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Studmann ist so sehr in Gedanken, daß er gar nicht merkt, Pagel hat trotz seiner Bitte noch nicht gegessen. Als sich Pagel nun ihm gegenüber hinsetzt, eine Tasse Tee einschenkt, Brot nimmt, sieht Studmann hoch und sagt verloren: »Ach, Sie essen noch mal, Pagel?«

»Ich hatte noch nicht gegessen, Meister«, antwortet Pagel.

»Ach nein, natürlich nicht, entschuldigen Sie! Ich dachte grade über etwas nach.«

Und kauend gibt sich Studmann wieder seinem Nachdenken hin.

Nach einer Weile fragt Pagel vorsichtig: »Und über was denken Sie nach?«

Überraschend heftig antwortet Herr von Studmann: »Daß der Friede der Felder noch mehr Scheibe ist, als wir annahmen, Pagel.« Sachter: »Sorgen haben die Leute –!« Und abbrechend: »Aber ich glaube, es ist Ihnen nur lieb, wenn ich Sie mit diesem Kram verschone.«

»Natürlich«, sagt Pagel, und beide versinken über Butterbrot und Aufschnitt neu in Nachdenken.

Was Herrn von Studmann angeht, so hat auch er jetzt einen Brief in der Tasche, einen Brief, der von der gnädigen Frau für einen ziemlich harmlosen Geschäftsbrief angesehen wurde. Herrn von Studmann aber erschien er recht heimtückisch und gemein. Lieber trüge er eine Handgranate in der Tasche. Aber viel mehr beschäftigt ihn diese andere Geschichte – Frau von Prackwitz ist immer noch eine recht gut aussehende Frau, vor allem hat sie schöne Augen. In diesen schönen Augen hatten Tränen gestanden, als sie Herrn von Studmann abgebrochen berichtete … Die Augen waren von den Tränen nicht häßlicher geworden … Ein bißchen muß sich eine Frau, die sich vor einem rappelköpfischen Mann, einer auf Abwegen befindlichen Tochter immer zusammenzunehmen hat, die sich vor Hof und Familie nie etwas merken lassen darf, bei ihrem auserwählten Vertrauten gehenlassen können. Dieses Sichgehenlassen hatte Frau Eva von Prackwitz nur reizvoller gemacht. Eine laue Süße, eine Hilflosigkeit, die bei einer so reifen Frau nur um so verführerischer wirkte, hatten Herrn von Studmann gefangen …

Ich muß diesem armen Wesen helfen! dachte Herr von Studmann energisch. Was bildet sich diese Krabbe eigentlich ein, daß sie solche Geschichten macht! Sie kann doch kaum fünfzehn sein!

Hier sah der ebenfalls scharf nachdenkende Pagel von seinem Käse hoch und fragte tiefsinnig: »Wie alt taxieren Sie eigentlich Fräulein Violet –?«

»Wie?!« schrie Herr von Studmann und klapperte heftig mit Messer und Gabel gegen den Teller. »Wie kommen Sie denn darauf, Pagel? Was geht das Sie an!«

»Gottedoch!« sagte Pagel verblüfft. »Ich kann ja mal fragen. Aber dann eben nicht!«

»Ich dachte gerade an etwas anderes, Pagel …«, erklärte Studmann, ein wenig verlegen.

»Es sah verdammt aus, als wenn Sie auch grade daran gedacht hätten!« grinste Pagel.

»Keine Spur! So junge Mädchen sind einfach Gemüse für mich – ich bin nicht wie Sie zweiundzwanzig, Pagel.«

»Dreiundzwanzig …«

»Na schön. Also ich denke, Pagel, es ist jetzt kurz nach acht, wir machen uns auf die Beine und genehmigen in einer der beiden hiesigen Gastwirtschaften einen Schnabus.«

»Recht so. – Und wie alt schätzen Sie Fräulein Violet?«

»Sechzehn. Siebzehn. Seien Sie bloß nicht albern, Pagel. Es ist mir natürlich nicht um den Schnaps zu tun …«

»Viel zu hoch! Sie hat so mollige Formen, das täuscht. Höchstens fünfzehn …«

»Jedenfalls lassen Sie die Finger davon, Herr Pagel!« rief Studmann mit kriegerisch blitzenden Augen.

»Aber natürlich!« sagte Pagel verblüfft. »Gott, Studmann, Sie werden noch die reine Sphinx! Wenn es Ihnen also nicht um den Schnaps zu tun ist, worum ist es Ihnen dann zu tun?«

Ruhiger entwickelte Studmann seinen Plan, sich mit den Gastwirten bekannt zu machen, regelmäßiger Kunde zu werden und so zu versuchen, möglichst viel von dem Geschwätz des Dorfes zu erfahren.

»Neulohe ist viel zu groß. Wenn wir da auch Nacht für Nacht nach Felddieben herumlaufen, kann es uns doch passieren, daß wir nie einen treffen. Und unser Rittmeister will Erfolge sehen. Da ist ein Wink von einem Gastwirt Gold wert …«

»Richtig!« stimmte Pagel zu. »Nehmen wir eine Kanone mit?«

»Heute hat das wohl keinen Zweck, heute wollen wir uns erst einmal anbiedern. Aber, meinethalben, wenn Sie so ein Ding einstecken wollen – Sie sind noch für volle Kriegsbemalung. Ich habe mich mit dem Zeug über fünf Jahre geschleppt …«

Es war halb neun, als die beiden endlich losgingen. Die Sonne war schon untergegangen, aber es war noch fast hell. Kaum, daß es im Schatten der Bäume zu dämmern anfing. Die Straße vom Gut zum Dorf war voller Menschen: Kinder jagten herum, auf den Bänkchen vor den Türen saßen die alten Leute, jüngere standen in Gruppen beisammen; in der Ferne hörte man es singen; ein Mädchen zog eine widerspenstige Ziege am Strick in ihren Stall.

Wenn die beiden Herren vorübergingen, wurden die Leute stumm, die Kinder jagten nicht mehr, das Singen hörte auf. Alles sah ihnen nach.

»Kommen Sie, Studmann«, schlug Pagel vor, »gehen wir außen ums Dorf herum. Wir werden uns schon irgendwie durchschlagen. Dies Anglotzen ist lästig. Und schließlich brauchen nicht alle zu wissen, daß die Herren Beamten saufen gehen.«

»Recht so«, sagte Studmann, und sie bogen in einen schmalen Pfad, der zwischen den fensterlosen Giebelwänden zweier Leutehäuser hindurchführte. Später fanden sie eine Art Rain, zur Linken lagen schweigende Obstgärten, zur Rechten erstreckte sich ein blühendes Kartoffelfeld. Nun kamen sie auf einen zerfahrenen Weg, rechts führte er gerade in die Felder hinein, links ging es auf die letzten Häuser des Dorfes zu. Die Luft wurde grauer, man fühlte es dunkel werden, die Vögel waren still geworden. Vom Dorf klang ein Lachen herüber und verging.

Als Pagel und Studmann so schweigend, langsam nebeneinanderher gingen, jeder in einer Fahrrinne des Weges, begegnete ihnen ein Trupp Leute, sechs oder sieben, Männer und Frauen. Ruhig gingen die Leute im Gänsemarsch, Kiepen auf dem Rücken, über den Grasstreifen zwischen den Radgleisen an ihnen vorüber.

»Guten Abend!« sagte Pagel laut.

Irgendein verwischter Laut klang als Antwort, dann war der stumme Gespensterzug schon vorüber.

Ein paar Schritte gingen die beiden noch weiter, zögernder. Dann blieben sie wie auf Verabredung stehen. Sie drehten sich um und sahen den stillen Wanderern nach. Ja, es war richtig, sie waren nicht zum Dorf gegangen, sie waren in den Weg zwischen den Feldern eingebogen.

»Nanu!« sagte Pagel.

»Das war doch komisch!« antwortete Studmann.

»Wo gehen die denn jetzt noch hin?«

»Mit Kiepen?«

»Klauen!«

»Sie können auch dahinten in den Wald gehen zum Holzsammeln.«

»Jetzt in der Nacht – Holz sammeln!«

»Tjaaa – – –«

»Also verzichten wir auf Schnaps und Botschaft und gehen ihnen einfach nach.«

»Ja, warten Sie noch einen Augenblick. Lassen Sie die erst über die Kuppe dort weg.«

»Gekannt habe ich keinen«, meinte Pagel nachdenklich.

»Es ist schon dämmerig, die Gesichter waren kaum zu unterscheiden!«

»Das wäre großartig, wenn wir gleich beim erstenmal sechs Mann schnappten –!«

»Sieben«, sagte Studmann. »Drei Mann und vier Frauen. – Also gehen wir!«

Aber nach den ersten Schritten schon blieb von Studmann wieder stehen. »Wir sind unüberlegt, Pagel. Wenn wir die Leute abfassen, wir kennen sie doch nicht. Wie sollen wir die Namen feststellen? Die können uns ja erzählen, was sie wollen.«

Pagel drängte ungeduldig: »Und während Sie hier Großen Generalstab spielen, Studmann, gehen uns die Leute durch die Binsen.«

»Und wenn wir sie fassen und erfahren, daß sie Meier, Schulze, Schmidt heißen, sind wir erst recht blamiert. Gut erkundet ist halber Sieg, Pagel.«

»Aber was dann?«

»Sie gehen jetzt ins Dorf und holen jemand Alteingesessenen, der alle Leute kennt …«

»Den Kowalewski –? Den Leutevogt –?«

»Richtig, Pagel. Der ist ein bißchen schlapp; dem ist es ganz gut, wenn er zu seinen Arbeitern mehr in Gegensatz kommt, das wird ihn schärfer machen. Die werden eine schöne Wut auf ihn kriegen, wenn er ihre Namen sagen muß …«

Aber Pagel hörte schon lange nicht mehr auf die Lehrmeinungen des ehemaligen Empfangschefs in einer Großstadtkarawanserei der Inflationszeit. Pagel lief in einem schlanken Trabe auf das Dorf zu. Es tat ihm gut, zu traben. Es war eine Ewigkeit her, daß er nicht mehr getrabt war, keinen Sport getrieben hatte, seit dem Baltikum nicht mehr. Immer hatte er sich seitdem möglichst langsam bewegt, ein bis auf den Spielbeginn durchwarteter Tag war lang gewesen.

Nun war er froh, wie gut und verläßlich sein Körper arbeitete. Voll drang die milde, ein wenig feuchte, ein wenig kühle Abendluft in seine Lungen. Er freute sich, daß er eine so breite Brust hatte, er atmete nicht hastig, er atmete trotz des Laufens voll und langsam, das Atmen war eine Lust. Im Hofzimmer bei der Pottmadamm hatte er manchmal Stiche gefühlt, in der Lunge oder im Herzen. Nach der Art der jungen Leute, die nie richtig krank gewesen sind, hatte er sich dann ein schweres Leiden eingebildet – nun, damit war es gottlob nichts. Er lief wie Nurmi! Ich bin gut im Stande, dachte er vergnügt. Mein Körper ist noch in Form!

Als er beim Dorf angelangt war, ging er, um nicht aufzufallen, im Schritt. Trotzdem ward sein Verschwinden im Haus Kowalewskis viel beachtet. »Kieke da!« sagten sie. »Vor anderthalb Stunden hat er der Sophie adjüs gesagt, und jetzt besucht er sie schon wieder! Den alten Eierkopf, mit dem er eben vorbeikam, hat er natürlich versetzt. Na ja, so ein Berliner – und ein kräftiger Kerl ist er auch. Die Sophie ist ja auch eine halbe Berlinerin geworden – wer Sahne gewohnt ist, der will Sahne!«

Aber leider kam der junge Mann gleich wieder bei Kowalewskis raus, und auch nur mit dem Alten. Die Sophie hatte er wohl nicht gesehen, die sang oben weiter in ihrer Giebelstube. Eilig gingen die beiden aus dem Dorf, über den Feldrain, auf den Feldweg, Kowalewski immer seitlich einen halben Schritt hinter dem jungen Herrn wie ein gutgezogener Jagdhund. Als der junge Mann in Stube und Feierabend geplatzt war und nur gesagt hatte: »Kommen Sie mal mit, Kowalewski«, da war der alte Vogt eben mitgegangen, ohne Fragen. Ein armer Mensch soll nicht fragen, sondern tun, was ihm gesagt wird.

Studmann wartete dort, wo der Weg in die Felder abbog.

»Guten Abend, Kowalewski. Recht, daß Sie gekommen sind. Pagel hat Ihnen Bescheid gesagt? Nein? Schön – wohin führt dieser Weg?«

»Auf unsere Außenschläge, Herr, und dann in die Forst vom alten gnädigen Herrn.«

»Es liegen keine Bauernfelder daran?«

»Nein, nur unser Land. Außenschlag 5 und 7. Und auf der andern Seite Außenschlag 4 und 6.«

»Schön – wenn Sie hier vor einer Viertelstunde sechs, sieben Mann getroffen hätten, stumm, mit Kiepen, die leer aussahen, auf dem Rücken – was hätten Sie dann gedacht, Kowalewski?«

Kowalewski zeigte: »Dahin gehend?«

»Jawohl, dahin gehend, diesen Außenschlagweg.«

Kowalewski zeigte: »Daher kommend?«

»Ja, Kowalewski, von da werden sie wohl ungefähr gekommen sein, nicht hier aus dem Dorf.«

»Dann sind es Altloher gewesen, Herr.«

»Und was wollen die Altloher auf unserm Feld, jetzt, wo es Nacht wird?«

»Tja, Herr, an den Kartoffeln sitzt ja noch nichts dran. Aber da sind die Zuckerrüben, vielleicht wollen sie die ein bißchen blatten. Und dann steht weiter hinten der Weizen, den wir Freitag, Sonnabend gemäht haben – vielleicht wollen sie dem ein bißchen die Ähren abschneiden.«

»Also klauen, Kowalewski, nicht wahr?«

»Die Zuckerrübenblätter brauchen sie als Zickenfutter, sie haben ja fast alle ’ne Zicke. Und den Weizen kann man sich, wenn er schön trocken ist, in der Kaffeemühle mahlen, das haben sie alles im Kriege gelernt.«

»Na schön. Also gehen wir ihnen nach. Kommen Sie mit, Kowalewski – aber Sie tun es wohl nicht gerne?«

»Darauf darf es nicht ankommen, Herr …«

»Sie sollen gar nichts weiter damit zu tun haben, Kowalewski. Sie sollen mir nur einen Rippenstoß geben, wenn mir einer von den Leuten einen falschen Namen sagt.«

»Ja, Herr.«

»Aber die werden wohl wütend auf Sie, Kowalewski –?«

»Wenn es auch Altloher sind, die wissen, daß ich tun muß, was die Herren mir befehlen. Soviel verstehen sie schon.«

»Aber daß die stehlen, das geben Sie nicht gerne zu, Kowalewski?«

»Wenn es auch bloß ’ne Zicke ist, es ist schlimm, wenn man kein Futter für sie hat. Und noch schlimmer ist es, wenn man kein Mehl für die Kinder hat zur Suppe.«

»Aber, Kowalewski –!« Studmann blieb mit einem Ruck stehen. Dann ging er schnell weiter in den immer dunkler werdenden Abend hinaus. »Aber wo soll da eine Ordnung herkommen, wenn die Leute sich einfach holen, was sie brauchen?! Dabei muß das Gut doch kaputtgehen –!«

Kowalewski schwieg hartnäckig, aber Studmann gab nicht nach: »Nun, Kowalewski –?«

»Es ist auch keine Ordnung, Herr, verzeihen Sie, wenn man arbeitet und kann seinen Kindern doch nichts zu essen geben.«

»Aber warum kaufen sie nichts? Wenn sie arbeiten, müssen sie doch auch Geld haben zu kaufen!«

»Sie haben doch bloß Papier, Herr. Jeder hält doch seine Sache fest und will das Papier nicht.«

»Ach so!« sagte Studmann und blieb wieder stehen, aber nicht so ruckweise. Weitergehend meinte er: »Trotzdem müssen Sie einsehen, Kowalewski, daß das Gut nicht zurechtkommen kann, wenn jeder sich holt, was er braucht. Sie wollen doch auch Ihren Lohn zur Zeit haben, wo aber soll der Lohn herkommen, wenn die Erträge fehlen? Glauben Sie mir, der Herr Rittmeister hat es nicht leicht.«

»Der alte Herr ist immer gut zurechtgekommen, er hat viel Geld verdient.«

»Aber vielleicht hat es der Rittmeister schwerer – er muß ja auch dem alten Herrn Pacht zahlen!«

»Davon merken die Altloher doch nichts –!«

»Sie meinen, es geht sie nichts an –?«

»Nein, es geht sie nichts an.«

»Und Sie finden es also richtig, daß sie mausen, Kowalewski?«

»Wenn einer seiner Zicke kein Futter geben kann …«, fing der beharrliche alte Mann wieder an.

»Ach, Dreck! Ob Sie es richtig finden, Kowalewski?«

»Ich würde es nicht tun, Herr. Aber ich habe freilich mein Korn vom Gut und die Kartoffeln und freie Weide für eine Kuh …«

»Ob Sie es richtig finden, Kowalewski?!«

Herr von Studmann schrie fast. Pagel fing an zu lachen. »Was lachen Sie denn, Pagel –? Seien Sie nicht albern! Das Recht auf Diebstahl am eigenen Brotherrn, von einem alten Mann verkündet, der sicher selber nie geklaut hat. – Haben Sie selbst mal geklaut, Kowalewski?«

Es war komisch, Herr von Studmann schrie den alten Mann fast so an, wie es der Feldinspektor Meier getan hatte. Aber dieses Anschreien verschüchterte den Leutevogt nicht weiter, er blieb ganz wohlgemut.

»Was Sie klauen nennen, Herr, oder was wir klauen nennen?«

»Ist da auch ein Unterschied?« grollte Herr von Studmann. Aber das wußte er ja doch.

Jetzt fragte Pagel: »Darf ich auch einmal was fragen, Herr von Studmann?«

»Meinethalben«, sagte Studmann. »Dieser Tiefstand scheint Sie ja sehr zu amüsieren, mein Herr Pagel!«

»Es ist nun recht dunkel geworden«, sagte Pagel vergnügt, »und daß wir beide die Feldmark nicht kennen, das weiß der Herr Kowalewski auch. Sagen Sie mal, Kowalewski, wo liegt denn der Zuckerrübenschlag?«

»Noch fünf Minuten weiter und dann rechts ab über die Roggenstoppel, das sieht man auch beim Sternenlicht.«

»Und der Weizenschlag?«

»Noch drei, vier Minuten weiter den Weg lang. Dann kommen wir grade drauf zu.«

»Ja, Kowalewski«, sagte Pagel ganz spitzbübisch, »wenn Sie nun meinen, daß die Leute das Recht haben, sich das Futter zu holen, warum führen Sie uns dann nicht im Dunkeln ein bißchen die Kreuz und die Quer – wir wissen doch viel, wo wir zu suchen haben!«

»Pagel –!« rief Studmann.

»Das kann ich doch nicht, Herr. Das ist doch keine Ordnung. Wenn Sie mir etwas sagen, dann kann ich Sie doch nicht an der Nase herumführen.«

»Na also!« sagte Pagel sehr zufrieden. »Da haben wir also die Sache klar. Sie sind für Ordnung, Kowalewski, und was Herr von Studmann tut, das ist ordentlich. Aber was die Altloher tun, das ist nicht ordentlich! Sie verstehen wohl, was die tun, Kowalewski, aber ordentlich finden Sie es nicht, richtig finden Sie es nicht …«

»Na ja, Herr, das mag ja so sein. Aber wenn die Zicke kein Futter hat –?«

»Hören Sie auf!« rief Studmann. »Ihr Erfolg hat nicht lange vorgehalten, Pagel!«

Eine Weile gingen sie schweigend durch die Nacht. Die Sterne glitzerten auf einem fast schwarzen Himmelsgewölbe, und was sie um sich sahen, das waren nur Abstufungen von Schwarz zu Grau.

Nach einer Weile fing Pagel wieder an zu reden. Es war ihm etwas eingefallen, und was ihm eingefallen war, das paßte grade. Denn er fühlte, daß der ein wenig schulmeisterliche, pedantische Studmann einen Zorn auf den weichen Leutevogt hatte, der nur verschwommen dachte und fühlte, und er hatte den Trieb, Herrn von Studmann ein wenig mit dem Vater der netten Sophie auszusöhnen.

»Im übrigen«, sagte darum Pagel, »macht sich der Herr Kowalewski ziemlich viel Gedanken um unsere Ernte, Studmann. Wir sind drei Wochen zurück, meint er.«

»Das stimmt!« sagte der Leutevogt.

»Wenig erfreulich«, knurrte Studmann.

»Es müssen möglichst bald Leute her, meint Kowalewski. Und da Herr Rittmeister ja in Berlin Schiffbruch erlitten hat (noch ein Mann mit ’nem Schiffbruch in Berlin, Studmann!), meint Kowalewski, wir müßten unbedingt ein Zuchthauskommando haben.«

»Ich, Herr?« fragte Kowalewski erstaunt.

»Ja, Ihre Tochter hat es mir heute erzählt. Und weil das Zuchthaus schon halb leer ist wegen der vielen Kommandos, müßten wir uns dranhalten, sonst gehen wir leer aus, meint Kowalewski.«

»Ich, Herr –?« fragte der alte Mann immer erstaunter.

»Ja«, sagte Herr von Studmann, »ich habe schon mit Herrn Rittmeister darüber gesprochen. Aber er meint, es macht viel Kosten. Und die Zuchthäusler verstünden nichts von Landarbeit. Und Sie sind also dafür, Kowalewski?«

»Ich –? Nein, Herr. Das sind ja alles bloß Verbrecher.«

»Richtig; Leute, die geklaut haben. Aber Herr Pagel erzählt doch eben, daß Sie ihm erzählt haben …«

»Seine Tochter, die Sophie, Studmann …«

»Also Ihre Tochter. Ihre Tochter wird’s ja wohl von Ihnen gehört haben …«

»Von mir, Herr?«

»Also bitte, stellen Sie sich weiter dumm. Von mir aus, Kowalewski! Ich werde Sie nicht wieder stören.« Er ging ein paar Schritte, blieb stehen, fragte sehr ärgerlich: »Wie weit haben wir eigentlich noch zu gehen?«

»Ja, Herr, das hier rechter Hand ist die Roggenstoppel, wenn wir über die weggehen, kommen wir auf den Zuckerrübenschlag.«

»Ja, meinen Sie denn, daß die Leute da wirklich sind?« Herr von Studmann war plötzlich sehr unlustig.

»Mit unsern Zuckerrüben ist es dieses Jahr nicht viel, die sind ein bißchen zu spät verzogen. Ich denke immer, wenn welche da sind, sind sie auf dem Weizen.«

»Und zum Weizen geht’s hier gradeaus?«

»Drei, vier Minuten noch.«

»Wissen Sie was, Pagel – was sollen wir alle drei den Umweg machen? Laufen Sie schnell über die Roggenstoppel, revidieren Sie die Zuckerrüben und kommen uns dann so schnell wie möglich nach.«

»Jawohl, Herr von Studmann.«

Leiser: »Und da Sie wahrscheinlich doch keine Leute treffen werden, reichen Sie mir mal die Knarre rüber. – So, danke schön. – Na also denn! Weidmanns Heil, Pagel!«

»Weidmanns Dank, Herr von Studmann!«

Die Hände in den Taschen, schlenderte Pagel gemächlich über die Stoppel, den Blick mehr auf den Sternenhimmel als auf seinen Weg gerichtet. Die Schritte der andern waren schon verhallt. Durch die Schuhe fühlte er die feuchte Kühle des Taus, den er von der Stoppel streifte. Zum erstenmal war er froh, nicht mit Herrn von Studmann zusammen sein zu müssen. Schulmeister, Kindermädchen! ging es ihm durch den Kopf und tat ihm doch gleich wieder leid. Er war ein fabelhaft anständiger Kerl, der Herr von Studmann, und sein Pedantentum war nur der Schatten, den seine vollkommene Zuverlässigkeit warf, eine heute fast ausgestorbene Eigenschaft.

Er allein wird sich’s schwer dadurch machen, dachte Pagel, und er allein wird darunter leiden. Darin bin ich genau sein Gegenteil, ich bin zu lax, ich lasse die Dinge am liebsten laufen. Wenn mir was schiefgeht, so dadurch. Dies ist kein Hotelbetrieb mit in sieben Wassern gewaschenen Oberkellnern, mit durchtriebenen Liftboys – der gute Studmann wird gewaltig umlernen müssen. Ich dagegen – na, jetzt grade wieder …

Er sah um sich. Grauweißlich schimmernd dehnte sich die Roggenstoppel vor ihm. Der Boden unter seinen Füßen schien sich etwas zu senken, aber das dunkle Sternenlose, was er dort gegen den Himmel sah, war vielleicht der Zuckerrübenschlag.

Jetzt grade wieder, dachte er weiter. Ich müßte das rauskriegen. Ich, Herr –? Nein, Kowalewski hat sich nicht dumm gestellt. Er hat wirklich nichts davon gewußt. Aber warum soll mich die Sophie beschwindelt haben? Was kann sie für ein Interesse an einem Zuchthauskommando haben, daß sie mich deswegen beschwindelt?! – Nein, dachte er energisch, das ist alles Unsinn. Das wird sicher ganz einfach zusammenhängen. Ich habe wahrhaftig genug an dem dämlichen Liebesbrief in meiner Tasche, ich will mir nicht noch mehr Gedanken machen. Ich will einfach meine Arbeit tun und von nichts wissen. Jetzt die Zuckerrüben …

Er senkte den Blick, und mit einem Schlage war er anders geworden. Der Rand der hellen Roggenstoppel war nahe gerückt, nur noch fünfzig oder siebzig Schritte trennten ihn von dem Rübenschlag, der dunkel gegen den Sternenhimmel hügelan stieg. Aber so dunkel das Feld auch war, dunklere Punkte sah er sich darauf bewegen, manchmal klang es hell zu ihm herüber, wenn silbern ein Messer gegen einen Stein schlug. Dunklere Punkte – Pagel versuchte sie zu zählen. Sechs oder sieben –? Sechzehn –? Sechsundzwanzig – ach, es konnten über dreißig sein! Ein Heuschreckenschwarm, eine fliegende Plage, nächtlich eingefallen in die Gutsfelder …

Wenn die Zicke Hunger hat – klang es in ihm. Aber nein, dies war keine hungrige Ziege, kein Idyll, dies war Bandenraub – sie mußten gefaßt werden!

Pagel greift nach der Gesäßtasche, aber schon im Griff erinnert er sich, daß die Tasche leer ist, er ist ohne Waffe. Immer langsamer gehend, überlegt Pagel, ob er zurücklaufen, die andern rufen soll? Aber er, der die Diebe gegen den dunklen Blattrand erkennen kann, muß längst, sich scharf von der helleren Roggenstoppel abhebend, bemerkt worden sein. Holt er erst Hilfe, sind sie fort! Daß sie ihn so ruhig herankommen lassen, beweist, daß sie ihn für einen von den Ihren halten.

Oder sie denken, mit einem brauchen wir keine Umstände zu machen, überlegt Pagel. Und so wird es denn wohl auch schiefgehen.

Aber bei all diesen raschen Erwägungen hat er doch nicht einmal innegehalten. Schritt für Schritt ist er der »Räuberbande« näher gekommen, vielleicht ein wenig langsam, aber nicht die Furcht hat seinen Schritt langsamer gemacht. Nun ist er schon ganz nahe. Sein Fuß verläßt die trocken knirschende Roggenstoppel, feuchtlappig hängt das Rübenblatt über seine Schuhe. Gleich muß er sie anrufen –

Wenn ich nur ein paar fasse, sechs oder acht, denkt er tröstend – und eine neue Idee kommt ihm. Er reißt die Jacke auf, greift aus der Westentasche das silberne Zigarettenetui, hebt es hoch in der Hand –: »Hände hoch, oder ich schieße!« brüllt er.

Das Etui schimmert blank im Sternenlicht.

Wenn sie es nur sehen, denkt er fieberhaft. Wenn sie es nur gleich sehen! Auf den ersten Augenblick kommt alles an. Wenn die nächsten die Hände hochnehmen, machen es ihnen die andern nach.

»Hände hoch!« schreit er noch einmal, so laut er kann. »Wer die Hände nicht hochnimmt, hat sofort einen Schuß in den Knochen!«

Eine Frau kreischt weich und leise auf. Eine Männerstimme sagt ganz tief: »Nee, was für Geschichten!« – Aber sie haben die Arme hochgenommen, über das nächtliche Feld verstreut, steht die Schattenschar, ihre Hände reichen in den Sternenhimmel.

Ich muß brüllen, so laut ich kann, denkt Pagel, fieberhaft erregt, damit die auf ihrem Weizenschlag hören, ich brauche Hilfe! Wenn sie nur schnell genug kommen –!

Und er brüllt einen Mann hinten an, den es gar nicht gibt, wenn er noch einmal die Hand runternähme, hätte er seinen Schuß weg. Dabei hält er das silberne Etui so fest in der Hand, daß die scharfe Kante schmerzhaft in sein Fleisch schneidet. Die Leute, diese große Zahl Leute um den einen herum, stehen puppenhaft starr. Ihre unbewegte Haltung braucht nicht Ergebung in das Schicksal zu bedeuten, sie kann auch Drohung sein. Manchmal überkommt ihn die völlige Hilflosigkeit seiner Lage: er hier vor dreißig Leuten mit einem lächerlichen Etui in der Hand. Es braucht nur einer aufzumucken, und schon sind sie alle über ihn her. Nicht vor dem Totgeschlagenwerden hat er Angst: Aber sie werden mich verprügeln, die Weiber werden mir die Haare ausreißen, ich bin lächerlich geworden, ich kann mich nicht wieder im Dorf sehen lassen …

Wieviel Zeit vergeht? Sind es Sekunden, die langsam ablaufen, Minuten? Wie lange steht er hier schon, mit erprahlter Macht inmitten von Machtlosen, die sich nur auf ihre Macht zu besinnen brauchen, um ihn zu demütigen –? Er weiß es nicht, die Zeit wird so lang, er schreit nicht mehr, er horcht: Kommen sie noch immer nicht?

Jemand räuspert sich, einer bewegt sich. Der mit dem Baß, ganz in Pagels Nähe, sagt: »Na, Herr, wie lange sollen wir so noch stehen? Meine Arme tun schon weh. Was soll denn daraus werden –?«

»Wollen Sie wohl stille sein!« schreit Pagel. »Sie haben ganz stille zu stehen, sonst kriegen Sie eine Kugel!«

Er muß immer davon reden. Da er nicht einmal einen Schreckschuß abgeben kann, muß er sie doch mit Worten von seiner Gefährlichkeit überzeugen!

Aber nun kommt die Erlösung! Über die Roggenstoppel läuft Studmann, in weiterem Abstand folgt Kowalewski.

Atemlos, als sei er es, der so hastig gelaufen ist, ruft Pagel: »Schießen Sie! Um Gottes willen, Studmann, schießen Sie einmal in die Luft, damit die Bande sieht, daß wir auch schießen können! Ich stehe hier seit zehn Minuten mit meiner Zigarettenschachtel in der Hand …«

»Sehr gut, Pagel«, sagt Studmann – und ein Schuß, seltsam klein und trocken unter der Himmelsweite klingend, peitscht über die Köpfe der Leute weg.

Ein paar lachen. Der Baß sagt: »Paßt auf, die schmeißen mit Knallerbsen!«

Es lachen noch mehr.

»In Zweierreihen zusammenschließen!« ruft Studmann. »Die Kiepen auf den Rücken! Es wird auf den Hof gerückt, wo die Namen festgestellt werden. Dann kann jeder nach Haus gehen. – Pagel, Sie nehmen die Spitze, ich den Schluß. Den alten Kowalewski lassen wir am besten ganz draußen, er kann hinterherzotteln. – Hoffentlich parieren sie. Wir können doch nicht wegen ein paar Rübenblättern schießen!«

»Warum nicht?« fragt Pagel.

Die Rollen sind vertauscht. In Pagel zittert noch die Erregung des Abenteuers, die gefürchtete Niederlage – da er sich bedroht gefühlt hatte, sah er in den vermeintlichen Bedrohern schlimme Kerls, fast Verbrecher. Jede Maßnahme gegen sie schien ihm recht. Studmann, der gesehen hatte, wie sich dreißig Mann harmlos wie die Schafe von einem Zigarettenetui in Schach halten ließen, schloß daraus auf die Harmlosigkeit ihres Tuns. Alles war nur eine Lappalie.

Keiner von beiden, weder Studmann noch Pagel, hatte recht. Sicher waren die Altloher keine Verbrecher. Ebenso sicher waren sie fest entschlossen, nicht zu hungern, sich ihre Nahrung zu holen, wo sie zu finden war, da sie nichts zu kaufen bekamen. Eine erste Überrumpelung nahmen sie fast mit Humor hin, bei einer zweiten konnten sie böse, bösartig werden.

Sie spüren ihren Hunger – und sahen das Riesengut, auf dem so unendlich viel wuchs. Der kleinste Bruchteil der Ernte, ein Eckchen vom Feld konnte ihren Hunger stillen, die ständig nagende Sorge zum Schweigen bringen. »Der Rittmeister merkt ja gar nicht, was so eine Ziege frißt«, sagten sie. – »Was kann ihm ein Sack Kartoffeln ausmachen? In diesem Frühjahr hat er Tausende von Zentnern erfrorene Kartoffeln in die Stärkefabrik gefahren!« – »Im vorigen Jahr haben sie den Roggen so naß eingebracht, daß sie ihn nicht dreschen konnten. Alles war verfault – sie haben’s nachher auf den Mist geschmissen!«

Solange sie sich für ihren Lohn ihre Bedürfnisse hatten kaufen können, hatten sie gekauft, nicht gestohlen. Ein paar faule Köppe hatten immer ein bißchen gemaust, aber das waren eben die faulen Köppe gewesen, und sie wurden danach eingeschätzt. Aber nun konnten die Leute nichts mehr kaufen – und dann war der Krieg über sie hingegangen mit Tausenden von Verordnungen, die kein Mensch behalten und halten konnte, mit Zuteilung aller Lebensbedürfnisse auf Karten, mit denen man nur hungern und verhungern konnte. Viele Männer waren im Felde gewesen; dort hat es nicht für eine Schande gegolten, sich zu »besorgen«, was man brauchte. Allmählich hatte sich die Moral gelockert, es war keine Schmach mehr, Gesetze zu übertreten. Es war nur eine Schmach, sich dabei erwischen zu lassen. »Laß dich bloß nicht erwischen!« – diese immer volkstümlicher werdende Redensart kennzeichnete den Verfall aller Sitten. Alles war verwirrt. Keiner fand sich mehr zurecht. Es war immer noch Krieg. Trotz Friedensschluß war der Franzose immer noch Feind. Jetzt war er an der Ruhr eingerückt, es sollten dort schreckliche Dinge geschehen.

Wie konnten die Leute anders denken, als sie dachten – anders handeln, als sie handelten? Wenn sie an der Villa vorbeigingen und hörten die Teller klappern, so sagten sie: »Ja, der hungert nicht! Arbeiten wir weniger als er? Nein, wir arbeiten mehr! Warum sollen wir hungern und er nicht?«

Haß entsprang dieser Erwägung. Hätten sie vor zehn Jahren solch Tellerklappern gehört, so hätten sie gesprochen: »Ja, der kann Kalbsbraten essen, und unser Pökelfleisch ist schon ganz strohig.« – Das war Neid – Neid ist kein Gefühl, das einen Auftrieb gibt, einen Menschen kampflustig macht – starke Hasser aber werden starke Kämpfer!

Dieses Mal hatten sie sich erwischen lassen, ein erstes Mal erwischen lassen, so gingen sie gutwillig mit. Nach fünf Minuten schon schwatzten sie und lachten. Es war einmal etwas anderes, ein nächtliches Abenteuer! Was konnte ihnen groß geschehen? Ein paar Rübenblätter!

Sie sprachen Wolfgang an, sie sagten es ihm: »Na, und was weiter, Herr?« fragten sie. »Ein paar Rübenblätter! Da schreiben Sie nun unsere Namen auf, melden’s dem Amtsgericht, Felddiebstahl. Das hat früher drei Mark gekostet, heute kostet es ein paar Millionen. Und was weiter? Bis wir das Strafmandat bezahlt haben, ist es gar nichts mehr, kein Pfennig mehr – die können uns auf unsern kleinsten Schein nicht mal rausgeben, so wenig ist das dann! Und deswegen die Knallerei?«

»Ruhe!« befahl Pagel ärgerlich. »Das nächste Mal wird nicht in die Luft geschossen!«

»Ach, wegen ein paar Rübenblätter wollen Sie einen Menschen unglücklich machen? So sind Sie also! Gut, daß man das weiß. Andere Leute können auch schießen!«

»Stille biste!« riefen die Leute. »So was sagt man nicht.«

»Ruhe!« rief Pagel scharf. Ihm war, als hätte er am Wege Gestalten gesehen. Konnte es der Rittmeister mit seiner Frau gewesen sein –? Unmöglich! Der hätte ein paar anerkennende Worte gesagt.

In leidlicher Ordnung ging es auf den großen Rittergutshof. Nun wurde doch Schimpfen laut, als die Leute vor dem Kuhstall ihre Kiepen entleeren mußten. Sie hatten wohl geglaubt, für ihr Strafmandat die Blätter nach Hause nehmen zu können.

»Was sollen wir nun unserer Ziege geben –?«

»So ein Tier versteht das doch nicht. Das verlangt sein Futter.«

»Müssen wir eben gleich noch mal losgehen!«

»Stille biste –!«

Der Humor war fort; ärgerlich, ausfallend, bissig, trotzig wurden die Namen gesagt. Aber sie wurden gesagt. Kowalewski brauchte keine Rippenstöße zu geben.

»Das nächste Mal kriegen Sie mich nicht wieder«, erklärte einer.

»Schreiben Sie Georg Schwarz II, Herr Inspektor«, meinte ein anderer. »Vergessen Sie die II nicht. Ich will nicht, daß mein Vetter mit so ’nem Scheißdreck zu tun hat.«

»Weiter«, sagte Studmann müde. »Pagel, sehen Sie zu, daß es ein bißchen rascher geht. Weiter!«

Schließlich: »Guten Abend, Kowalewski. – Ach ja, schönen Dank. Sie werden wohl keine Unannehmlichkeiten davon haben?«

»Nein – ich nicht. Guten Abend.«

Sie waren nun beide allein. Studmann und Pagel. Auf dem Schreibtisch lag unordentlich Papier, der schön gewachste Boden des Büros war beschmutzt und voller Sand. Es knirschte bei jedem Schritt.

Studmann stand auf vom Schreibtisch, sah Pagel kurz an und meinte: »Eigentlich sind wir ganz fidel um halb neun losmarschiert, was?«

»Ja, auch der Weg war schön, trotz Ihres Streites mit dem Vogt.«

»Ja, es will nicht in seinen Kopf. Und auch in den Kopf der Leute will es nicht. Das ist bestimmt genau wie im Hotel in Berlin: alles, was wir tun, ist für die bloß Schikane, Gemeinheit.«

»Man soll von den Leuten nicht zu viel verlangen, Studmann, sie können ja schließlich nicht anders.«

»Nein, die nicht, aber …«

»Aber –?«

Studmann antwortete nicht. Er war ans Fenster getreten, lehnte sich hinaus. Eine Weile verging so, dann wandte sich Studmann wieder in das Büro zurück und sagte halblaut, wie zu sich: »Nein, er kommt nicht …«

»Wer kommt nicht? Warten Sie noch auf jemanden?«

»Ach …«, sagte Studmann abweisend. Dann aber besann er sich: »Schließlich haben Sie die Hauptsache zu diesem Erfolg getan, Pagel. – Ich dachte, der Rittmeister würde noch kommen, um uns, Ihnen zu danken.«

»Der Rittmeister –?«

»Sie haben ihn nicht gesehen?«

»Mir war so … am Wege … war er das wirklich?«

»Ja, das war er. Er versuchte sich zu drücken. Ich habe ihn angesprochen. Aber es war ihm sichtlich peinlich. Der gute Prackwitz wünschte, daß ihn die Leute nicht sähen …«

»Aber wieso denn –?« fragte Pagel sehr erstaunt. »Er will doch grade, daß wir dem Felddiebstahl ein Ende machen?«

»Natürlich! Aber wir sollen es eben tun! Wir, Pagel! Nicht er, er möchte nichts damit zu tun haben.«

Pagel pfiff nachdenklich durch die Zähne.

»Ich fürchte, Pagel, wir haben einen Chef, der recht scharfe Beamte wünscht, damit er um so milder scheinen kann. Ich fürchte, wir werden wenig Rückendeckung bei Herrn von Prackwitz finden …« Er starrte noch einmal zum Fenster: »Ich dachte, er würde wenigstens hierherkommen. Aber dann eben nicht. Sind wir beide aufeinander angewiesen, geht auch, was?«

»Großartig«, sagte Pagel.

»Keinen Zorn aufeinander, immer gleich aussprechen. Keine Geheimnisse voreinander, immer alles erzählen, jede Kleinigkeit. Wir sind gewissermaßen in einer belagerten Festung, ich fürchte, Neulohe wird schwer für den Rittmeister zu halten sein. – Pagel, haben Sie was –?«

Pagel zog die Hand von seiner Tasche zurück. Es ist nicht mein Geheimnis, dachte er. Ich muß erst mit der Kleinen reden.

»Nein, nichts«, sagte er laut.

Wolf unter Wölfen
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