8

Sophie Kowalewski, die ehemalige Zofe der Gräfin Mutzbauer, hatte den Abend im Christlichen Hospiz recht angenehm verbracht. Zuerst, bis es Zeit zum Abendessen war, hatte sie in ihren Sachen gekramt – es war doch ein schönes Gefühl, einmal als endgültige Besitzerin all das zu mustern, was sie ihrer Herrin entführt hatte. Das war nicht wenig – Sophie konnte von sich sagen, daß sie nicht nur reich, sondern auch kostbar ausgestattet war. Neulohe würde vor Neid platzen, wenn es dies alles zu sehen bekäme.

Von selbst wurde aus dem Mustern ein Umkleiden. Sie mußte ja etwas Passendes für das Abendessen in diesem Hospiz anziehen. Mit der instinktiven Anpassung für ihre Umgebung, die Sophies Stärke war, wählte sie ein blaues Kostüm. Dazu zog sie eine gelbliche, rohseidene Bluse an. Der Rock war vielleicht für wirklich fromme Leute ein bißchen zu kurz, aber das ließ sich nicht ändern. Sophie besaß keine längeren Röcke, aber sie nahm sich fest vor, nicht die Beine überzuschlagen. Den zu tiefen Ausschnitt der Bluse korrigierte sie mit einem leichten bunten Seidentüchlein.

Nur ein ganz klein wenig Lippenstift, nur eine Andeutung von Rot auf die Backen –: Sophie war fertig und stieg in den Speisesaal hinunter. Die Sprüche an den Wänden, teils gebranntes Holz, teils bemalte Pappe, entzückten sie. Auf den Tischen mit den häßlichen, aber verschwenderisch gedrechselten Beinen lagen Tischtücher aus grauem, gewaffeltem Papier. Wo das Tischtuch einen Flecken bekommen hatte, war wieder eine Papierserviette darübergelegt. Das war sparsam, praktisch und, wie sich das gehörte, als Drittes im Bunde, grundhäßlich – fand Sophie.

Die Suppe war dünn und entstammte einem Würfel, an den Schoten war dafür das Mehl nicht gespart, das Schweinskotelett war klein, und das Fett roch. Sophie, die verwöhnte Sophie, aß diesen Fraß mit innigem Vergnügen. Es machte ihr Spaß, bei den Frommen zu Gaste zu sein. So lebten die also, solche Entbehrungen legten sie einander auf, bloß, um das Irdische zu verachten und mit dem lieben Gott gut zu stehen, den es doch gar nicht gab!

Mit besonderem Interesse musterte Sophie aber die bedienenden Saaltöchter. Sie suchte dahinterzukommen, ob das gebesserte gefallene Mädchen waren und ob ihnen ihre jetzige Tätigkeit gefiel. Wenn sie einmal gefallen waren, entschied Sophie, so mußte es sehr lange her sein, so ältlich waren sie. Und verdrießlich sahen sie eigentlich alle aus: dies konnte – entgegen dem Spruch über der Anrichte – keine sehr fette grüne Aue sein.

Als Sophie gegessen hatte, war es halb neun: unmöglich, jetzt schon ins Bett zu gehen. Eine Weile stand sie unentschlossen an dem Fenster des Speisesaals und sah auf die regenfeuchte Wilhelmstraße hinaus. Sie war immer nur im Westen ausgegangen, vielleicht konnte man sich einmal die Lokale im Zentrum ansehen? Aber nein! – Sie war entschlossen, heute zeitig ins Bett zu gehen und überhaupt ihren ganzen Urlaub hindurch höchst solide zu sein. – Ausgehen kam heute abend unter keinen Umständen in Frage.

Gottlob entdeckte sie eine Tür mit der Aufschrift »Schreibzimmer« und wußte nun, wie sie ihren Abend verbringen würde. Sie mußte ihrem Freund Hans doch mitteilen, daß seine Schwester ihn bald besuchen würde.

In dem sehr kahlen, dürftig beleuchteten Schreibzimmer saß nur ein mit einem langen, schwarzen Schoßrock bekleideter, weißhaariger Herr – bestimmt ein Pastor. Bei ihrem Eintritt fuhr er verwirrt aus seiner Zeitung hoch, oder von seinem Schläfchen über der Zeitung, und stammelte etwas. Entschieden war er verlegen, wahrscheinlich war er sich im Zweifel, ob er allein mit einem so nett gekleideten Mädchen in einem Zimmer sein dürfe.

Während Sophie mit einem töchterlichen Lächeln – sie hielt es wenigstens dafür – an ihm vorbeiglitt und den Drehstuhl vor dem Schreibtisch erkletterte, dachte sie bei sich, daß dieser alte Sprüchemacher recht weich aussah. Pastor Lehnich in Neulohe war von härterem Schlage. Sie hatte eine genaue Erinnerung daran, wie fest der zuhauen konnte, wenn man seine Gesangbuchverse nicht gelernt hatte, oder mehr noch, wenn man mit »Jungens« abgefaßt worden war.

Weder Weichheit noch Alter, noch Frömmigkeit schienen aber den weißhaarigen Herrn dort zu hindern, alle naselang von der Zeitung hoch und nach ihren Beinen zu schielen. Sophie zog ärgerlich den Rock so weit herunter, wie es nur irgend ging – etwa bis zum Knie. Sie fand es unrecht von einem Pastor. Sonst machte es ihr immer Spaß, wenn die Herren nach ihren Beinen schielten. Aber für einen Pastor schickte sich das nicht, ein Pastor hatte anderes zu tun, als ihre Beine angenehm zu finden, dafür bekam er sein Gehalt nicht.

Als sie den alten Herrn zum dritten Male ertappte, warf sie ihm einen scharfen Blick zu. Sofort lief er rot an, mümmelte etwas und verließ überstürzt das Lesezimmer.

Sophie seufzte. So hatte sie es nun wieder nicht gemeint, ganz allein genossen, war dies Schreibzimmer reichlich trübselig.

Jedenfalls aber trugen die Briefbogen den Aufdruck »Christliches Hospiz«. Das war erfreulich. Sie nahm an, ein solcher Brief werde im Zuchthaus mit Achtung behandelt werden, solcher Brief würde ihr bestimmt die gewünschte und ersehnte Besuchserlaubnis verschaffen. Vorsorgend schob sie gleich ein Dutzend solcher Bogen und Umschläge in ihre Handtasche, die würden ihr sicher noch einmal nützlich sein.

Freilich konnte auch der frömmste Aufdruck ihr nicht die Mühe des Schreibens abnehmen; wie am Morgen war es am Abend ein schweres Werk – lange saß sie darüber.

Aber schließlich war sie fertig. Sie hatte nicht eben viel geschrieben, nur vier oder fünf Sätze. Aber sie genügten, Hans Liebschner (und die Zuchthausverwaltung) auf den Besuch der »Schwester« vorzubereiten. Wie würde Hans über diesen Brief grinsen! Wie nett würde der Besuch werden, wenn er sie – er konnte so etwas fabelhaft! – ganz als Schwester behandeln würde. Sie fühlte schon seinen frechen geschwisterlichen Kuß vor den Augen des Polizisten – oder was in so einem Zuchthaus als Wächter herumlief.

Mittlerweile war es halb zehn Uhr geworden, nichts war mehr zu tun, man konnte allenfalls ins Bett gehen. Langsam zog sie sich aus. Jetzt war sie hellwach, wenn sie am Tage auch ewig müde gewesen war. Nicht die Spur von Schlafbedürfnis. Und draußen unter ihrem Fenster schliffen und hupten die Autos. Sie sah es förmlich – während sie sich verdrossen auszog –, wie die Männer jetzt lächerlich gravitätisch oder mit schlecht gespielter Nonchalance in die Bars traten, den Mädchen kurz zunickten und auf ihre hohen Stühlchen kletterten – ihren ersten Cocktail oder Whisky bestellend.

Aber nein! Heute würde unter keinen Umständen ausgegangen!

Da war es gut, daß auf dem Nachttisch neben ihrem Bett ein schwarzes Büchlein mit rotem Schnitt lag. Es trug den goldenen Aufdruck: »Die Heilige Schrift«.

Seit ihrer Konfirmation hatte Sophie keine Bibel mehr in der Hand gehabt – und damals hatte sich ihre Beschäftigung mit diesem Buch auch nur auf das von Pastor Lehnich anbefohlene Sprüchelernen und – häufiger – auf das Suchen von verführerischen Stellen beschränkt. Heute abend aber hatte sie einmal Zeit, und so nahm sie die Bibel, und um es richtig zu machen, fing sie von vorn an. (Sagte es ihr zu, würde sie diese ausgezeichnete, kostenlose Lektüre für die Ferien in ihren Koffer packen.)

Sophie war gespannt, was an diesem berühmten Buche eigentlich dran war. Die Schöpfungsgeschichte fand nur ihr mäßiges Interesse – ihrethalben! Das konnte so gewesen sein, oder es konnte auch nicht so gewesen sein, wichtig war es nicht. Wichtig war, daß man selbst da war – und das war man ja, dank der Erschaffung von Adam und Eva im zweiten und dem Sündenfall im dritten Kapitel.

Dies war also der berühmte Sündenfall, mit dem gebildete Männer ein Mädchen in der Bar so oft anödeten (solange sie noch fein taten). Sophie fand alles wieder, es war alles da: der Baum der Erkenntnis, der Apfel, weswegen man sicher heute noch »veräppeln« sagte, und die Schlange. Aber Sophie war keineswegs mit der Darstellung in der Bibel einverstanden. Wer richtig las, was da geschrieben stand, konnte sofort feststellen, daß Gott dem Weibe nie verboten hatte, von dem Baume der Erkenntnis zu essen. Jawohl, dem Manne hatte er’s verboten, aber ehe noch das Weib erschaffen war. Das war eine feine Sache, die Frau für etwas zu bestrafen, das man ihr gar nicht verboten hatte! So etwas sah den Männern ähnlich!

Wenn das schon so anfängt, dachte Sophie ärgerlich, wie soll es dann weitergehen? Das ist ja alles Schwindel! Da muß man ja doof sein, um auf so was reinzufallen! Und das reden einem die Brüder heute noch vor! Na, mir soll noch einer mit so was kommen!

Ärgerlich klappte sie das Buch zu. Mitnehmen in die Ferien? Kommt ja gar nicht in Frage! Daß ich mich ewig ärgern muß! Darum lassen sie das Dings hier auch so offen liegen – keine Nachfrage danach!

Sie schaltete das Licht aus, sie lag im Dunkeln.

Ihr Ärger verging, aber es war zu warm unter der Decke, die Luft hinter den geschlossenen Fenstern war zu drückend. Sie stand auf und öffnete sie. Sie hörte die Bahnen klingeln; immer wenn sie in die Krausenstraße einbogen, klingelten sie. Sie hörte die Schritte der Fußgänger, mal vereinzelt, sehr laut – mal viele, ein verworrenes, vielfältiges Geräusch. Die Autos kamen und gingen, sie surrten und hupten, sie eilten weiter …

Jetzt fing ihr Körper an zu jucken; sie kratzte sich hier, sie kratzte sich da. Sie warf sich her, sie warf sich hin. Dann zwang sie sich, ruhig zu liegen; sie nahm ihre Einschlafestellung ein: auf der rechten Seite, unter der rechten Backe beide Hände. Sie schloß die Augen. Der Schlaf war ganz nahe.

Aber gleich fiel ihr ein, daß sie durstig war; und sie mußte hoch und ein Glas Wasser trinken, das schal schmeckte. Sie lag wieder und wartete auf Schlaf. Aber es gab keinen Schlaf für sie, es schien überhaupt keinen Schlaf mehr für sie geben zu sollen. Umsonst stellte sie sich vor, wie müde sie heute früh in ihrer Kammer gewesen war, in dem zerdrückten Kleid, der Mund fade von all den Likören, die Füße brennend – wie sie mit dem Schlaf gekämpft hatte, als sie sich die paar Zeilen an den Hans abrang, während in ihrem Rücken die Köchin, das Trampel, schnarchte. Umsonst, es kam kein Schlaf. Sie fing an, bis hundert zu zählen.

So wie sie lagen Tausende in ihren Betten, gejagt, ruhelos. Es waren die, deren letztes Geld ausgegeben war. Es waren die, die im Kater des Morgens geschworen hatten, nie wieder auszugehen, gründlich zu schlafen, Nacht für Nacht. Es waren die, die der ewigen Jagd müde geworden waren, die es aufgegeben hatten, Nacht für Nacht nach etwas zu suchen, dessen Namen sie nicht einmal wußten. Wie Sophie Kowalewski wälzten sie sich ruhelos in ihren Betten. Es war nicht der Durst nach Alkohol, nicht das Verlangen nach Umarmungen, was sie wach hielt, schließlich wieder hochtrieb. Sie konnten weder allein sein, noch konnten sie ruhen. Die Schwärze ihres Zimmers gemahnte sie an den Tod. Sie hatten genug vom Tode gehört und gesehen, vier Jahre war draußen und drinnen immerzu gestorben worden. Sie starben noch früh genug – viel zu früh starben sie. Aber jetzt lebten sie noch, und so wollten sie denn auch leben!

Wie die andern steht auch Sophie Kowalewski auf, zieht sich eilig an, als hätte sie die dringendste Verabredung, als dürfe sie etwas sehr Wichtiges um keinen Preis versäumen. Sie geht rasch die Treppe hinunter und tritt auf die Straße.

Wohin soll sie gehen? Sie sieht die Straße auf und ab. Es ist eigentlich gleichgültig, wohin sie geht. Innen weiß sie: überall ist es dasselbe. Aber sie erinnert sich, daß sie sich einmal die Lokale der Innenstadt ansehen wollte. So geht sie langsam (plötzlich, da sie unter Menschen ist, hat sie viel Zeit) auf die Innenstadt zu.

Wolf unter Wölfen
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