig: »Es tut mir sehr leid, Herr Pagel, aber ich kann das unmöglich dulden. Ich höre heute, Sie haben schmutzige Weibergeschichten, Sie nutzen Ihre Stellung aus, um Mädchen zu zwingen …«

Oh, die Frau, die arme, veränderte gnädige Frau! Gewiß tut es ihr nicht leid, sondern sie ist wütend, sie ist rachgierig. Diese Frau Eva, noch vor ein paar Wochen bereit, überall ein lächelndes Auge zuzudrücken, jetzt muß sie ihre Tochter an den Männern rächen! Es ist alles schmutzig – Schmutz, Schmutz, wohin sie sieht, aber in ihrer Nähe duldet sie ihn nicht! Nichts mehr von diesen Dingen, Schluß damit, alles Dreck und Gemeinheit!

Pagel hält dem harten Blick der bösen Frau stand, er lächelt, in seine Augenwinkel treten die Fältchen: Er kann nicht ernst sein. Er steht auf der andern Seite, er denkt gewissermaßen objektiv, er kann nicht begreifen, daß eine Frau, die vor Sorgen um die eigene Tochter fast umkommt, sich nun noch mit Klatsch abgibt … Er bewegt lächelnd den Kopf von rechts nach links. Er sagt freundlich: »Nein, gnädige Frau, ich bin ganz sicher, ich habe keine schmutzigen Weibergeschichten.«

»Aber mir ist es gesagt worden!« ruft die gnädige Frau. »Sie haben …«

»Warum sollen wir uns denn anhören, was gelogen wird?« sagt Pagel unverändert freundlich. »Da ich doch eben keinerlei Weibergeschichten habe? Ich möchte wirklich nicht, daß wir länger von diesen Dingen reden, gnädige Frau.«

Frau von Prackwitz macht eine ungeduldige Bewegung, denn grade das möchte sie. Ein Haß in ihr, eine Wut treibt sie, dem jungen Kerl da ins Gesicht zu sagen, was sie von ihm gehört hat. Und dann möchte sie Erklärungen hören, Entschuldigungen – am liebsten aber ein Geständnis!

Pagel aber dreht sich rasch um, er hat längst verstanden, warum diese Unterredung hier auf der Diele geführt wird. Richtig, in der Einmündung, der Küchentreppe aus dem Souterrain steht die Sophie Kowalewski. Sie macht eine Bewegung, sich zu verstecken, aber es ist schon zu spät.

»Kommen Sie nur vor, Sophie!« ruft Pagel. »Sie sind die einzige, von der ich die Geschichte hören möchte. Erzählen Sie bitte hier vor der gnädigen Frau, was Sie getan haben, damit Sie nicht Kartoffeln buddeln müssen.«

Frau Eva wird langsam rot, sie macht eine Bewegung, um den jungen Mann anzuhalten. Aber er geht schon auf das Mädchen los, gar nicht drohend, nein, gemütlich, freundschaftlich …

»Nun, Sophie«, sagt er. »Komm, mein Mädchen, erzähl, erzähl. Oder noch besser: Mach mal hier bei der gnädigen Frau vor, wie du mir dein Knie zeigen wolltest! Na, wird es –?!«

Hier erweist sich, daß Sophie Kowalewski nichts Ganzes ist, nicht im Guten und nicht im Bösen. Sie ist ausgerutscht, sie ist unter die Räder gekommen schön, schlimm, aber sie ist nicht einmal richtig schlecht geworden. Sie hat nicht einmal den Mut zu ihren Bosheiten, sie ist feige …

Trotzdem der junge Pagel doch ganz gemütlich auf sie zukommt, stößt sie plötzlich einen Angstschrei aus. Sie dreht sich um, sie läuft die Küchentreppe hinunter, klapp! geht die Tür, fort ist sie –!

Pagel kehrt zurück zu Frau Eva. Nein, nun zeigt er nichts mehr von dieser prahlenden Unbekümmertheit, er sagt erklärend, fast entschuldigend: »Ich hatte ihr nämlich aufgegeben, morgen früh zur Kartoffelernte anzutreten. Ihre Faulheit ist ein böses Beispiel im Dorf.«

Frau von Prackwitz sieht ihn an. Die Röte des Ärgers und der Scham ist aus ihrem Gesicht gewichen, doch nicht ganz. Etwas blieb zurück, eine Spur gesunderer Lebensfarbe. Nein, das Leben ist doch nicht nur alt und häßlich und verbraucht – es kann auch noch jung, frisch, sauber sein.

Fast entschuldigend sagt sie: »Ich habe die Sophie als Bedienung fürs Haus angenommen. Sie bot es mir an, und ich war so in Verlegenheit. Aber bitte, kommen Sie doch herein, Herr Pagel.«

Sie geht ihm voran, sie ist fast befangen – muß sie sich nicht schämen? Ihr Unglaube, ihr Zweifel – sie sind so häßlich gegen seinen Glauben, seine Sauberkeit.

»Ich kannte ja die Zusammenhänge nicht«, sagt sie noch einmal erklärend.

»Sicher wird sich die Sophie für die Hausarbeit besser eignen als für das Kartoffelbuddeln«, meint Pagel. »Die Hauptsache ist, sie läuft nicht länger faul herum.«

»Aber ich habe die schwarze Minna dafür entlassen«, berichtet Frau Eva schuldbewußt. »Das Frauenzimmer ist mir so gräßlich …«

Pagels Mund hat sich fest geschlossen; er denkt, daß die Faule den guten Posten kriegt und die Fleißige, die sich immer abrackert, wieder in die eisigen Kartoffeln muß. Sie urteilt nicht über die Arbeit, die versteht sie nicht. Sie denkt an das Aussehen, die hübsche Sophie gefällt ihr besser als die verbrauchte schwarze Minna.

»Ich werde mit Ihrem Einverständnis die Minna im Schloß beschäftigen«, schlägt er schließlich vor. »Da sieht es noch wild aus, und irgendwann werden die alten Herrschaften doch zurückkommen.«

»Ja, tun Sie das, Herr Pagel!« ruft sie eifrig. »Ich bin Ihnen ja so dankbar. Es ist sicher die beste Lösung.« Fast schuldbewußt sieht sie ihn an. »Sie sind mir doch nicht böse wegen vorhin?«

»Nein. Nein. Aber vielleicht werden Sie mir böse sein, wenn ich Ihnen sage …«

Das Licht in ihren Augen erlischt.

»Hat die Sophie also doch recht gehabt?« fragt sie tonlos.

»… wenn ich Ihnen sage, daß ich vor ein paar Stunden hier in Ihrem Zimmer war. Ich habe«, sagt er ein wenig verlegen, »die Briefe dort durchgesehen, ich suchte einen bestimmten Brief …«

Sie sieht ihn zweifelnd an, sie wartet ab.

»Ich fand den Brief nicht. Ich wollte ihn nicht etwa lesen, ich wollte nur sehen, ob er da war. Dann las ich zufällig auf Ihrem Notizblock den Vermerk ›Vater schreiben‹ – ich komme mir vor wie ein richtiger, häßlicher Spion. Aber ich habe nicht für mich spioniert –.«

»Aber warum denn?« fragt sie hilflos. »Sie hätten mich doch nur zu fragen brauchen.«

»Es ist«, sagt er verdrießlich und scheuert sich seine Nase, »gewissermaßen ein ärgerlicher Fall. Ich hatte mir ausgedacht, ich wollte Ihnen erzählen, daß der Förster bettlägerig geworden ist und daß wir darum an den Herrn Geheimrat schreiben müssen, was nun werden soll. – Aber es wäre Schwindel. Der Förster ist zwar wirklich krank, aber die Forst braucht uns darum keine Sorge zu machen.«

»Und was ist nun wirklich?« fragt sie.

»Ja, das ist es eben, ich habe mein Wort gegeben, Ihnen, keinem etwas zu sagen. Ich habe es tun müssen«, sagt er eifriger, »sonst hätte ich gar nichts erfahren.«

»Aber was ist denn nur?« fragt sie unruhig. »Sollen denn immer wieder neue Sorgen kommen?« – Sie steht auf, sie läuft hin und her. »Können Sie mir denn gar nichts sagen, Herr Pagel?«

»Ich möchte Sie etwas fragen, gnädige Frau. Hat Ihnen Ihr Herr Vater seit seiner Abreise geschrieben?«

»Ja«, sagt sie. Also es ist etwas mit Papa, überlegt sie, aber ihr Ton ist leichter. Dies nimmt sie nicht schwer.

»Haben Sie geantwortet?«

»Nein, ich habe ihm nicht geantwortet«, sagt sie kurz. Er merkt, sie ärgert sich schon in der Erinnerung an den Brief.

Sie sieht ihn abwartend an, aber er fragt nichts mehr. Er scheint alles gesagt zu haben, was er sagen wollte. Endlich entschließt sie sich: »Herr Pagel, ich will es Ihnen erzählen. Papa verlangt, daß ich mich von Herrn Rittmeister scheiden lasse. Er hat es schon immer gewollt, er liebt seinen Schwiegersohn nicht …«

Pagel nickt langsam …

»Aber kann ich es denn?!« ruft sie. »Kann ich ihn denn so sitzenlassen? Ich brauche Ihnen doch nichts zu erzählen«, sagt sie hastig. »Sie kennen ihn doch auch. – Aber läßt man denn seine Freunde sitzen, wenn sie in der Not sind?! Ja, wenn er gesund wäre, wenn ich irgendwie sähe, daß er ohne mich leben könnte. Aber so – nein, nein! Nun erst recht nicht! Für Gut und Böse – for better and worse, heißt es bei den englischen Trauungen. Ich bin auch so! Grade für Böse, erst recht für Böse!«

Sie sieht Pagel starr an, ihr Gesicht zuckt.

»Ach, Herr Pagel«, sagt sie klagend. »Ich weiß, Sie haben heute abend versucht, ihn wieder in dieses Leben zurückzurufen. Sie sind es natürlich gewesen. Wie soll denn der Pfleger auf so etwas kommen?! Ich war zuerst sehr böse auf Sie, Sie müssen ja doch auch sehen, daß er bloß ein armer Kranker ist. Aber dann habe ich mir gedacht: es war doch freundlich gedacht. Sie sorgen sich noch um ihn. Aber mein Vater, der will nur, daß ich ihn sitzenlasse, in irgendeine Irrenanstalt stecke, einen Vormund bestelle – fertig, los! Aber wir haben fast zwanzig Jahre miteinander gelebt, Herr Pagel!«

»Er hat einmal ›O Gott!‹ gesagt.«

»Ja, ich habe es gehört. Das bedeutet nichts; er weiß nicht mehr, was er sagt. Aber Sie sind eben jung, Sie hoffen noch. – Ach, Herr Pagel, wenn ich jetzt so durch das Land fahre und sehe die Leute über die Landstraße laufen, jetzt, bei dem schlimmen Wetter! Es sind so viele unterwegs, nicht nur Stromer. Diese schreckliche Zeit macht alle ruhelos. – Heute früh, es regnete grade so eisig, sah ich zwei junge Leute. Er schob einen Kinderwagen, so einen ganz alten aus Rohr auf hohen Rädern, und sie ging neben dem Wagen her und redete dem Kind zu. – Nein, ich habe ihnen nichts gegeben«, rief sie fast leidenschaftlich, »ich habe gedacht, daß vielleicht meine Violet auch so herumläuft, aber sie hat kein Kind, zu dem sie sprechen kann, sie hat niemanden, zu dem sie sprechen kann! Ach, Herr Pagel, was soll ich nur tun?!«

»Hoffen …«, sagt er.

»Darf ich es denn noch –? Soll ich es denn noch –?! Kann ich es ihr denn überhaupt noch wünschen, daß sie lebt? Ist es nicht bloß Eigennutz von mir, daß ich es hoffe –? Ist denn überhaupt noch ein Stückchen von meiner Violet da? Ach, immerzu wünsche ich, daß ich sie treffe, und immerzu schaudere ich davor. Herr Pagel, es sind jetzt über vier Wochen, daß sie fort ist –!«

»Sie hat ihren freien Willen nicht«, sagt Pagel leise. »Eines Tages wird sie ihn wiederfinden, dann wird sie kommen.«

»Nicht wahr, Sie sagen es auch?!« ruft sie fast freudig. »Sie schläft noch, sie schläft noch immer! Wenn man schläft, so fest schläft, fühlt man nichts, sie wird unverändert zurückkommen. Sie wird dort oben in ihrem Zimmer aufwachen, sie wird glauben, es ist nichts gewesen, sie hat sich am Abend vorher schlafen gelegt!«

Mit Staunen sieht Pagel auf die Frau. Sie ist aufgeblüht, die Hoffnung, der unbesiegbare Lebenswille haben sie aufgeweckt, sie ist wieder jung – das Leben hat für sie noch große Gaben bereit!

»Ich will Ihnen noch etwas sagen, Herr Pagel«, flüstert sie plötzlich, mit einem Blick zur Tür. »Ich suche nicht allein nach ihnen, es sucht noch einer. Er hat meinen Wagen angehalten, es ist ein Mann mit einem dicken, gedunsenen Gesicht, er hat einen steifen schwarzen Hut auf, einen glasigen Blick – vielleicht kennen Sie ihn?«

Pagel sieht sie an. »Ja, ich kenne ihn –«, sagt er leise.

»Nein, sagen Sie mir nichts von ihm!« ruft sie eilig. »Ich will nichts von ihm wissen. Er hält meinen Wagen an, er fragt nichts, er grüßt nicht, er sagt nur: Fahren Sie einmal da und da hin! Dann sehe ich ihn wieder auf irgendeiner Landstraße, in einem Städtchen, er ist auch immer unterwegs. Er schüttelt nur den Kopf, wenn ich ihn ansehe, geht weiter … Herr Pagel, wenn ich sie nicht finde, er findet sie! Manchmal denke ich, die reden soviel von der Liebe … Aber der Haß ist viel stärker!«

»Ja«, sagt Pagel. »Der Mann haßt das Böse. Er sieht böse aus, aber er haßt die Bosheit, sein Haß treibt ihn ruhelos umher.«

»Sagen Sie mir nichts von ihm!« ruft sie wieder. »Ich will nichts von ihm wissen!« Und ganz leise: »Er ist doch jetzt über vier Wochen mit Violet unterwegs, er muß doch irgendwie für sie sorgen …«

Pagel sieht sie an. Diese Mutter, die ewige Mutter – sie verabscheut den Wurm, der ihr die Tochter unselig und elend gemacht hat. Aber da der Elende die Tochter noch immer leben läßt, ihr ein bißchen zu essen gibt, mag sie nicht daran denken, daß er in die Hände dieses Grausamen gerät!

Pagel steht auf. »Gnädige Frau, machen Sie sich wenigstens keine Sorge wegen des Herrn Geheimrats. Vorläufig wird nichts geschehen. Es ist etwas dazwischengekommen. Es bestehen wohl Pläne –«

»Ja, wir sollen fort von hier!«

»Aber sie sind im Augenblick nicht durchführbar. Wenn wirklich etwas vorfällt, gebe ich Ihnen sofort Nachricht.«

Er sieht sie einen Augenblick nachdenklich an. Dann sagt er noch: »Sie brauchen sich auch nicht mit einem Brief an Ihren Herrn Vater zu plagen. Da Sie doch nicht tun können, was er wünscht, ist es ebensogut, Sie schreiben nicht.«

»Ich danke Ihnen, Herr Pagel«, sagt sie. »Ich danke Ihnen für alles.« Sie gibt ihm die Hand, sie lächelt ihm zu. »Es hat mir gutgetan, mit Ihnen zu reden.« Und mit jenem plötzlichen, unerklärlichen Übergang der Frauen: »Aber nun müssen Sie mir auch einen Gefallen tun, Herr Pagel!«

»Ja, bitte?« sagt er. »Gerne.«

»Dulden Sie dieses Frauenzimmer, die Backs, nicht um sich! Sie sollen ja sogar mit ihr essen, und sie soll ewig im Büro bei Ihnen sitzen. Ach, seien Sie mir doch nicht böse, Herr Pagel!« ruft sie hastig. »Ich mißtraue Ihnen ja gar nicht. Sie merken natürlich nicht, daß das Mädchen verliebt in Sie ist …«

»Amanda Backs ist nicht verliebt in mich, gnädige Frau«, sagt Pagel. »Ich tu ihr nur gut – sie ist nämlich ein sitzengelassenes Mädel.« Rascher: »Und mir tut sie auch gut. Das Leben in Neulohe ist manchmal ein wenig viel für einen so jungen Mann wie mich. Ich habe manchmal auch gerne einen Menschen um mich, mit dem ich ein Wort reden kann.«

»Ach Gott, Herr Pagel!« ruft sie ehrlich bestürzt aus. »So habe ich es nun wirklich nicht gemeint! Ich habe doch nur gemeint, die Backs, weil sie mit dem Meier – der ist doch wirklich ein Lump …«

Pagel sieht sie an, aber sie merkt nichts. Sie merkt wirklich nichts. Sie findet keinerlei Parallelen.

»Sobald ich die Backs sehe, werde ich ihr ein Wort sagen«, meint sie versöhnlich. »Ich glaube, ich habe ein- oder zweimal ihren Gruß nicht erwidert. Es tut mir jetzt wirklich leid …«

Draußen auf der Diele fängt die Uhr an zu schlagen, sie schlägt Mitternacht.

»Kommen Sie, Herr Pagel«, ruft Frau von Prackwitz eifrig, »machen Sie, daß Sie ins Bett kommen! Es ist wirklich zu spät für Sie! Ich glaube es Ihnen schon, daß die Wirtschaft manchmal ein bißchen viel für einen alleine ist. Schlafen Sie sich morgen früh einmal gründlich aus. Lassen Sie die Leute nur alleine wursteln, ich bin mit allem einverstanden. Ich erlaube es Ihnen. – Gute Nacht, Herr Pagel, und nochmals schönen Dank.«

»Gute Nacht, gnädige Frau«, sagt Pagel. »Ich habe zu danken.«

»Also bestimmt ausschlafen!« ruft sie noch hinter ihm drein.

Pagel lächelt für sich im Dunkeln. Er nimmt es ihr nicht übel, in vielen Dingen ist diese kluge, erwachsene Frau wie ein Kind. Bei Arbeit denkt sie immer noch an so etwas wie Schularbeiten. Man kann wenig aufbekommen, der Lehrer kann aber auch mal einen ganzen Tag freigeben – und dann freut sich das Kind! Sie hat noch nicht begriffen (und wird es wohl nie begreifen), daß das Leben, daß jeder Tag seine Aufgabe stellt, die einem nicht erlassen werden kann.

Oben im Beamtenhaus ist ein weißer Schatten im Fenster. Die getreue Wächterin hat sich um seinetwillen gesorgt.

»Alles in bester Butter, Amanda«, sagt Pagel halblaut nach oben. »Sophie hat sich umsonst angestrengt. Schlafen Sie ein, wärmen Sie sich und wecken Sie mich morgen früh erst um halb sechs – aber mit einem Mokka.«

»Gute Nacht, Herr Pagel«, klingt es von oben.

Wolf unter Wölfen
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