6

Der Mietenplatz lag etwa fünf Minuten vom Gutshof entfernt, an einer Stelle, wo drei Feldwege zusammenliefen, an zwei Seiten begrenzt vom Walde. Diese Lage, die für die Anfuhr bequem war und die zugleich durch den Wald die Mieten vor den eisigen Ost- und Nordwinden schützte, war aus früheren Jahren beibehalten worden. Aber schon jetzt, Ausgang des Herbstes, erwies sie sich als gefährlich. Die Abgelegenheit des Ortes erlaubte den Kartoffeldieben ungesehene Annäherung, die Nähe des Waldes leichteste Flucht.

Pagel hatte ständig Ärger mit diesen Mieten. Alle Morgen war hier oder dort ein Loch in die Erddecke gebuddelt, die auf den Kartoffeln als Schutz vor dem Winterfrost lag. Schon jetzt lagerten über zehntausend Zentner hier – der Diebstahl von drei oder fünf Zentnern fiel lange nicht so ins Gewicht wie die Arbeit, die das Verschließen der offenen Stellen machte, wie die Gefahr, in die eine Miete von fünfhundert Zentnern kam, wegen eines solchen Loches zu erfrieren. Hundertmal hatte Pagel sich schon geärgert, daß seine Unbedachtsamkeit ihn dem Vorschlag der Leute hatte zustimmen lassen, die Kartoffelmieten auf dem altgewohnten Platz anzulegen. Ein erfahrener Beamter hätte all die Schwierigkeiten, die sich in diesem Jahre aus der Lebensmittelknappheit ergaben, vorausgesehen. Pagel war überzeugt, daß ganz Altlohe bei ihm zur Kartoffelernte angetreten wäre, wenn die Mieten direkt beim Hof unter ständiger Aufsicht gelegen hätten. Aber so war es ja viel einfacher, sich nachts ohne Risiko das zu holen, was man sonst erst in vielen Tagen harter, eisiger Arbeit erworben hätte. Und man konnte es den Leuten nicht einmal übelnehmen: Ihnen fehlte das Nötigste, sie litten oft Hunger, sie nahmen eine Kleinigkeit vom Überfluß – wem konnte das weh tun –?!

Sorgenvoll, nachdenklich strich Pagel in der wachsenden Dunkelheit zwischen den langen, fast mannshohen Dämmen der Mieten herum. Die Leute waren natürlich schon fort und die Diebe noch nicht da: Er hatte sich wieder einmal einen Weg umsonst gemacht.

Doch nicht ganz umsonst: Denn nun stieß er mit dem Fuß gegen eine vergessene Schaufel, der ein nasser Nachtaufenthalt auch nicht grade guttun würde. Er sammelte sie auf, um sie in die Gerätekammer mitzunehmen. Aber einen Augenblick später stieß er auf zwei steckengebliebene Spaten. Auch sie nahm er mit. Doch gleich fand er zwei Forken, wieder Schaufeln – es war unmöglich, er konnte das nicht allein auf den Hof schleppen!

Entmutigt setzte er sich auf einen Strohballen, plötzlich völlig, grenzenlos entmutigt. Es ist oft so, daß ein Mensch viele harte Dinge eine lange Zeit hindurch mutig erträgt, plötzlich wirft ihn dann eine Kleinigkeit um. Pagel hatte mit unveränderter Freundlichkeit viel Schwereres in den letzten Wochen ertragen, aber der Gedanke, daß er vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein herumlief, tätig war und daß doch Nachlässigkeit, Liederlichkeit, Faulheit zunahmen, der Gedanke, daß fünfzehn Schaufeln, Spaten und Forken in dieser Nacht Rost ansetzen würden, warf ihn um.

Er saß auf seinem Strohballen, den Kopf in die Hand gestützt, es wurde immer dunkler. Hinter ihm der Wald rauschte geheimnisvoll, es tropfte ständig von den Bäumen. Ein wenig fror er. Wäre er nur etwas frischer, aktiver, unternehmungslustiger gewesen, er ging jetzt auf den Hof, pfiff die Verantwortlichen an und jagte sie auf den Mietenplatz hinaus, ihr Gerät allein heimzuholen. Aber er hatte heute nicht mehr die geringste Kraft, jemanden anzupfeifen, bei dem Gedanken, mürrische und gehässige Widerworte anhören zu müssen, hätte er weinen können: Er fühlte sich ausgepumpt, leer. Er saß ganz still da, eine Weile war nichts wie eine graue, weite Öde in ihm, er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich eine Zigarette anzuzünden.

So saß er lange still. Dann fingen die Gedanken an, wieder in seinem Hirn zu kriechen, aber es waren keine guten Gedanken, es waren Sorgen. Er dachte an den Brief des Geheimrats, den er eben gelesen hatte – das ist der Anfang vom Ende, dachte er. Nein, es ist das Ende, ganz und gar.

Der Geheimrat, der vor den Nöten der Tochter geflohen war, hatte sich jetzt auf sich selbst besonnen. Er selbst, das war sein Geld; er hatte sich an die noch nicht bezahlte Pacht erinnert, er wollte sein Geld. Aber da er sicher war, sein Geld nicht zu bekommen, wollte er den Pächter loswerden. Nicht nur verbot er allen, die zu seinem Schwiegersohn gehörten, die für seine Tochter arbeiteten, das Betreten der Forst, nicht nur verbot er den Fuhrwerken der Gutsverwaltung die Benutzung der Wege durch die Forst, wodurch stundenlange Umwege zu den Außenschlägen notwendig wurden, nein, er gab dem Förster auch den Auftrag, ein wachsames Auge auf die Verkäufe der Gutsverwaltung zu haben. Wurde Korn, wurden Kartoffeln, wurde Vieh abgeliefert – der Förster sollte es sofort telefonisch dem Anwalt des alten Herrn melden, der dann die eingehenden Gelder sofort beschlagnahmen würde.

Jetzt zeigte es sich: Vom kaufmännischen Standpunkt aus hatte Herr von Studmann recht gehabt, als er darauf bestanden hatte, dem alten Elias am zweiten Oktober den Pachtbetrag nach Berlin mitzugeben – der alte Herr hätte dann Ruhe halten müssen!

»In meiner jetzigen Lage sollte mir mein Vater Schwierigkeiten machen?!« hatte Frau Eva gerufen. »Nein, Herr von Studmann. Die Pacht hat Zeit – aber einen Wagen brauche ich sofort, brauche ich immerzu. Nein, ich bezahle das Auto.«

Zwischen dem fernen Vater und dem nahen Chauffeur Finger, der die Rechnung über den Wagen vorgelegt hatte, mit der Drohung, sofort nach Frankfurt zurückzukehren, würde sie nicht beglichen, hatte sich Frau Eva von Prackwitz für den Wagen entschieden.

»Wir könnten es vielleicht mit einem Mietswagen versuchen?« hatte Herr von Studmann vorgeschlagen.

»Der immer dann nicht frei ist, wenn ich ihn brauche«, hatte die gnädige Frau gereizt geantwortet. »Nein, Herr von Studmann, Sie sind ein sehr besorgter, sehr gründlicher Kaufmann – aber Sie vergessen immer wieder, daß ich meine Tochter suchen muß …«

Herr von Studmann war blaß geworden, er hatte sich auf die Lippe gebissen – er hatte auch kein Wort mehr davon gesagt, was er von diesen Suchfahrten durch das Land dachte. Er hatte sich gefügt.

»Wie gnädige Frau wünschen«, hatte er gesagt. »Ich leiste also die vereinbarte Anzahlung. Der Rest des Geldes reicht noch für reichlich Dreiviertel der Pacht …«

»Sie sollen mir nicht mehr von dieser Pacht reden! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß mein Vater … in meiner jetzigen Lage … Verstehen Sie denn nicht?« hatte Frau von Prackwitz fast geschrien. Oh, sie war so unbeherrscht in diesen Tagen, so wahnsinnig gereizt! Pagel war auch schon ein paarmal angeschrien worden, weil er nicht sofort alles stehen- und liegengelassen hatte, wenn sie ihn rief. Aber so feindselig wie zu Herrn von Studmann war sie zu ihm nicht gewesen. Es schien unerklärlich – hatte sie nicht einmal fast eine Schwäche für Herrn von Studmann gehabt –? Aber vielleicht war sie gerade wegen dieser Schwäche so feindselig zu ihm? Jetzt war sie nur noch Mutter – und eine Mutter, die wegen ihrer eigenen Liebesgeschichten die Tochter vernachlässigt, ist doch verächtlich, wie?

Ruhiger sagte sie dann: »Ich möchte, daß Sie den Wagen sofort ganz bezahlen, Herr von Studmann. Ich will frei über ihn verfügen können. Regeln Sie das mit Herrn Finger und seiner Firma. Und entlassen Sie ihn. Ich kann ihn nicht als Chauffeur brauchen, ich weiß jemand anders, der besser auf meine Wünsche eingeht …«

Herr von Studmann verbeugte sich nur, weiß bis unters Haar.

»Entschuldigen Sie, daß ich etwas heftig wurde, Herr von Studmann«, sagte sie und hielt ihm die Hand hin. »Es geht mir nicht sehr gut – aber das müßte ich ja eigentlich gar nicht sagen müssen.«

Herr von Studmann verstand die Überwindung nicht, die sie schon dieses kleine Nachgeben kostete. Er nahm mechanisch die Hand, er sagte stockend: »Wenn ich mir noch eine Frage erlauben dürfte?«

»Bitte, Herr von Studmann.«

»Ich müßte ungefähr wissen, was mit Herrn Finger vereinbart ist, wenn ich mit ihm abrechnen soll.«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie tonlos und zog ihre Hand aus der seinen. »Regeln Sie das ganz, wie Sie es für richtig halten, ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen. – Ach, Herr von Studmann«, rief sie plötzlich fast weinend, »müssen auch Sie mich quälen?! Haben Sie denn gar kein Gefühl?!«

Sie lief fast aus dem Büro. Herr von Studmann machte eine heftige Bewegung zu dem jungen Pagel, aber er schwieg dann doch. Einen Augenblick ging er hin und her auf dem Büro, dann setzte er sich an den Schreibtisch, nestelte die Uhr von der Kette und legte sie vor sich hin. Pagel fing wieder an zu tippen, er hatte während dieses Streites nicht aus dem Büro gekonnt, die gnädige Frau hatte immer unter der Tür gestanden, als wollte sie so rasch wie nur möglich gehen.

Studmann saß still am Schreibtisch, er blickte unverwandt auf die Uhr. Nach sehr kurzer Zeit, er mußte sie sich ausgerechnet haben, stellte er das Telefon nach der Villa durch, er nahm den Hörer vom Apparat, drehte die Kurbel – dann machte er eine heftige Bewegung zu Pagel: Pagel hörte mit Tippen auf.

Herr von Studmann sah erschreckend elend und verfallen aus. Wer ihn so sitzen sah, den Hörer in der Hand, auf die Antwort aus der Villa wartend, hätte nicht gesagt, daß dieser Mann ohne Gefühl war. Er war vielleicht verzwickt und vertrackt, er hatte seinem eigenen Gefühl in einem frauenlosen Leben so viel Hindernisse in den Weg gebaut, daß er sich allein nicht mehr befreien konnte. Aber Pagel sah doch, wie dieser Mann zitterte, vor Aufregung fast nicht sprechen konnte, als er am Apparat Frau Eva um eine dringende, um eine sofortige, um eine ganz private Unterredung bat.

Pagel stand mit einem Ruck auf und ging in sein Zimmer. Dieser unselige Studmann – er hatte natürlich vorhin Hemmungen gehabt, zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Nun die Schlacht geschlagen und fast verloren war, nun wußte er, was er hätte tun müssen: als Mensch mit ihr reden, nicht als Kaufmann.

Überraschend schnell klopfte Herr von Studmann. Er bat Pagel, sofort zur Villa zu gehen und mit dem Chauffeur Finger abzurechnen. – »Frau von Prackwitz möchte sofort fahren. Wahrscheinlich müssen Sie mit. Zu der Firma in Frankfurt. Nein, bitte, Pagel, ich möchte es nicht selbst … Frau von Prackwitz will mich um sechs Uhr sprechen.«

Pagel hatte wirklich nach Frankfurt mitfahren müssen, den Handkoffer mit dem Gelde bei sich; der Chauffeur Finger war nicht bevollmächtigt gewesen, die ganze Kaufsumme in Empfang zu nehmen.

Pagel hatte seinen Platz neben dem Chauffeur gehabt, im Fond des Wagens saß allein die gnädige Frau. Aber sie hatte sich nicht behaglich in den geräumigen Ledersitz zurückgelehnt, aufrecht saß sie da, auf einer Kante des Sitzes, das weiße Gesicht unverwandt gegen die Scheiben gepreßt. Von Zeit zu Zeit hatte sie gerufen: »Halt!«

Dann war sie ausgestiegen, irgendwo, an einer beliebigen Stelle der Landstraße, sie hatte ein paar Schritte in einen Querweg hinein gemacht, sie hatte den Boden aufmerksam angesehen, dann war sie wieder zurückgekehrt.

»Langsam weiter!«

Wieder war sie dann ausgestiegen. Sie hatte ein Stück Papier im Chausseegraben gesehen, sie lief danach, entfaltete es, sah es nachdenklich an. Schon an der hoffnungslosen Art, wie sie es auseinanderfaltete, sah man, daß sie nicht wirklich eine Botschaft ihrer Tochter darauf zu finden erwartete. Dann stieg sie wieder ein.

»Langsam weiter!«

Immer wieder kam ihr Ruf: »Langsamer! Langsamer! Ich will jedes Gesicht erkennen können.«

Der Motor brummte ungeduldig, im Zwanzigkilometertempo kroch der starke Wagen über die Straßen.

»Langsamer doch!«

Fünfzehn Kilometer …

»So macht sie es jetzt immer«, flüsterte der Chauffeur. »Es ist ihr egal, wohin ich fahre, nur aussteigen, rumlaufen, nachsehen muß sie können. Als wenn der Kerl noch hier in der Gegend wäre!«

»Passen Sie doch auf – Sie sollen hier halten!«

Sie steigt aus, sie geht in ein Chausseewärterhaus. Sie bleibt eine Weile. Der Chauffeur erzählt: »Nur durch Ortschaften und Städte darf ich schnell fahren, da sieht sie nicht aus dem Fenster. Sie denkt wohl, die beiden sind immer allein. – Nun, ich bin froh, daß ich heute Schluß machen kann.«

»Tut sie Ihnen denn gar nicht leid?« fragte Pagel den korrekten Musterchauffeur.

»Leid … Natürlich tut sie mir leid«, antwortete der. »Aber schließlich fahre ich einen sechzigpferdigen Horch und keinen Kinderwagen. Glauben Sie, das macht einem Chauffeur Spaß, so nuddlig rumzuleiern?«

Frau von Prackwitz kam aus dem Chausseewärterhaus. »Langsam weiter!« sagte sie.

Pagel hätte den Chauffeur treiben mögen. Sie mußten bis zwölf Uhr den Wagen in Frankfurt bezahlt haben, Studmann hatte es ihm eingeschärft, um zwölf würde der neue Dollarkurs herauskommen … Aber Pagel sagte kein Wort, nicht dem Chauffeur, nicht der gnädigen Frau …

Es wurde drei Uhr, bis sie in der Stadt waren, abrechnen konnten. Der Dollar war mit dreihundertzwanzig Millionen gegen zweihundertzweiundvierzig am Vortage gekommen – die ganze Pachtsumme ging drauf. Es blieb sogar noch eine kleine Restschuld stehen …

»Das macht nichts«, sagten die Herren höflich. »Sie erledigen diese Kleinigkeit nach Ihrem Belieben.«

Pagel wußte, daß es Herrn von Studmann viel machen würde. Er hatte gehofft, Pagel würde noch eine große Summe zur Lohnzahlung zurückbringen. Noch mehr würde es freilich Herrn von Studmann ausmachen, daß aus der erbetenen Unterredung um sechs Uhr nichts wurde. Frau von Prackwitz hatte Pagel in einem Lokal sitzenlassen, sie war fortgegangen, den neuen Chauffeur zu holen. Stunden vergingen, ehe sie wiederkam; der große, schöne Wagen stand führerlos auf der Straße.

Schließlich, es war schon fast dunkel, kam sie mit dem neuen Chauffeur. »Das ist Oskar, Herr Pagel«, sagte sie und setzte sich müde hin. »Oskar ist der Sohn einer Hausdame von Papa. Ich dachte an ihn, er hat Autoschlosser gelernt …«

»Ich habe auch den Führerschein«, sagte Oskar und setzte sich mit an den Tisch.

Oskar war ein Bengel, Anfang der Zwanzig, mit ungeheuer großen Händen und einem Gesicht, wie roh aus einem Teigkloß geformt; aber er sah gutmütig und ein wenig einfältig aus.

Frau von Prackwitz trank eilig eine Tasse Kaffee nach der andern. Aber sie aß nichts.

»Iß nur ordentlich, Oskar. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Sie sollten auch ein wenig essen, gnädige Frau.«

»Nein, danke, Herr Pagel. – Oskar hat Violet noch gekannt, er wird mir helfen, sie zu finden. Wie alt war Violet, Oskar, als du von Neulohe in die Lehre kamst?«

»Acht Jahre.«

»Wenigstens wird er so fahren, wie ich es haben möchte, nicht wahr, Oskar?«

»Natürlich, Frau von Prackwitz. Immer ganz langsam und alle ansehen – ich habe es schon verstanden. Ich habe doch davon in der Zeitung gelesen …«

Frau von Prackwitz schloß einen Augenblick die Augen. Dann sagte sie mit Nachdruck zu Pagel: »Ich habe wohl gemerkt, wie widerwillig dieser Finger so gefahren ist, wie ich wollte. Ihr alle tut jetzt oft nur widerwillig, was ich möchte – Sie auch, Herr Pagel!«

Er machte eine Bewegung.

Sie sagte: »Laßt mich doch tun, was ich will. Ich habe doch meine Tochter verloren, nicht wahr? Wenn einer von euch vorher klug gewesen wäre – aber jetzt! Was soll das?«

Pagel schwieg.

Endlich fuhren sie, es war nach sechs, es war schon ganz dunkel. Warum sie nicht den direkten Weg nach Neulohe fuhren, sondern einen meilenweiten Umweg, warum sie trotz der Dunkelheit kaum je schneller als zwanzig Stundenkilometer fuhren, warum sie auch in der Nacht noch halten mußten, und die gnädige Frau ging ein paar Schritte in einen unbekannten Wald hinein – Wolfgang verstand das alles nicht.

Vielleicht wollte sie nur allein sein, vielleicht stand sie nur da in der dunklen Nacht und wartete, bis das Motorengeräusch in ihrem Körper verstummt war, bis das Klopfen des eigenen Herzens wieder laut wurde in ihr. Meinte sie, daß sie, wenn sie das eigene Ich fühlte, auch die Tochter mitspürte, die einmal ein Teil dieses Ichs gewesen war?

Oder stand sie nur da in der Nacht, mit geschlossenen Augen in dem enggeschlossenen Behältnis der Nacht, und erwartete eine Helle, in der sie durch den Wald gegangen kämen – er und sie? Wie dachte sie an diese Verlorenen? Sah sie ihn vorausgehen, den häßlichen, trocknen, grauen Kopf gesenkt, zugekniffen der dünnlippige Mund – und die Tochter geht einen halben Schritt hinter ihm, auch sie mit geschlossenen Augen, immer noch im Schlaf, wie die Mutter sie zuletzt sah? Sieht sie die beiden heimatlos über eine fremde, kalte Erde wandeln – keine gastliche Tür schlägt sich ihnen auf, kein freundliches Wort erreicht sie je –?

Es ist doch erst so kurze Zeit her, daß der Pagel ihr berichtete, daß alles anders war, als sie es befürchtet hatte, daß kein heimlicher Liebhaber mehr zu suchen war, daß die halb närrische, halb verächtliche Fratze des Dieners der Feind gewesen war, der sie so beraubt hatte. »Aber das ist unmöglich! Ich glaube das nie!« hatte sie gerufen.

So wenig Zeit war seitdem verflossen, schon glaubte sie es. Schon wußte sie es, schon sah sie die beiden – und ihr war, als müßten sie immer wortlos beieinander sein, beide stumm aneinandergefesselt von der gleichen höllischen Qual. Sah sie denn die beiden nicht so deutlich, daß sie meinte, er müsse graue Turnschuhe aus Zeug tragen mit geriefelten Gummisohlen, so deutlich, daß sie jeden Nebenweg nach der Spur dieser Sohlen absuchte? Sah sie Violet nicht so deutlich, daß sie wußte, sie trug einen verschossenen, grauen Herrenüberzieher, über einem Kleid, das nicht recht saß, weil er es der Schlafenden angezogen hatte?

Ach, diese Männer – diese Polizei, diese Staatsanwaltschaft, die sich wichtig taten, die immerzu anklingelten, Boten schickten, dies wissen, jene Schuhgröße messen wollten! Sie würden Violet nie finden, sie wußte es genau. Sie war überzeugt, sie allein würde Violet begegnen, irgendwann einmal, es war ganz gleich, wo sie solange wartete, nur draußen mußte es sein – irgendwann, wenn die Stunde kam, würde sie schon auf dem richtigen Fleck stehen.

Hatten diese Leute nicht sogar in Violets Zimmer eine Art Haussuchung abhalten wollen, Fingerabdrücke auf der Fensterbank, Nachsuche nach Briefen?! Sie hatte es nicht zugelassen, sie hatte das Zimmer einfach abgeschlossen. Wozu jetzt noch Erhebungen? Es war ja alles sonnenklar! Violets Zimmer gehörte ihr allein: Wenn sie heimkam, völlig erschöpft von ihren Fahrten, zu müde sogar, um zu weinen, wenn sie schnell nach Achim gesehen hatte – dann ging sie in Violets Zimmer. Sie schloß die Tür ab, sie setzte sich neben das Bett, sie schloß die Augen.

Jawohl, zu Anfang warf sie noch einen argwöhnischen Blick auf das Fenster. Aber das Fenster war fest verschlossen, sie war nicht mehr unachtsam. Die Tochter konnte ruhig schlafen, sie lag in ihrem Bett. Allmählich schlief auch die Mutter ein, so in dem Korbstuhl neben dem leeren Bett sitzend, aus Wunsch wurde Traum. Schließlich schlief sie fest, erst am Morgen, wenn sie erwachte, zog sie sich um, wusch sich, rüstete sich für den neuen Tag.

Diese Morgen, bei denen das ganze Zimmer von einem fahlen, trostlosen Grau erfüllt war, wenn das kindische, zänkische Geplärr des Rittmeisters mit seinem Pfleger durch die Stille so peinvoll deutlich zu ihr herüberklang, wenn nach dem toten Nichts des Schlafes in das langsam erwachende Gehirn das Gefühl ihres Verlustes wie ein fressendes Feuer fiel – diese Morgen waren schrecklich. Aber dann stand der Wagen vor der Tür, gleich würde sie losfahren, eigentlich mußte sie sich eilen, vielleicht war das Wiedersehen mit ihrer Tochter schon ganz nahe.

Dieser törichte Pedant Studmann, der keine Ahnung davon hatte, was dieser Wagen für sie bedeutete! Daß er ihre Brücke in die Zukunft war, ihre einzige Hoffnung. Jawohl, er hatte eine höchst dringende, sehr eilige, private Unterredung von ihr verlangt, aber hier stand sie im Walde, es war neun Uhr oder zehn – er begriff nicht, daß man keinen verläßt, der vom Unglück geschlagen ist –! Vielleicht stand sie nur noch darum hier, weil er dort auf sie wartete!

Schließlich steigt sie wieder in den Wagen, sie läßt weiterfahren. Neulohe kommt näher, es ist nun wirklich zehn Uhr geworden. Aber als sie durch das Städtchen Meienburg kommen, läßt sie wieder halten. Sie kommt um vor Hunger! Es gibt hier ein gutes Hotel, den »Prinzen von Preußen«, als junges Mädchen hat sie hier oft mit den Eltern gesessen!

Sie läßt sich die Speisenkarte bringen, sie wählt sehr lange, ehe sie bestellt. Es gibt nicht ganz das Richtige auf der Karte für ihren Hunger, aber schließlich findet sie doch das eine und das andere. Sie nimmt die Weinkarte in die Hand, die Speisenkarte reicht sie dem jungen Herrn Pagel. Sie bestellt Wein, und immer beobachtet sie dabei den jungen Pagel aus den Augenwinkeln. Er sagt, er habe keinen Hunger, er ist fast mürrisch – oh, wie die Menschen Glas für sie geworden sind, sie kann völlig in ihn hineinsehen.

Sie sieht, wie er vor Ungeduld umkommt, sie sieht, er weiß von der Unterredung, die sie Herrn von Studmann versprochen hat. Vielleicht weiß er noch von viel mehr, von Blicken, gewissen Worten, von Hoffnungen … Eine Frau ahnt nie, wie weit Männer mit Geständnissen untereinander gehen, sie bringen das Unglaublichste fertig. Jawohl, der junge Herr Pagel, er kommt vor Ungeduld, vor Mitgefühl mit seinem Freund um, denkt er denn nicht auch einmal an sie –?! Daß sie vielleicht Gründe hat, zu zögern, zu warten –?! Er denkt überhaupt nicht an sie!

Frau von Prackwitz trinkt ein paar Glas Wein, sie ißt auch ein wenig von den bestellten Speisen. Dann läßt sie sich von dem Kellner die winterlich unbenützte Veranda aufschließen. Sie steht da eine Weile – die Tische sind übereinandergestapelt, vor den Fenstern ist Nacht, man sieht den kleinen Garten nicht, nicht die Weiden und Pappeln am Ufer des Flüßchens.

Sie steht eine ganze Weile auf der Veranda, der junge Pagel steht höflich und vielleicht eine Spur verdrossen daneben. Er begreift nicht, warum sie hierhergehen muß. Dann sagt sie halblaut im Hinausgehen: »Hier war ich mit Achim auf unserm ersten Ausflug zu zweien, grade als wir uns verlobt hatten.«

Sie dreht sich noch einmal um, noch einmal betrachtet sie die Veranda. Nein, man sieht ihr nichts an von den fast zwanzig Jahren, die dazwischenliegen; es scheint dieselbe Glasveranda. Eine ganze Ehe ist seitdem vergangen, ein Kind wurde geboren, es ging noch mehr verloren als ein Krieg. – Ade! Erloschene Lebensfeuer, die nichts wieder zum Brennen bringen kann – entschwundene Jugend, verschollenes Lachen – vorbei!

Still geworden sitzt sie wieder an dem Gasttisch des Hotels, nachdenklich dreht sie den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern. An der Haltung des jungen Pagel merkt sie, daß er nicht mehr ungeduldig, nicht mehr mürrisch ist, daß er nicht mehr drängt – er hat verstanden. Es ist gar nicht wahr, daß Jugend unduldsam ist – ein echtes Gefühl versteht echte Jugend sofort.

Etwas später kommt irgendein Herr an ihren Tisch, einer dieser Leute, mit denen sie früher verkehrt haben, irgendein Rittergutsbesitzer aus der Gegend … Er hat wohl einiges gehört, er hat wohl einiges gelesen, er hat wohl auch einiges getrunken. Jetzt kommt er, Abgesandter einer ganzen Runde, Teilnahme heuchelnd, um zu horchen. Er hat sie ja da sitzen sehen, mit einem jungen Burschen Wein trinken, diese beiden sind sogar in der Veranda verschwunden – vor nichts macht die Phantasie dieser Männer halt!

Sie richtet sich auf, weiß vor Erbitterung. Der Herr hat sich an ihren Tisch gesetzt, seinem listigen Fragespiel mit aller Hartnäckigkeit eines Betrunkenen hingegeben, merkt er gar nicht, daß sie schon aufgestanden ist.

Weiß und böse sagt sie in das rote Gesicht: »Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, Herr von … Den Kranz schicken Sie wohl erst, wenn meine Tochter gestorben ist –?«

Von dem jungen Pagel gefolgt, geht sie aus dem Lokal, ein tödliches Schweigen herrscht. Es dauert lange, bis der völlig verwirrte Kellner sich am Wagen einfindet, um sein Geld in Empfang zu nehmen.

Es ist nach Mitternacht, als sie in Neulohe ankommen. »Sagen Sie bitte Ihrem Freund«, sagt Frau von Prackwitz, als sie ins Haus geht, »daß ich ihn morgen früh sofort anrufe, wenn ich ihn sprechen kann.«

Still sitzt Herr von Studmann im Büro, still hört er sich den Bericht an. »Ich habe immer gedacht, Pagel«, sagt er, ein wenig kümmerlich lächelnd, »daß Zuverlässigkeit eine wünschenswerte Eigenschaft auf dieser Welt sei. Aber seien Sie alles, nur nicht zuverlässig!«

Er geht einen Augenblick hin und her auf dem Büro. Er sieht alt und müde aus. »Ich habe Frau von Prackwitz heute abend noch einen Brief geschrieben«, sagt er schließlich. »Sie findet ihn drüben vor. Nun gut, ich werde bis morgen warten.«

Aber er geht nicht auf sein Zimmer. Er bleibt auf dem Büro. Er wandert auf und ab. Sein Blick, der gegen seinen Willen dann und wann auf das Telefon fällt, verrät, an was er denkt: Vielleicht ruft sie doch noch an?

Pagel legt sich schlafen, er hört den andern auf und ab gehen, immer auf und ab. Er schläft darüber ein.

Es kommt der andere Morgen. Von der Frühstücksstunde an sitzt Herr von Studmann auf dem Büro, er kümmert sich nicht um die Wirtschaft. Pagel rennt hierhin, dorthin. Aber immer, wenn er zum Büro zurückkommt, sitzt Herr von Studmann noch da. Zuerst sucht er noch den Eindruck aufrechtzuerhalten, als arbeite er etwas, schreibe einen Brief – aber dann gibt er das alles auf. Er sitzt nur so da, ein elender, unglücklicher Mensch, der auf sein Urteil wartet …

Um halb elf sieht Pagel den großen Wagen durch Neulohe fahren. Er läuft auf das Büro. »Frau von Prackwitz war nicht hier? Hat sie nicht angerufen?«

»Nein. Warum?«

»Eben ist der Wagen fortgefahren.«

Herr von Studmann greift zum Telefon. Diesmal zittert seine Hand nicht, seine Stimme versagt nicht, als er fragt: »Hier Studmann – könnte ich bitte Frau von Prackwitz sprechen? – Sie ist eben fortgefahren? – Gut – hat sie etwas hinterlassen? – Ja, bitte, erkundigen Sie sich, ich warte am Apparat.«

Er sitzt da, den Hörer in der Hand, das Gesicht gesenkt, im Schatten – im – Schatten. Dann: »Ja, ich bin noch hier. – Nur, daß sie heute nicht zurückkommt? Sonst nichts? – Danke schön.«

Er legt den Hörer auf, er sagt zu Pagel hinüber, ohne ihn anzusehen: »Was sagte Ihnen Frau von Prackwitz gestern abend?«

»Daß sie heute sofort anruft, sobald sie Sie sprechen kann …«

Herr von Studmann reckt sich, er lächelt fast: »Ich bin wieder einmal die Treppe hinuntergefallen, mein lieber Pagel, nur etwas schmerzhafter als damals im Hotel. – Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, daß es irgendwo auf der Welt einen Fleck gibt, wo man unbedingte Zuverlässigkeit schätzt. Ich habe mich entschlossen, eine mir seit langem angebotene Stellung anzunehmen. Ich werde in dem Sanatorium des Geheimrats Schröck arbeiten. Ich bin sicher, daß die dort befindlichen Kranken vollkommene Zuverlässigkeit, Gleichmäßigkeit des Temperaments, eine nicht zu erschöpfende Geduld zu schätzen wissen.«

Pagel starrte Herrn von Studmann an, Herrn von Studmann, der jetzt das Kindermädchen der Nerven- und Gemütskranken werden wollte – ob er ironisch sprach oder ernst? Aber er sprach ganz ernst, nie war er ernster gewesen. Er war nicht geneigt, die Tollheiten dieser tollen Zeit mitzumachen, selber toll zu werden. Unermüdet, nicht verzweifelt, ging er weiter. Gewiß, er hatte einen Schlag bekommen, eine Hoffnung war ihm zergangen. Aber er trug es.

»Ich bin kein Mensch für Frauen«, sagte er und sah Pagel an. »Nein, ich eigne mich nicht für den Umgang mit Frauen. Ich bin ihnen zu regelmäßig, zu korrekt – irgendwie bringe ich sie zur Verzweiflung. Früher einmal, es ist lange her« – er machte eine vage Handbewegung, um anzudeuten, in welch nebelhaften Fernen es lag –, »früher einmal war auch ich verlobt, ich war jünger, vielleicht beweglicher. Nun, jedenfalls löste sie die Verlobung, urplötzlich, eines Tages. Es kam mir sehr überraschend. ›Es ist mir so‹, sagte sie zu mir, ›als müßte ich eine Weckuhr heiraten – sie tickt, sie tickt, du bist absolut zuverlässig, du gehst nicht vor noch nach, du klingelst genau zur richtigen Zeit – du bist einfach zum Verzweifeln!‹ Verstehen Sie das, Pagel?«

Pagel hörte mit einer höflichen, interessierten, eine Spur ablehnenden Miene zu. Dies war immerhin derselbe Studmann, der, als es Pagel schlecht ging, jede vertrauliche Offenheit schroff zurückgewiesen hatte. Der Schlag mußte ihn hart getroffen haben, wahrscheinlich war ihm auch diesmal die Lösung völlig überraschend gekommen.

»Nun, Sie sind ein anderer Typ, Pagel«, sagte der veränderte, schwatzhafte Studmann. »Sie leben gewissermaßen nicht in einer graden Linie – mehr hin und her, auf und ab. Sie überraschen sich gerne selbst – ich, ich hasse die Überraschungen!«

Seine Stimme bekam etwas Eisiges, Ablehnendes. Pagel dachte, daß Herr von Studmann Überraschungen vor allem unfein und darum verächtlich fand.

Aber weiter war Herr von Studmann auch in dieser erregten Stunde nicht mit seinen vertraulichen Eröffnungen gegangen. Gleich wurde er wieder sorgender Freund.

»Sie bleiben nun allein hier, Pagel«, sagte er. »Sie werden es schwer haben. Aber ich fürchte, es wird nicht lange dauern. Ich nehme an, Frau von Prackwitz irrt sich in der Beurteilung ihres Vaters. Die Pacht hätte unbedingt bezahlt werden müssen. Aus rechtlichen und aus persönlichen Gründen. Nun, Sie werden das alles noch erleben und mir, wie ich hoffe, brieflich berichten. Mein Interesse bleibt unverändert. Und sollte einmal eine Änderung – drüben in der Villa – eintreten und ich werde wirklich gebraucht –«, er zögerte einen Augenblick, dann rasch: »Nun, Sie würden es mir schreiben, nicht wahr?«

»Natürlich«, sagte Pagel. »Aber wann wollen Sie denn fort, Herr von Studmann? Doch noch nicht bald?«

»Gleich, sofort. Das heißt, ich denke, mit dem Nachmittagszuge. Mit Herrn Geheimrat Schröck setze ich mich dann von Berlin aus in Verbindung.«

»Was? Heute schon! Und Sie wollen sich nicht von Frau von Prackwitz verabschieden?!«

»Ich werde nachher den Rittmeister aufsuchen. Vielleicht erkennt er mich, gestern schien es nicht so. Für Frau von Prackwitz werde ich ein paar Zeilen hinterlassen. Ja, richtig, lieber Pagel, auch Ihre Sache werde ich bei dieser Gelegenheit in Ordnung bringen.«

»Welche Sache?« rief Pagel. »Ich weiß nichts Unerledigtes.«

»Nun, es wird Ihnen schon einfallen. Und wenn nicht, ich bin, wie gesagt, für zuverlässige Erledigungen …«

So reiste Herr von Studmann ab, ein Mann von Meriten, ein zuverlässiger Freund, aber ein bißchen vertrocknet. Ein Unglückshuhn, das sich für einen Eckstein des Weltgebäudes hielt.

Und natürlich hatte er mit jener Sache, die er für Pagel noch rasch in Ordnung bringen wollte, dem guten Wolfgang eine recht schwierig auszuessende Suppe eingebrockt.

»Was höre ich da?« hatte die gnädige Frau am nächsten Morgen erbittert gesagt, »mein Mann hat an Sie eine Ehrenschuld von zweitausend Mark in Devisen? Was heißt das?!«

Dies war dem jungen Pagel wirklich peinlich. Innerlich verfluchte er den Freund Studmann, der es nicht hatte über sich gewinnen können, in einem Abschiedsbrief an die Frau seines Herzens von dieser Sache zu schweigen. (In diesen schwierigen Tagen zu einer erregten, verzweifelten Frau von dieser Sache zu sprechen!)

Pagel ließ Herrn von Studmann glatt im Stich. Die Sache sei längst zwischen ihm und dem Herrn Rittmeister erledigt. Es habe sich übrigens nie um zweitausend Mark gehandelt. Eine höchst zweifelhafte Sache – gewissermaßen halb eine Zechschuld, Reisekosten, er wüßte nicht mehr, was alles … Aber wie gesagt, längst erledigt!

Frau von Prackwitz sah ihn unverwandt an mit ihren traurigen Augen. »Warum wollen Sie mich denn anlügen, Herr Pagel?!« sagte sie schließlich. »Herr von Studmann, ein großer Psychologe, wenigstens in geschäftlichen Dingen, hat ja bereits vorausgesehen, daß Sie sich wegen dieser Geldgeschichte genieren würden. Es handelt sich doch um zweitausend Goldmark, die Sie Herrn von Prackwitz beim Roulettspiel geliehen haben, nicht wahr?«

»Den Studmann soll der Teufel holen!« rief Pagel, nun wirklich ärgerlich. »Ich ordne meine Sachen alleine. Übrigens hat die Polizei sämtliche Spielgelder beschlagnahmt – es war ja doch alles verloren!«

Sie sah ihn ruhig an. »Warum genieren Sie sich in Gelddingen?« fragte sie. »Das müssen Sie nicht tun. Vielleicht habe ich in dieser Hinsicht meines Vaters praktischen Sinn geerbt.«

»Ich bin hier nicht wegen Geld«, sagte Pagel verbissen. »Nun sieht es wahrhaftig so aus …«

»Es freut mich«, sprach sie mit leiser Stimme, »wenn Neulohe wenigstens einem Menschen gutgetan hat.« Abschließend: »Das Geld, Sie wissen es ja, kann ich Ihnen jetzt nicht geben, aber ich denke daran. Ich vergesse es nicht. Dann ist noch Ihre Gehaltsfrage zu regeln, schreibt mir Herr von Studmann …«

Pagel tobte innerlich.

»Sie erhielten bisher nur eine Art Taschengeld. Das ist natürlich unmöglich. Ich habe es mir überlegt, die Beamten meines Vaters bekamen immer ungefähr zehn Zentner Roggen Monatsgehalt. Sie werden sich von jetzt an wöchentlich, wenn Sie die Leute löhnen, den Wert von zweieinhalb Zentner Roggen auszahlen.«

»Ich bin kein gelernter Landwirt. Hier müßte ein Inspektor her.«

»Ich will jetzt keine neuen Gesichter. Machen Sie es mir nicht auch schwer, Herr Pagel. Tun Sie das, was ich Ihnen gesagt habe, nicht wahr?«

Er nahm ihre Hand.

»Und das Geschäftliche erledigen Sie vorläufig ganz, wie Sie denken, ohne mich viel zu fragen. Vielleicht erholt sich mein Mann rascher, als wir jetzt glauben.«

Sie nickte ihm noch einmal freundlich zu.

Er sagte bedenklich: »Ich fürchte doch, es wird nicht gehen. Es ist zuviel, und ich habe keinerlei Erfahrung.«

»Doch, es wird gehen«, nickte sie. »Wenn Sie erst eingearbeitet sind, wird uns Herr von Studmann kaum noch fehlen.«

Armer Herr von Studmann – dieses war sein Lebewohl von Frau Eva von Prackwitz, einer Frau, die er verehrt und vielleicht sogar geliebt hatte. Aber es ist wohl anzunehmen, daß in jenem Abschiedsbrief Studmanns nicht nur geschäftliche Dinge, wie Gehaltsfragen und Spielschulden, standen, sondern auch einer jener pathetischen Sätze, die eher das verletzte Ehrgefühl als die verschmähte Liebe der Männer zu finden scheint und die von den Frauen stets so beleidigend und so lächerlich gefunden werden.

Wenn Frau von Prackwitz den überstürzten Abgang Studmanns von ihrem Standpunkt aus betrachtete, so konnte sie sagen, daß der Freund sie in der Stunde ihrer schlimmsten Not verlassen hatte, weil sie darauf bestand, daß zwei Zahlungen in einer andern Reihenfolge geleistet wurden, als er es wünschte. Sie konnte auch sagen, daß dieser Freund taktlos eine Unterredung in Liebesdingen erzwingen wollte, zu einer Stunde, da ihre Tochter in Lebensgefahr, ihr Mann in schwerer Krankheit sich befand.

Nein, sah man die Dinge vom Standpunkt der Frau, jeder Frau, so war Herr von Studmann völlig im Unrecht. Freilich vom kaufmännischen Standpunkt aus fing er an, recht zu behalten.

Heute mittag hatte Wolfgang einen Brief von ihm bekommen –:

»Also, lieber alter Freund, nein, lieber junger Freund, sollte ich richtiger sagen, mir geht es hier bei dem Geheimrat Schröck ausgezeichnet. Eine putzige Kruke, der alte Knabe, aber ein Betrieb, der abschnurrt wie eine Uhr … Sie sollten einmal hier die Diätküche sehen, mein lieber Pagel, gegen eine solche Exaktheit im Zuwiegen, Einteilen, Zubereiten, Anrichten kommt das bestgeleitete Berliner Hotel nicht auf. Nebenbei bemerkt: Ich habe mich zu einer rein vegetarischen Kost entschlossen, dazu kein Tabak mehr, kein Alkohol. – Irgendwie scheint dies meiner ganzen Veranlagung besser zu entsprechen, ich wundere mich, daß ich nicht früher daraufgekommen bin. Denken Sie einmal darüber nach: Der Tabak kam zu uns aus Südamerika, Mittelamerika, einem tropischen Lande, und der Alkohol, der Wein nämlich, der Bibel nach aus Palästina – kann also unserer nördlichen Natur nicht entsprechen. Aber ich will Sie beileibe nicht bekehren! Immerhin muß ich doch sagen, daß das Fleischessen …« Und so weiter und so weiter über vier Seiten des Briefes hin, bis zu dem denkwürdigen Nachsatz: »Hat der Geheimrat sich noch immer nicht wegen seiner Pacht gerührt? Es sollte mich doch sehr wundern.«

Wolfgang Pagel, immer feuchter auf seinem Strohballen, seufzt. Nun sucht er doch in der Tasche, er findet eine Zigarette, er brennt sie an. Also: Herr von Studmann braucht sich nicht mehr zu wundern, Herr von Studmann behält recht: Der Geheimrat hat sich gerührt wegen seiner Pacht. Er hat sich sogar höchst bösartig gerührt. Den ersten Maßnahmen werden andere folgen. Die Sache wird sich zuspitzen: Aus! Schluß!! Dein treuer Vater!!!

Es liegt in der Natur eines jeden Mannes, und eines jungen dazu, daß er nicht gerne für eine Sache tätig ist, die nichts taugt, die zum Untergang verurteilt ist. Die tiefe Mutlosigkeit, die den jungen Pagel angesichts einiger verrostender Schaufeln ergriffen hatte, stammte wohl vor allem hieraus. Wenn der Geheimrat doch in zwei oder drei Wochen den Betrieb lahmlegen würde, so machte ihm seine ganze Rennerei und Wirtschafterei keinen Spaß mehr. Dann dankte er dafür. Dann rührte er kein Bein mehr. Dann machte er sich keine Sorgen mehr – ausgerechnet auf diesem zugrunde gehenden Fleck des Deutschen Reiches, bestehend aus soundso viel Ländern und vierundfünfzig Parteien! Gute Nacht!

Nahm man den alten Geheimrat als eine unbekannte Größe, also nicht als das bekannte Geschöpf in Loden, mit Knollennase und listig funkelnden Augen, sondern als Besitzer, als den Verpächter schlechthin, so konnte man ganz und gar nicht sagen, daß er im Unrecht war. (Es blieb eine verfluchte Sache, dachte der junge Pagel, schon wieder lebhafter geworden, daß die meisten Menschen bei den meisten Dingen gleichzeitig im Recht und im Unrecht waren!) Der Pächter hatte zweifellos seine geldlichen Verpflichtungen nicht erfüllt. Er erlaubte sich kostspielige Privatneigungen zu Lasten der Wirtschaft, er wirtschaftete schlecht mit unausgebildeten Kräften, außerdem war der Pächter kein geschäftsfähiger Mann mehr! Zum Teufel, welchem Verpächter mußte nicht himmelangst werden, wenn er solchen Pächter in seinem Eigentum schalten und walten sah!

Wenn man auf der andern Seite allerdings bedachte, daß der alte Verpächter ein schwerreicher Mann war, daß der eigentliche Pächter seine Tochter war und daß es dieser Tochter zur Zeit ziemlich dreckig ging, so war der Verpächter wieder verdammt im Unrecht. Aber, dachte Pagel, es sieht dem schlimmen alten Knaben auch gar nicht ähnlich, daß er diese Sache mit dem Förster so ganz ohne weiteres anfängt. Er weiß doch auch, er ist gesellschaftlich, er ist menschlich in der ganzen Gegend erledigt, wenn er jetzt seiner Tochter die Weiterführung der Wirtschaft unmöglich macht, sie gewissermaßen auf die Straße setzt …

Nein, denkt der junge Pagel, aus heiterem Himmel kann dieser Blitzschlag nicht gekommen sein. Es muß etwas vorgegangen sein, von dem ich nichts weiß. Es ist verdammt, denkt der junge Pagel immer tatkräftiger, daß ich dem Förster versprochen habe, mit der gnädigen Frau nicht von diesem Brief zu sprechen. Ich bin ein Schafskopf gewesen, denkt er und steht jetzt von seinem Strohballen auf, ich hätte stets die persönliche Post durchsehen müssen, die Amanda nach der Villa gebracht hat. Vielleicht, fast sicher, ist ein Brief vom Geheimrat an seine Tochter dabeigewesen, und vielleicht, fast sicher, hat sie ihn weder gelesen noch beantwortet. Sie fährt ja fast nur noch im Auto durch die Welt. – Ich müßte, denkt er, in der Villa wieder einmal einen Besuch machen beim Rittmeister. Jetzt ist sie noch unterwegs. Ich habe es ja gesehen, ein ganz hübsches Päckchen Briefe liegt ungeöffnet auf ihrem Schreibtisch. Ich müßte sie einmal durch die Hand laufen lassen, an Poststempel und Handschrift sähe ich, ob der alte Knabe dazwischen ist. Dann könnte man von dieser Seite her die Sache irgendwie starten!

Er geht hin und her, er versetzt einem Spaten, der ihm das Leben schwer machen will, einen Tritt, daß er aus dem Wege fliegt.

Gott, o mein Gott! Ich will doch hier, verdammt noch mal, nicht ganz umsonst gearbeitet haben, bis der Peter mich wieder zu sich ruft! Ich will doch auch für die hier was geleistet haben –: irgendein Steinchen im Weltgebäude aufgelegt, das liegenbleibt, das der alte Knabe nicht gleich wieder runterschmeißt!

Ein anderer, ein vergnügter Gedanke kommt ihm. Die Zigarette fliegt in einem Bogen über die nächste Kartoffelmiete und erlischt in der Nacht. Schluß mit dem lasterhaften, aus tropischen Ländern stammenden Nikotin! Aber ich habe doch schon was sehr Schönes geschafft! Ich habe unsern geheimen Aufseher für die nächsten sechsundzwanzig Wochen ins Bett gepackt. Mit den Wegeverboten, mit der Verkaufskontrolle ist es erst einmal nichts, mein lieber Geheimrat. Du wolltest so schlau sein, die Forstarbeiten, das Holzschlagen hast du ihm erst einmal abgenommen, mit einem geheimnisvollen Wink auf bald geänderte Geldzustände; ich bin noch schlauer gewesen, ich habe ihm alles abgenommen: die Forst mit der Spionage – Donnerwetter ja, ich muß doch den Doktor anrufen! Volldampf aufs Büro!!

Die kurze mutlose Stunde ist vorüber. Er ist nicht mehr erschöpft und ausgepumpt, er ist ein junger Mann, dem seine Arbeit Spaß macht und der sie zu einem guten Ende führen wird! Mit eiligen Schritten strebt er durch die Nacht dem Hofe zu.

Wolf unter Wölfen
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