5

Der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow hatte seinem alten Diener Elias einmal einen Stock geschenkt, ein gelblich-bräunliches Malakkarohr mit einem goldenen, kugligen Knauf obendrauf. Im allgemeinen war der alte Herr nicht fürs Schenken, im allgemeinen erledigte er dieses Problem mit der Frage: Wer schenkt mir was –?! Aber manchmal war er eben auch anders und schenkte jemandem was (und erinnerte ihn dann seine Lebtage daran).

Der Malakkastock war auch erst dann in den Besitz des Elias übergegangen, als durch das schimmernde Gold der Kugel das graue Blei ihrer Füllung schien. Das hinderte den alten Herrn nicht, Elias oft an den »echt goldnen Stock« zu erinnern: »Putzt du ihn auch ordentlich, Elias? Das Rohr mußt du alle vier Wochen fetten. Das ist ein Erbstück, solch goldner Stock, den kannst du noch deinen Kindern vermachen. – Na ja, Kinder hast du nicht (wenigstens, soviel mir bekannt ist), aber ich bin überzeugt, sogar meine Enkelin Violet würde sich über den goldnen Stock freuen, wenn du ihn ihr in deinem Testament vermachen würdest …«

Was Elias über den Goldgehalt der Kugel dachte, blieb unbekannt, er war zu würdig, von solchen Dingen zu sprechen. Aber er hielt das Malakkarohr lieb und wert und hatte es bei sonntäglichen Gängen stets in der Hand. So auch heute. In der einen Hand den Stock, in der andern einen Panama, trug er seinen großen, gelblichen Schädel durch die Nachmittagssonne zwischen den Häusern des Dorfes hindurch auf die rittmeisterliche Villa zu. In den Brusttaschen seines feierlichen braunen Bratenrockes mit besponnenen Knöpfen trug er links die Tasche mit den Tausendmarkscheinen, rechts den Brief des Geheimrats an seinen Schwiegersohn, der nun endlich bestellt werden sollte.

Wo er ein Gesicht sah, da blieb der alte Elias stehen und sprach es an. War es ein Kind, so fragte er nach dem ersten oder fünften Gebot; war es eine Frau, erkundigte er sich nach den Gichtschmerzen oder ob auch noch Milch genug da sei für das Nähren des Säuglings. Bei den Männern aber fragte er nach dem Fortschritt der Ernte, sagte »Ah!« oder »Oh!« und »Ach was!«, brach aber immer nach drei oder vier Sätzen die Unterhaltung ab, schwenkte leicht den Panama, stieß das Malakkarohr auf die Erde und schritt weiter. Kein Serenissimus hätte leutseliger und doch würdiger zwischen seinen Untertanen wandeln können als der alte Elias unter den Bewohnern des Dorfes, die ihn doch nichts angingen und die er nichts anging. Sie akzeptierten ihn aber alle willig, so wie er war, und war einmal ein Neuer darunter, der sich nach dem ersten Interview beschwerte, was denn eigentlich der alte Affe von ihm wolle und was in aller Welt er sich denn einbilde – beim zweiten oder spätestens dritten Male war er doch schon dem Zauber wunschloser Abgeklärtheit erlegen und antwortete genauso willig wie die alte Garde.

Der alte Elias war, obwohl ebenso alt wie der Förster Kniebusch, ganz anders, und wo der sich ewig ängstete, schmeichelte, nach den Augen sah, zum Munde redete, in die Ohren blies, immer in Sorge um Alter und Auskommen – da wanderte der alte Elias in friedlicher Heiterkeit dahin, und die Dinge dieser Welt bedeuteten ihm nichts, und er wurde mit seinem verschlagenen, bösen Herrn so selbstverständlich fertig wie ein Kind mit seiner Puppe. So ist es aber einmal auf dieser seltsamen Erde eingerichtet: die Sorgen, die dem einen das Herz abdrücken, die spürt der andere gar nicht.

Als der Diener Elias bei der Villa angekommen war, ging er mit seinem Brief nicht vorne die Treppe hinauf zu der am gestrigen Sonnabend feiertäglich vom Diener Räder geputzten Messingklingel, sondern er ging um die Villa herum und die Zementstufen in das Souterrain hinab, und gegen die Tür dort klopfte er nicht zu laut und nicht zu leise, wie es sich eben gehört. Es rief keiner »herein«, und so öffnete Elias die Tür und stand in der Küche, in der eine ganz sonntägliche Stille und Sauberkeit herrschte. Nur der Kessel mit dem Teewasser zum Abend summte sacht über der sinkenden Flamme. Der alte Elias sah sich um, aber es war niemand in der Küche. So nahm er denn den Kessel, schüttete ihn über dem Ausguß aus und stellte ihn leer beiseite, denn er wußte, daß die junge gnädige Frau ihren Tee von frisch kochendem Wasser aufgebrüht haben wollte, nicht von abgestandenem.

Dies verrichtet, ging Elias durch eine Tür im Hintergrund der Küche auf den dunklen Gang, der das Kellergeschoß der Villa in zwei Teile zerschnitt. Auf dem Gang machte sein Stock deutlich »tapp, tapp«, außerdem hüstelte der alte Elias, und zum Überfluß klopfte er noch an die Tür. Aber vielleicht wären alle diese Anmeldungen nicht nötig gewesen, denn der Diener Räder saß ganz still und steif in seinem kahlen Zimmer auf dem bretternen Stuhl, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah starr mit seinen fischigen Augen auf die rohe Tür, als hätte er schon seit Stunden so gesessen.

Als der Diener Elias aber eintrat, stand der Diener Räder von seinem Stuhl auf, nicht zu langsam und nicht zu schnell, wie es sich eben gehörte, und sagte: »Guten Tag, Herr Elias, wollen Sie bitte Platz nehmen …«

»Guten Tag, Herr Räder«, antwortete der alte Elias. »Ich beraube Sie ja …«

»Ich stehe gerne«, erklärte Räder. »Das Alter soll man ehren.«

Und er nahm dem andern Hut und Stock aus den Händen. Den Hut hängte er auf einen Haken, und den Stock lehnte er in eine Ecke. Darauf stellte er sich mit dem Rücken an die Tür, dem Diener Elias gegenüber, aber durch die ganze Länge der Kammer von ihm getrennt.

Mit einem großen, gelblichen Tuch trocknete sich Elias seine Brauen und Stirn und sagte dabei freundlich: »Ach ja, ach ja – es ist heiß heute. Herrliches Erntewetter …«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Räder abweisend. »Ich sitze hier in meinem Keller. Und mit der Ernte habe ich nichts zu tun.«

Elias faltete das Tuch umständlich zusammen, steckte es in die Rocktasche und brachte dafür den Brief zum Vorschein: »Ich habe da einen Brief für Herrn Rittmeister.«

»Von unserm Schwiegervater –?« fragte Räder. »Herr Rittmeister ist oben. Ich werde Sie gleich anmelden.«

»Ach ja, ach ja!« seufzte der alte Elias und sah den Brief an, als läse er die Adresse. »Da schreiben sich die Verwandten nun Briefe. Was man nicht von Mund zu Mund sagen kann, Herr Räder, das sollte man auch nicht in Briefe schreiben …«

Er sah die Adresse noch einmal mißbilligend an und legte den Brief gedankenverloren auf das Rädersche Bett.

»Ich bitte doch sehr, Herr Elias!« sagte Räder streng, »nehmen Sie den Brief von meinem Bett!«

Der alte Mann griff seufzend nach dem Brief.

Ruhiger sprach Räder: »Die Briefe von unserm Schwiegervater haben uns noch nie Gutes gebracht – Sie dürfen ihn ruhig selbst abgeben. Ich melde Sie an, Herr Elias.«

»Lassen Sie einen alten Mann sich doch verpusten«, klagte der Alte. »So eilig ist es ja wohl auch nicht, am Sonntagnachmittag.«

»Natürlich, daß der Herr Rittmeister unterdes spazierengeht, und ich kriege den ersten Zorn ab«, grollte Räder.

»Wir sind drüben in Sorge um unser Enkelkind«, sagte der alte Elias. »Wir haben Fräulein Violet seit fünf Tagen nicht im Schloß gesehen.«

»Schloß! Das ist eine Lehmscheune, Herr Elias!«

»Ist unser Weiochen krank?« schmeichelte der alte Mann.

»Den Doktor haben wir nicht hiergehabt«, sagte Herr Räder.

»Aber was macht sie bloß?! Ein junges Mädchen – und sitzt bei dem schönen Wetter im Haus!«

»Ihr ›Schloß‹ ist doch auch ein Haus – ob sie da sitzt oder hier, das ist doch einerlei!«

»Also sie kommt wirklich gar nicht raus – nicht mal hier in den Garten?« sagte der alte Mann und stand auf.

»Wenn Sie das einen Garten nennen, Herr Elias! – Der Brief betrifft also das gnädige Fräulein?«

»Das kann ich nicht sagen – aber möglich ist es.«

»Geben Sie ihn her, Herr Elias, ich werde ihn besorgen.«

»Sie geben ihn Herrn Rittmeister –?«

»Ich besorge ihn schon richtig – ich gehe sofort hinauf.«

»Ich sage also Herrn Geheimrat, daß Sie ihn abgegeben haben.«

»Jawohl, Herr Elias.«

Tapp, tapp, tapp – ging das Malakkarohr mit dem alten Elias in die Sonne hinaus, und tapp, tapp, tapp stieg der Diener Räder die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Als er aber an die Zimmertür klopfen wollte, hörte er einen Schritt aus dem ersten Stock die Treppe herabkommen, und als er hochsah, waren’s die Füße der gnädigen Frau, die da über die Stufen gingen. Also nahm es der Diener Räder für einen Wink, klopfte nicht, sondern hielt den Brief etwas auf dem Rücken und sagte: »Gnädige Frau –!«

Die Frau von Prackwitz hatte zwei rote Flecken auf den Backenknochen unter den Augen, so, als hätte sie eben geweint. Sie sagte aber ganz munter: »Nun, Meister Hubert, was gibt es?«

»Es ist ein Brief gekommen von drüben für den Herrn Rittmeister«, antwortete Räder und zeigte eine Ecke von dem Brief.

»Ja?« fragte die gnädige Frau. »Warum gehen Sie nicht hinein und geben den Brief ab, Hubert?«

»Ich tue es schon«, wisperte Hubert, zeigte den Brief aber nicht sehr. »Ich bin mutiger als der Herr Elias, der sich nicht getraut hat, ihn abzugeben. Sogar in mein Zimmer ist er darum gekommen, was er noch nie getan hat …«

Frau von Prackwitz bekam vor lauter Nachdenken eine kleine senkrechte Falte zwischen den Brauen auf der Stirn. Der Diener Hubert zeigte den Brief wenig, eben nur eine Ecke – aus dem Zimmer fuhr mit Gepolter der Rittmeister: »Was ist das für ein verdammtes Gewisper und Getuschel vor meiner Tür –?! Sie wissen, daß ich das auf den Tod nicht ausstehen kann! – Ach, verzeih, Eva –!«

»Es ist schon gut, Achim, ich habe hier mit Hubert etwas zu besprechen.«

Der Rittmeister zog sich zurück, die gnädige Frau trat mit Hubert an eines der Dielenfenster und sagte: »Also geben Sie den Brief einmal her, Hubert.«

»Die machen sich auf dem Schloß wohl viele Gedanken um unser Fräulein Violet«, erzählte Hubert nölig. »Der Herr Elias hätte gar zu gerne erfahren, warum das gnädige Fräulein seit fünf Tagen nicht auf dem Schloß gewesen ist.«

»Und was haben Sie gesagt, Hubert –?«

»Ich, gnädige Frau? Ich habe gar nichts gesagt!«

»Ja, das können Sie großartig, Hubert!« bestätigte Frau von Prackwitz sehr bitter. »Sie sehen, was ich mir für Sorgen und Kummer wegen der Violet mache – wollen Sie mir denn wirklich nicht sagen, wer der unbekannte Herr gewesen ist, Hubert? – Ich bitte Sie sehr herzlich!«

Sie bat ihn wirklich, aber einen Stockfisch soll man um nichts bitten.

»Ich weiß von keinem unbekannten Herrn, gnädige Frau.«

»Nein, natürlich nicht, weil er Ihnen bekannt ist! – Oh, was sind Sie für ein Schlaukopf, Hubert!« Frau von Prackwitz war sehr zornig. »Aber wenn Sie es weiter so treiben, Hubert, mit dieser Heimlichtuerei und Unwahrhaftigkeit – dann sind wir Freunde gewesen!«

»Ach, gnädige Frau …« sagte Hubert mürrisch.

»Was heißt: ›Ach, gnädige Frau‹ –?!«

»Bitte schön, hier ist der Brief!«

»Nein, ich will wissen, was Sie eben gemeint haben, Hubert!«

»Es ist gewissermaßen nur eine Redensart …«

»Was ist eine Redensart? Hubert, ich bitte –!«

»Daß wir dann Freunde gewesen sind, gnädige Frau«, sagte Hubert ganz fischig. »Ich bin doch bloß der Diener, und gnädige Frau sind die Frau von Prackwitz – da kann von Freundschaft doch nicht die Rede sein …«

Die gnädige Frau wurde bei dieser Unverschämtheit brennend rot. In ihrer Verwirrung griff sie nach dem Brief, den der Diener ihr immer noch hinhielt. Sie riß ihn auf und las darin. Mitten über dem Lesen aber hob sie den Kopf und sagte scharf: »Herr Räder! Entweder sind Sie zu dumm oder zu klug für eine Dienerstellung – in beiden Fällen, fürchte ich, werden wir uns in Kürze trennen …«

»Gnädige Frau!« sagte Räder, jetzt auch ein wenig erregt. »Ich habe in meinen Zeugnissen Empfehlungen von hohen adligen Herrschaften. Und auf der Dienerschule habe ich das goldene Diplom bekommen …«

»Ich weiß, Hubert, ich weiß, Sie sind eine Perle!«

»Und wenn der Herr Rittmeister sich von mir trennen will, so bitte ich, es mir rechtzeitig zu sagen, damit ich kündigen kann. Denn es ist immer hinderlich für meinen Lebensweg, wenn ich gekündigt worden bin …«

»Schön, schön«, sagte Frau von Prackwitz, die den kurzen Brief überflog und verständnislos die Bogen mit den Zahlen angesehen hatte. »Es soll nach Ihren Wünschen geschehen, Hubert. – Dies«, sagte sie erklärend, »ist nur ein belangloser Geschäftsbrief, nichts wegen Fräulein Violet. Elias ist wohl für eigene Rechnung ein bißchen neugierig gewesen.«

Hubert sah aber, daß die gnädige Frau den Brief nicht in der Hand behielt. Sie knickte ihn viele Male und schob ihn in ein Seidentäschchen an ihrem Kleid.

»Wenn Sie Herrn von Studmann sehen, Hubert, so sagen Sie ihm doch, er möchte gegen sieben, nein, sagen wir, um drei Viertel sieben hier vorbeikommen …«

Und damit nickte die gnädige Frau Hubert noch einmal kurz zu und ging dann in das Zimmer zum Rittmeister.

Hubert blieb noch einen Augenblick auf der Diele stehen, bis er die beiden drinnen reden hörte. Dann schlich er Stufe um Stufe, immer den ganzen Fuß sachte aufsetzend und abhebend, die Treppe hinauf, so daß keine Diele knackte.

Oben ging er rasch über den Flur, klopfte nur einmal leise gegen die Tür und trat schnell ein.

In dem Zimmer saß Violet an einem Tischchen, ein zerknülltes, feuchtes Taschentuch und rote Flecke auf dem Gesicht bewiesen, daß auch sie geweint hatte.

»Na –?« sagte sie nichtsdestoweniger gespannt. »Hat Mama Sie auch in der Mache gehabt, Hubert?«

»Gnädiges Fräulein sollten nicht so leichtsinnig sein beim Lauschen«, tadelte Hubert. »Ich habe die ganze Zeit Ihren Fuß auf dem obersten Treppenabsatz gesehen. Und die gnädige Frau hätte ihn auch sehen können …«

»Ach, Hubert, die arme Mama! Eben hat sie hier geweint. Manchmal tut sie mir schrecklich leid, und mir ist, als müßte ich mich schämen …«

»Das Schämen hat keinen Zweck, gnädiges Fräulein«, sagte Hubert streng. »Entweder leben Sie, wie die alten Herrschaften es wollen, dann brauchen Sie sich nicht zu schämen. Oder Sie leben, wie wir Jungen es für richtig halten, und dann haben Sie es erst recht nicht nötig.«

Weio sah ihn prüfend an. »Manchmal denke ich doch, Sie sind ein sehr schlechter Mensch, Hubert, und Sie haben ganz schlechte Pläne«, sagte sie, aber ziemlich vorsichtig, fast ängstlich.

»Was ich bin, das muß Sie nichts angehen, gnädiges Fräulein«, sagte er so rasch, als hätte er das alles längst überlegt. »Und meine Pläne sind eben meine Pläne. Was Sie wollen, darauf muß es Ihnen ankommen!«

»Und was hat Mama gewollt?«

»Nur die üblichen Fragen nach dem unbekannten Mann. Die Großeltern machen sich auch Gedanken um Sie, gnädiges Fräulein.«

»Ach Gott, wenn sie mich doch endlich hier rausholten! Ich halte es nicht mehr aus hier drin! Ich heule mich noch tot! War denn wirklich wieder nichts im Baum, Hubert?«

»Kein Brief, kein Zettel!«

»Wann hast du denn nachgesehen, Hubert?«

»Grade vor dem Kaffeetrinken.«

»Sieh jetzt noch einmal nach, Hubert. Geh gleich hin und sage mir sofort Bescheid.«

»Das hat doch keinen Zweck, gnädiges Fräulein. Er kommt doch nicht bei Tage ins Dorf.«

»Und paßt du bei Nacht auch gut auf, Hubert! Es ist doch unmöglich, daß er gar nicht kommt! Er hatte es mir fest versprochen! Schon die übernächste, nein, die nächste Nacht hat er hiersein wollen …«

»Er ist bestimmt nicht hiergewesen. Ich hätte ihn getroffen, und ich hätte es auch gehört, wenn er hiergewesen wäre.«

»Hubert, ich halte es einfach nicht mehr aus … Ich seh ihn, bei Tag und bei Nacht, und dann fühle ich ihn, als wäre er wirklich hier, aber wenn ich dann zufasse, dann ist es nichts, und ich falle wie über hundert Stufen … Mir ist ganz anders, es ist, als wäre ich vergiftet, ich habe keine Ruhe mehr … Und dann sehe ich seine Hände, Hubert. Er hat so schöne Hände, Hubert, sie fassen so fest zu, und dann rieselt ein Schauer über einen … Ach, was ist bloß mit mir los –?«

Sie starrte den Diener Hubert Räder mit weit aufgerissenen Augen an. Aber es war nicht sicher, daß sie ihn überhaupt sah.

Der Diener Räder stand wie ein Stock unter der Tür. Sein grauer Teint rötete sich nicht, sein Auge blieb grau und ohne Glanz, wenn er auch unverwandt auf das weiche, ganz sich öffnende Mädchen sah.

»Dabei müssen Sie sich nichts denken«, sagte er in seinem gewöhnlichen lehrhaften Ton. »Das ist so!«

Weio sah ihren Vertrauten, ihren einzigen Vertrauten an, als sei er ein heilbringender Prophet.

Räder nickte voller Bedeutung. »Das sind körperliche Vorgänge«, erklärte er, »das ist das körperliche Verlangen. Ich kann Ihnen ein Buch darüber geben, es ist von einem Arzt verfaßt, einem Sanitätsrat. Darin ist das alles genau beschrieben, wieso es kommt und wo es seinen Sitz hat und wie man es heilt. Es heißt Ausfallserscheinungen oder Abstinenzerscheinungen.«

»Ist das wirklich so, Hubert? Steht das in dem Buch? Du mußt mir das Buch bringen, Hubert!«

»Das ist so! Das hat mit dem – Herrn gar nichts zu tun!« Hubert kniff die Augen ein und beobachtete die Wirkung seiner Worte. »Das ist bloß der Körper – der Körper hat Hunger, gnädiges Fräulein!«

Weio war fünfzehn Jahre, und sie mochte so leichtsinnig und so genußsüchtig sein wie nur ein Mädchen dieser Tage, über die Liebe hatte sie noch ihre Illusionen, und mit dem einen zerrissenen Schleier war nicht jeder holde Wahn gewichen. Langsam nur begriff sie die volle Tragweite der Enthüllungen Räders, sie zuckte zusammen wie von einem Stich, sie ächzte.

Dann aber bäumte sie sich auf, sie fuhr auf den Diener los: »Pfui! Pfui!« schrie sie. »Sie sind ein Schwein, Räder, Sie beschmutzen alles! Gehen Sie weg, rühren Sie mich nicht an, fort aus meinem Zimmer, auf der Stelle …!«

»Aber bitte sehr! Gnädiges Fräulein! Ich bitte sehr um Ruhe, die gnädige Frau kommt! Lügen Sie etwas; wenn Herr Rittmeister es erfährt, ist der Leutnant verloren …«

Und er glitt aus dem Zimmer, huschte in die nebenan liegende Schlafstube der gnädigen Frau, stand hinter der Tür … Er hörte den eiligen Schritt, nun klappte die Tür zu Violets Zimmer …

Weiter lauschte er, die Stimme der gnädigen Frau wurde vernehmbar, Violet schluchzte laut …

Das ist das Schlauste, was sie tun kann, dachte er zufrieden. Heulen. – Es war wohl ein bißchen zu früh und zu kräftig. Na, wenn sie eine Woche ohne Nachricht vom Leutnant bleibt …

Er hörte den Schritt des Rittmeisters auf der Treppe, tief drückte er sich zwischen Bademantel und Morgenrock der gnädigen Frau … So verächtlich der Rittmeister in seiner Dummheit und Hitze war, er blieb fast der einzige, vor dem man Angst haben mußte. Er war imstande, einen Menschen durch die Scheiben aus dem Fenster zu werfen. Er war ein Vulkan, eine Naturkatastrophe. Keine Klugheit half gegen ihn …

»Ich sage dir, du übertreibst es«, hörte er den Rittmeister mit zorniger Stimme sagen. »Das Kind ist einfach nervös. Es muß an die frische Luft. Komm, Weio, gehen wir ein bißchen spazieren …«

Räder nickte. Durch Badezimmer und Schlafzimmer des Rittmeisters schlüpfte er auf die Treppe und huschte hinab in sein kahles Kellerzimmer. Er schloß den Schrank auf. Mit einem zweiten Schlüssel öffnete er den Handkoffer, aus dem er das zerlesene Buch nahm: »Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß«.

Er wickelte es in ein Stück Zeitungspapier, er würde es abends unter Violets Kopfkissen legen. Vielleicht nicht grade heute oder morgen. Aber etwa übermorgen. Er war überzeugt, Weio würde es lesen, trotz des Ausbruchs eben.

Wolf unter Wölfen
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