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All die Zeit, während Herr von Studmann mit dem Geheimrat verhandelt, geredet, gestritten hatte, während er dann auf den Gutshof gelaufen war, Leute zusammengetrommelt, seine Weisungen gegeben hatte – all die Zeit, während Studmann dann an der Schnitterkaserne den jungen, langsam immer mehr aufleuchtenden Pagel instruiert und es dabei nicht unterlassen hatte, ihn nochmals vor jeder Vertraulichkeit mit älteren lodenen und rauschebärtigen Herren zu warnen – und jene Zeit auch, in der Herr von Studmann mit den Hilfswachtmeistern, den Wachtmeistern und dem Oberwachtmeister des Kommandos gesprochen und ihnen zugeredet hatte, damit sie bloß nicht gekränkt waren – den halben Nachmittag also, an dem Studmann geredet, geschmeichelt, gescholten, ermahnt, geschwitzt und gelächelt hatte, um seinen Freund von Prackwitz vor den Anfeindungen des Schwiegervaters zu retten – von der Essenszeit bis nach der Kaffeezeit hatte der Rittmeister Joachim von Prackwitz wütend auf seiner Couch gelegen und mit seinem Freunde von Studmann geschmollt.

Der Rittmeister hat sich empört über Studmann, den Vormund; hat geschimpft über Studmann, das Kindermädchen; hat hohngelacht über Studmann, den Besserwisser; hat verächtlich gelächelt über Studmann, die Unke!

Was hinwiederum den alten Geheimrat von Teschow anging, so hatte er durch einen Vorhang des Schloßzimmers nur einen Blick auf die beginnenden Studmannschen Arbeiten geworfen, hatte dann sofort anerkennend mit dem Kopf genickt und gesprochen: »Köpfchen bleibt eben doch Köpfchen. So einen Mann hätte ich als Schwiegersohn haben müssen, nicht so ’ne langschinkige Donnerbüchse …«

Der Rittmeister hatte erkannt, daß er bis auf die Knochen blamiert war. Frau und Freund waren in einen Wettstreit darüber eingetreten, wer ihn am meisten blamieren könnte. Während die Frau ihn mit Aufbauschung eines kleinen Ehe-Intermezzos, bei dem er übrigens vollkommen im Recht gewesen war, vor dem Freunde blamiert hatte, hatte der Freund ihn vor der Frau als einen vollkommenen geschäftlichen Trottel hingestellt. Er hatte ihm die ganze Geschäftsführung abgelistet, und dann hatte er ihm sogar noch das Wort abgenommen, seinem Schwiegervater nicht einmal die Meinung zu sagen! Der Rittmeister war überzeugt, daß alles Gerede über Gefährlichkeit dieses Vertrages Gefasel war. Indem er es sorgfältig vermied, an Einzelheiten zu denken, stellte er fest, daß es ihm bisher auf Neulohe immer noch recht gut gegangen war, daß er sein Auskommen gehabt hatte – und daß er sich wirklich nicht darum kluge Herren aus Berlin kommen ließ, um zu beweisen, daß er dies Auskommen nicht hatte.

Der Rittmeister hatte einen Freund haben wollen, sprich einen unterhaltsamen Gesellschafter, keinen Vormund: Das verbitte ich mir! schrie er innerlich. Daß man den Schrei nicht hörte, machte ihn nicht weniger intensiv. Der gute Studmann hatte gefürchtet, der Rittmeister würde in einen hemmungslosen Zorn auf seinen Schwiegervater geraten. Was sein Schwiegervater, dieser lächerliche Greis von siebzig Jahren in Kniehosen, tat, das war dem Rittmeister völlig piepe – auf seinen Freund hatte er eine Stinkwut, sein Freund hatte ihn tödlich verletzt!

An der Schnitterkaserne schien alles in Ordnung. Schwitzend rannte Herr von Studmann in die Waschküche des Schlosses. Drei eilig zusammengetriebene Dorfweiber folgten ihm mit fliegenden Schürzenbändern, halblaut glucksend wie die Hühner, voll geschwätziger Erwartung, was denn nun wieder los sei. Nachdem er den Umzug der Gerätschaften in die Futterküche des Viehhauses angeordnet hatte, nachdem er eine geradezu verklärte Sauberkeit der Teschowschen, durch Zuchthäusleressen entweihten Waschkessel befohlen hatte, rannte von Studmann was hast du, was kannst du ins Dorf, in die Wohnung des Leutevogts Kowalewski, um von dem Mädchen Sophie zu hören, was denn da nun eigentlich los war. Er wollte dem Mädchen den Kopf zurechtsetzen und vielleicht ganz nebenbei auch erfahren, worin eigentlich das gute Zureden des Geheimrats bestanden hatte. Aber die Sophie sollte zu einer Freundin am andern Dorfende gegangen sein. Da Herr von Studmann doch einmal schwitzte, konnte es auf ein bißchen mehr Schweiß nicht ankommen. Herr von Studmann rannte zum andern Dorfende.

Herr von Teschow, der alte Geheimrat, sah vom Park aus, wie er rannte. Renne du! sagte er wohlgefällig zu sich. Und wenn du mit allen Erzengeln und den himmlischen Heerscharen meiner Belinde auf den Fersen rennen würdest – du rettetest meinen Schwiegersohn doch nicht!

Damit ging der Geheimrat tiefer hinein in den Park, zu einer ihm gut bekannten Stelle. Spät kommt ihr, doch ihr kommt. Fuchs, du hast die Gans gestohlen. Wer zweimal eine Grube gräbt, der kommt zum Ziel.

 

»Gnädige Frau bitten den Herrn Rittmeister zum Kaffee!«

»Danke, Hubert. Soll mich zufriedenlassen. Will keinen Kaffee. Bin krank.«

 

»Du bist krank, Achim?«

»Du sollst mich zufriedenlassen!«

»Hubert sagt, du bist krank.«

»Ich weiß am besten, was ich gesagt habe! Ich bin nicht krank! Ich will nicht ewig bevormundet werden!«

»Entschuldige, Achim – du hast recht, du bist wirklich krank!«

»Himmelherrgott, laß mich zufrieden, ja?! Ich bin nicht krank! Ich will meine Ruhe haben …«

Er hatte sie bereits, Frau von Prackwitz war schon gegangen.

Nun hörte er sie nebenan leise mit der Weio reden, beim Kaffeetrinken. Sie sollten ruhig laut reden, sonst kam man nur auf den Gedanken, sie redeten über einen selbst! Natürlich redeten sie über ihn!! Sie sollten nicht so flüstern! Er war nicht krank! Er hatte es ihr doch gesagt! Gott im Himmel, sie zwangen ihn, einen ruhebedürftigen Mann, aufzustehen und sich mit an den Kaffeetisch zu setzen, bloß um ihren Willen zu haben!

Er würde es gerade nicht tun!

Aber sie sollten nicht so flüstern, sonst mußte er es doch tun!

»Redet doch laut!« brüllte der Rittmeister empört durch die geschlossene Tür. »Dies Flüstern macht einen ja ganz nervös! Wie soll man bei dieser Tuschelei ruhen können –!«

 

»Was machen die Leute bloß da?« sagte Frau von Teschow zu Fräulein von Kuckhoff. »Ich glaube, sie wollen mauern.«

Die beiden alten Damen saßen jede auf ihrem Fensterplatz und sahen auf den heute interessantesten Fleck in Neulohe, die Schnitterkaserne. (Sonst schliefen sie um diese Zeit.)

»Wer warten kann, der ist der Mann«, antwortete Jutta von Kuckhoff, aber auch ihr wurde das Warten schwer. »Du hast recht, Belinde, es sieht nach Mauern aus.«

»Aber was können sie denn bloß mauern?!« fragte wieder die alte Dame aufgeregt. »Seit Horst-Heinz 97 die Schnitterkaserne gebaut hat, ist sie so. Ich bin an sie gewöhnt. Und nun plötzlich Änderungen, ohne jede Vorbereitung! Bitte, Jutta, klingle nach Elias.«

Es wurde geklingelt; bis der Elias kam, wurde weiter geschaut.

»Dieser junge Mensch, dieser sogenannte Herr Pagel, führt das Kommando. Ich habe seinem Gesicht nie getraut, Jutta. Warum läuft er immer in feldgrauen Röcken herum, wo er zwei Koffer voll Anzüge haben soll?! – Elias, hat dieser junge Mensch nicht andere Anzüge?«

»Doch, gnädige Frau, in einem Schrankkoffer und in einem großen Kupeekoffer. Minna sagt, er hat auch seidene Hemden, ganz durchzuknöpfen wie die vom Herrn Rittmeister. Seidene, nicht Linon. Aber er zieht sie nicht an.«

»Und warum zieht er sie nicht an?«

Elias bewegte die Schultern.

»Verstehst du das, Jutta? Ein junger Mensch, der seidene Hemden hat und sie nicht anzieht?«

»Vielleicht gehören sie ihm nicht, Belinde?«

»Ach, i wo, wenn er sie im Koffer hat! – Dahinter steckt was – nimm mein Wort, Jutta, denke daran, daß ich es jetzt gesagt habe. Wir müssen aufpassen: wenn er das erste Mal ein Seidenhemd anhat, dann ist etwas los –! Bestimmt!!«

Die drei alten Leute sahen sich an, mit funkelnden Augen, neugierig und gierig; alte Raubvögel, die das Aas schon wittern, wenn es noch lebt. Sie verstanden sich, auch Elias war lange genug Diener, um zu verstehen, mitzuwittern.

»Der junge Mann war heute früh mit dem gnädigen Fräulein im Park«, sagte er.

»Mit meiner Enkelin, mit Fräulein Violet –? Sie irren sich, Elias. Violet hat Stubenarrest, sie darf nicht einmal zu uns …«

»Ich weiß doch, gnädige Frau«, antwortete Elias.

»Und –?«

»Sie waren reichlich zweiundzwanzig Minuten im Park, hinten, unter den Bäumen, nicht vorne auf dem Rasen.«

»Elias! Meine Enkelin –«

»Geraucht haben sie auch. Er hat ihr Feuer gegeben, nicht mit dem Streichholz, sondern von seiner Zigarette. Ich sage, wie es ist, gnädige Frau. Das habe ich gesehen – nachher habe ich nichts gesehen, weil dann die Bäume kamen. Darüber kann ich nichts sagen.«

Die drei schwiegen. Sie sahen sich an, sie sahen wieder voneinander fort, als hätten sie sich bei etwas ertappt.

Schließlich flötete die alte Gnädige: »Und wo war meine Tochter?«

»Die junge gnädige Frau war auf dem Büro – bei Herrn von Studmann.«

Die beiden alten Weiblein saßen starr, auch jetzt sahen sie einander nicht an. Dann, als Elias sicher war, der Haken saß fest, sagte er sanft: »Der Herr Rittmeister war auch auf dem Büro …«

Freundin und Freundin regten sich langsam, wie aus einem tiefen Schlaf heraus. Fräulein von Kuckhoff räusperte sich energisch, völlig männerhaft, sie warf einen zweifelnden Blick auf Elias … Die gnädige Frau sah lieber zum Fenster hinaus.

»Und was machen sie dort, Elias?« fragte sie.

Elias brauchte nicht hinzusehen, er wußte Bescheid, und wo er nicht Bescheid wußte, da erriet er. »Sie mauern dort die Tür zu«, sagte er. »Weil die gnädige Frau der Anblick von den Verbrechern stört …«

»Sie mauern die Tür zu …«

Frau von Teschow saß starr, sie versuchte zu erkennen, ob dies eine Kränkung oder eine zarte Rücksichtnahme war. Beides konnte sich so ähnlich sein, es kam ganz darauf an, wie man es auffaßte.

»Und wie kommen die Leute aus der Kaserne heraus?« fragte sie endlich.

»Sie machen doch aus dem zweiten Fenster in der großen Leutestube eine Tür«, erklärte Elias. »Grade hinter den Büschen, nein, auf der andern Seite, nach dem Hof zu … Gnädige Frau werden nichts mehr sehen …«

»Es ist sehr rücksichtslos von meinem Schwiegersohn, mir meine Aussicht zuzumauern«, fing Frau von Teschow bitter an.

»Der Herr Rittmeister weiß nichts davon«, beeilte sich Elias. »Herr Rittmeister ist gleich nach Haus gegangen, als die – Leute kamen. Das hat Herr von Studmann angeordnet …«

»Wie kommt Herr von Studmann dazu, mir meinen alten Ausblick auf die Schnitterkaserne zu verbauen?!!« rief Frau von Teschow hitzig.

»Herr von Studmann macht doch einen sehr angenehmen Eindruck«, sagte Fräulein von Kuckhoff warnend.

»Herr Geheimrat haben lange heute mittag mit Herrn von Studmann verhandelt«, meldete Elias. »Herr Geheimrat haben einmal sehr laut – geschrien.«

»Es war sehr rücksichtsvoll von Horst-Heinz, daran zu denken«, sagte Frau von Teschow. »Ich wußte nichts davon – er wollte mich damit überraschen.«

Sie sah nachdenklich nach der Schnitterkaserne hinüber. Zwei Steinschichten waren schon gelegt. Dieser junge Mensch in Feldgrau verhandelte eifrig mit den beiden Gutsmaurern, ein Wachtmeister stand mit neugierigem Gesicht dabei – nun lachten alle vier los. Noch lachend sahen sie alle zum Schloß hinüber, zu den Fenstern.

Die gnädige Frau rückte eilig ihren Kopf aus der Sonne – aber auch ohnedies wäre sie auf ihrem Fenstertritt nicht zu sehen gewesen, halb hinter der Gardine versteckt. Noch lachend liefen die beiden Maurer nach dem Gutshof hinüber – der junge Pagel hielt dem Wachtmeister sein Zigarettenetui hin. Auch die beiden lachten.

Das hätte Horst-Heinz nicht tun sollen! dachte die gnädige Frau ärgerlich. Den ganzen Sommer auf die kahle Wand starren! Sicher höre ich Geschichten von all diesen Verbrechern, was sie getan haben, warum sie sitzen – und ich weiß nicht einmal, wie sie aussehen. Ich müßte …

Sie war in Versuchung, den Diener Elias hinüberzuschicken, sagen zu lassen, der Umbau sei nicht notwendig, aber sie wagte es nicht. Der Herr Geheimrat, ihr Gatte, war nur so lange gemütlich, als man seinen meist geheimen Plänen nicht zuwiderhandelte. Er konnte so nervenzerstörend brüllen! Und er lief dann so blaurot an – Sanitätsrat Hotop sagte immer, ein Schlaganfall würde ihm gefährlich werden …

»Bitten Sie Herrn Geheimrat zu mir, Elias«, sagte die gnädige Frau sanft.

»Herr Geheimrat sind fortgegangen«, teilte Elias mit. »Soll ich es ihm sagen, wenn er zurückkommt?«

»Nein, nein, es müßte jetzt sein.« (Eine Tür ist so schnell vermauert!) »Aber Sie könnten einmal zu meiner Tochter gehen, Elias, und ihr sagen, ich ließe bitten, mir Fräulein Violet ein Stündchen zu schicken …«

Elias nickte.

»Wenn meine Tochter etwas vom Stubenarrest sagen sollte, deuten Sie an, Elias – aber vorsichtig, ganz unauffällig! –, daß Fräulein Violet heute mittag im Park spazierengegangen ist …«

Elias verbeugte sich.

»Von dem jungen Mann brauchen Sie vor meiner Tochter nichts zu erwähnen«, sagte die gnädige Frau. »Ich spreche mit meiner Enkelin selbst darüber …«

Elias’ Gesicht zeigte, daß er alles gut verstanden hatte, daß alles bestens erledigt werden würde. Er fragte, ob noch weitere Wünsche da seien. Aber weitere Wünsche waren nicht da.

Elias ging, würdig, ruhevoll, stets der Besitzer eines enormen Vermögens.

»Wenn Violet heute nicht kommt, gehe ich in die Villa!« Die gnädige Frau setzte sich energisch auf. »Wenn auch Horst-Heinz schilt! Ich lasse mir meine Enkelin nicht verschimpfieren!«

»Darf ich mit, Belinde?« fragte Fräulein von Kuckhoff gespannt.

»Ich will mal sehen. Jedenfalls müssen wir es so abpassen, daß mein Schwiegersohn nicht im Haus ist. Und sieh du gleich einmal, ob du die Minna nicht findest. Vielleicht weiß sie was.«

 

Der junge Pagel hatte einen Einfall gehabt. Fünfzig Mann in der Schnitterkaserne lachten, fünf Beamte lachten, die Maurer lachten – bald würde das ganze Dorf lachen!

Zuerst war die Stimmung recht gereizt gewesen. Dieses befohlene Zumauern einer Tür, gewiß eine gute Lösung des Herrn von Studmann, war keine gute Begrüßung des Kommandos.

»Wenn sie uns nicht sehen mögen, brauchen sie uns auch nicht für ihre Arbeit zu holen«, maulten die Zuchthäusler. »Wenn wir nicht zu schlecht sind, ihnen ihre Eßkartoffeln auszubuddeln, muß ihnen auch von unserm Anblick nicht schlecht werden!« schimpften sie. »Wer weiß, wie der sein Geld verdient hat; zusammengebetet wird er sich seinen Steinbaukasten auch nicht haben!« meinten sie.

Und auch die Beamten hatten den Kopf geschüttelt und die Münder verzogen. Sie fanden, sie hatten – mit zwei oder drei Ausnahmen – ein sehr ordentliches Kommando. Es gingen oft ganz andere Arbeitsabteilungen aus Meienburg fort. Wenn die Leute sich anständig benahmen und gut arbeiteten, mußte man sie nicht immerzu daran erinnern, daß sie bloß Zuchthäusler waren. Das machte sie nur unruhig und erschwerte den Beamten ihre Pflicht.

Aber nun hatte der junge Pagel seinen Einfall gehabt. Nun lachten sie alle, nun grinsten sie alle. »Da können sie beten für uns, das erinnert sie alle Tage!« sagten sie. »Der junge Mann ist in Ordnung – so muß man es mit denen machen. Immer so ’ne Raffkes durch den Kakao ziehen – das ist das beste!«

Vor Vergnügen hätten sie am liebsten wieder losgesungen, irgendwas geschmettert: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!« oder so was, was denen in den Ohren gellte. Aber sie wollten dem jungen Mann keine Ungelegenheiten machen! Mit vergnügten Gesichtern sägten sie an ihren Brettern, nagelten die Regale, die Gerätestände zusammen, packten und zählten die Wäsche. Heute war nur halber Arbeitstag, heute schafften sie erst einmal die Ordnung, die Herr Oberwachtmeister Marofke für unerläßlich hielt, alles in Reih und Glied, alles in Falten und geputzt – genau wie daheim im Zuchthaus Meienburg. Nummern an jedem Eßnapf und Nummern an jeder Waschschüssel, Nummern an den Betten, Nummern an jedem Schemel, jeder Platz am Eßtisch numeriert.

Schwierige, flüsternde, sich erhitzende Beratungen unter den Beamten, wer am besten neben wem am Tisch saß, wer zusammen auf eine Stube gelegt werden konnte – eine falsche Zuteilung, und die Keimzelle zu einem Ausbruchsversuch oder zu einer Meuterei war geschaffen –!

Aber während alldem schlich immer wieder einer an das langsam zuwachsende Türloch, sah, erkundigte sich. Und die Gefährten drinnen fragten grinsend: »Wie weit sind sie denn nun schon? Sieht man’s schon? Erkennt man’s schon?«

»Sie sind erst bei der sechsten Schichte. Nee, richtig zu erkennen ist es erst, wenn der Querbalken kommt.«

Von Studmann erkannte es auch nicht. Er kam aus dem Dorf, schließlich hatte er die Sophie gefunden, aber die Sophie hatte ihm diesmal gar nicht gefallen. Verstockt, hinterhältig, verlogen.

Was nur in das Mädchen gefahren sein mag? Sie ist ganz verändert! Ob der Geheimrat dahintersteckt? Sicher, der hat sie irgendwie aufgehetzt. Das kann er! Den ganzen Tag denkt er nur darüber nach, wie er uns Schwierigkeiten macht. Na ja, die Ernte … Es wird Zeit für ihn, jedes bißchen, das wir dreschen und verkaufen, tut ihm weh! Ich muß gleich zu Prackwitz, daß er nicht wieder Dummheiten macht. Ach Gott, und die Amanda muß ich auch fragen, was hinter dem Gerede der Kowalewski steckt. Zu irgendwelcher vernünftigen Arbeit kommt man heute wieder einmal überhaupt nicht. Ewig rennt man hinter irgendwelchem Gewäsch her und rückt die Töpfe vom Feuer, daß sie bloß nicht überkochen! Ich hätte es nie geglaubt – aber es ist wirklich fast noch schlimmer als im Hotel!

»Was stellt das nun wieder vor, Pagel?!« sagte er etwas ärgerlich und sah das Werk der Maurer an. »Hinter dem Viehhaus stehen noch genug rote Steine – warum diese häßlichen weißen Zementsteine dazwischen?!«

Die beiden Maurer sahen sich an und grienten unter ihren Maurerbärten. Aber nach der Art solcher Leute taten sie, als hörten sie nichts, sondern sie mauerten geruhig weiter fort. Schwapp, spritzte der fette Zementbrei. Ein Hilfswachtmeister, der musternd mit dem Kopf aus der Öffnung gefahren kam, zog ihn beim Anblick des Herrn von Studmann hastig wieder zurück.

»Nun?« fragte Herr von Studmann recht ärgerlich.

Der junge Pagel sah seinen Vorgesetzten und Freund lächelnd an. Aber er lächelte eigentlich nur mit den Augen, sie wurden ganz hell davon. Pagel warf seine Zigarette ins Gebüsch, hob die Achseln und sagte mit einem Seufzer: »Es ist ein Kreuz, Herr von Studmann …« Und er ließ die Achseln wieder sinken.

»Was ist ein Kreuz?« fragte Herr von Studmann sehr ärgerlich, denn nörgelnde Kritik an einer notwendigen Arbeit war ihm verhaßt.

»Das!« sagte Pagel und zeigte mit dem Finger auf die Türöffnung.

Die beiden Maurer prusteten los.

Herr von Studmann starrte auf die Wand, auf die Türöffnung, auf die Steine, weiß und rot …

Plötzlich ging ihm ein Licht auf, er rief: »Sie meinen, das wird ein Kreuz, Pagel –?«

»Ich dachte, es wirkt gefälliger«, sagte Pagel grinsend. »So ’ne glatte rote Wand ist ein langweiliger Anblick. Dachte ich. Aber mit einem Kreuz – Kreuz regt gewissermaßen zur Einkehr an.«

Man muß sagen, die Gutsmaurer mauerten mit einem geradezu gegenrevolutionären Eifer, sie wollten das Kreuz vor einem Verbot so weit wie möglich in Sicherheit bringen.

Aber Herr von Studmann lachte nach einem Augenblick des Nachdenkens auch. »Sie sind ein Frechling, Pagel«, sagte er. »Nun, wenn es zu schlimm wirkt, kann man die weißen Steine immer noch rot anpinseln. – Sehen Sie zu, daß Sie bald fertig werden«, sagte er zu den Maurern. »Mit einem Ruck hoch, verstanden? Jetzt kann man wohl drüben vom Schloß noch nicht sehen, was es werden soll?«

»Jetzt noch nicht«, sagten die Maurer. »Und wenn wir erst bei dem Querbalken sind, kann der junge Herr vielleicht ein bißchen weggehen? Wenn die schicken, wir tun nur, was uns gesagt wird.«

»Das sollen Sie auch!« erklärte Herr von Studmann gebieterisch. Er wollte kein Komplott mit den Leuten gegen die alte Herrschaft.

»Hören Sie, Pagel«, sagte er zu dem Exfahnenjunker. »Ich gehe jetzt zur Villa und bringe dem Prackwitz das hier bei.« Umfassende Handbewegung zwischen Schloß und Schnitterkaserne. »Sie halten hier indessen unter allen Umständen die Stellung – einschließlich – ähemm! – Kreuz!«

»Kreuzstellung wird gehalten, Herr Oberleutnant!« sagte Pagel. Er schlug die Hacken zusammen und legte die Hand, da er nichts als seinen Haarschopf trug, an die Stirn. Er sah Herrn von Studmann nach, der aber nicht nach seinen Worten zur Villa ging, sondern in das Beamtenhaus. Es war dem Oberleutnant nämlich eingefallen, daß er in der Villa unter Umständen die Damen treffen würde. Unmöglich konnte er dort so verschwitzt auftreten, zum mindesten einen frischen Kragen mußte er sich umbinden. Bei einem Studmann ist von einem frischen Kragen zu einem frischen Hemd nur ein Schritt. Also wusch sich der Oberleutnant von oben bis unten kühl ab – und in der Zwischenzeit nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Während Herr von Studmann sich wusch, kreuzte das Unheil flügelschlagend den Weg nach der Villa, hinter den letzten Häusern des Dorfes.

 

Der alte Elias hatte recht gesehen: sein Brotherr war in den Park gegangen. Wenn uns gar nichts Neues mehr einfällt, fällt uns wenigstens immer noch ein, was von unsern alten Plänen unerledigt ist. Herrn Geheimrat von Teschow war auch so etwas eingefallen. Ohne zu zögern, aber doch mit sorglichem Rundblick aus seinen kugligen, leicht geröteten Seehundsaugen begab er sich an jene Stelle des Parkzauns, an der er nächtens schon einmal gestanden hatte. Wie damals brachte er als Werkzeug nichts als seine Hände mit. Aber mit dem Gedächtnis ist es eine wunderbare Sache: was wir behalten wollen, das behalten wir auch. Trotz dunkler Nacht und manchem seitdem verstrichenen Tage hatte der Geheimrat nicht vergessen, wo die lose Latte saß. Ein Zug, ein Stemmen, ein Drücken – die sich aus dem Zaunholz ziehenden Nägel schrien nicht sehr erheblich –, und der Geheimrat hielt die Latte in der Hand.

Ein wenig schnaufend sah er sich um. Wiederum arbeitete sein Gedächtnis ausgezeichnet: er sah scharf nach dem Busch, in dem er damals die Amanda Backs zu sehen geglaubt hatte. Jetzt bei Tageslicht erkannte er, daß es ein Pfaffenhütchenbusch war – und keiner und keine steckten im Busch. Der Geheimrat ging und setzte mitten in ihn hinein die losgebrochene Latte. Er ging rund um den Busch herum. Der Busch erfüllte alle auf ihn gesetzten Erwartungen – die Latte war unsichtbar geworden.

Befriedigt nickte der Geheimrat und ging auf die Suche nach Attila. Es war nicht des Geheimrats Art, ein Loch in einen Zaun zu machen und es nun den Gänsen zu überlassen, daß sie eines Tages, und wahrscheinlich gerade im falschen Augenblick, dieses Loch finden würden – dies war die Stunde! Sozusagen waren die Gänse in dieser Minute der Tropfen, der den Becher in des Rittmeisters Galle zum Überlaufen bringen mußte – jetzt ging also der Geheimrat auf die Suche nach Attila!

Er fand die Gänse – anderthalb Dutzend an der Zahl – auf der Wiese beim Schwanenteich, wo sie mißvergnügt an dem sauren Parkgras herumbissen. Sie begrüßten ihn mit mißbilligendem, aufgeregtem Gezeter. Sie verdrehten ihre Hälse, sie legten ihre Köpfe auf die Seite, sie schielten von unten himmelblaugiftig nach ihm und zischten böse. Aber der Geheimrat kannte seine Gänse, wenn sie ihn auch nicht erkannten. Diese böse zischenden Damen waren vorübergehende Erscheinungen; Gottes Stellvertreter hier auf Erden, in diesem Falle Frau Geheimrat von Teschow, überlieferte sie alljährlich dem Schlachtmesser der Mamsell, bis auf drei, vier Zuchttiere. Sie hatten keine Ruhestatt dahier, flüchtige Gäste waren sie nur auf des Geheimrats Parkwiesen, kaum erwachsen, wandelte sich ihr junges Fleisch in Spickbrust und Pökelkeulen.

Bleibend, Geschlechter und Geschlechter überdauernd, war nur Attila, der Zuchtganter, ein schwerer Gänserich von einundzwanzig Pfund. Stolz und überlegen hielt er sich für der Schöpfung Nabel, biß die Kinder, flatterte zornig den Briefträgern in die Räder, sie zu Falle bringend, haßte die neuerdings immer länger aus den Röcken reichenden Frauenbeine, die er blutrünstig zwackte. Strenger Herrscher in seinem Harem, völliger König und Autokrat, vertrug er Widerspruch gar nicht, war der Schmeichelei unzugänglich, gehorchte niemandem und hatte nur einen weichen Platz in seinem Gänseherzen – für den Herrn Geheimrat Horst-Heinz von Teschow.

Zwei gleichgestimmte Seelen hatten sich erkannt und liebten einander!

Abseits von dem unvernünftigen Weibervolk wandelnd, wahrscheinlich irgendwelchen Betrachtungen über gänsische Probleme hingegeben, hatte er die Ankunft des guten Freundes nicht beachtet. Nun aufmerksam geworden, sah er einen Augenblick mit seinen blaßvergißmeinnichtblauen Augen zu der spektakelnden Schar hinüber. Er erkannte den Anlaß des Spektakels, und mit weit ausgebreiteten Flügeln flatterte er knatternd auf den Geheimrat zu.

»Attila!« rief der. »Attila!«

Die Gänse schnatterten aufgeregt. Der Ganter eilte näher in nicht zu hemmender Eile … Von seinen starken Flügelschlägen getroffen, flogen und taumelten die bestürzten Frauen zur Seite – und an die Beine des Geheimrats geschmiegt, den Hals gegen seinen Bauch gelegt, mit dem Kopf sanft gegen den Fettball klopfend, schnatterte der Ganter leise und zärtlich vieles, mit jedem Ton bedingungslose Liebe des Freundes zum Freunde bekundend.

Schief die Köpfe, langsam wellenförmig die Hälse schlängelnd, stand das Volk der Gänse rundum.

»Attila!« sprach der Geheimrat und kraulte ihm den Kopf dort, wo sich Gänse ihn nie kraulen können, direkt über dem Schnabelansatz. Sanft drückte mit einem leichten, wie einschlafenden Schnattern der Ganter den Schnabel gegen den sacht wogenden Bauch. Dann, als die kraulenden Finger lässiger wurden, schob er mit einer plötzlichen, geschickten Bewegung den Kopf zwischen Weste und Hemd und blieb so ruhend, völlig selig, des höchsten Erdenglückes wieder einmal teilhaftig geworden.

Eine Zeitlang mußte der Geheimrat dem Freunde schon solch friedvolles Verweilen zugestehen. Er stand auf der Parkwiese, von Sommerschatten und Sommersonne getupfelt, seine Zigarre langsam weiterschmauchend, ein bärtiger, rotbackiger Greis in ziemlich durchschwitztem Loden, und Geschöpf dieser Erde, gewährte er willig dem Mitgeschöpf Frieden an seinem Bauche.

»Attila!« sagte er von Zeit zu Zeit behaglich. »Attel!«

Und unter der Weste hervor klang ein friedvolles Zischen zur Antwort. Die Liebe seines Ganters zu enttäuschen wäre ihm frevelhaft erschienen, über die Liebe zu Verwandten dachte er – anders!

Schließlich aber löste er sanft den Freund vom Freunde. Noch einmal kraulte er den Schnabelflaum, dann sprach er auffordernd »Attila« und ging dem Ganter voran, der unverzüglich, leise und zufrieden mit sich schnatternd, ihm folgte. Wie es in den Büchern steht und auf den Bildern für Kinder zu sehen ist, folgten im Gänsemarsch sämtliche Gänse. Erst die alten Legegänse, dann die groß gewordenen Gössel der Frühjahrsbrut, der jämmerliche Rückständer hinterdrein.

So wanderten sie dahin durch den sommerlichen Park; für einen ahnungslosen Beschauer wäre es ein erheiternder Anblick gewesen, eine Kennerin freilich wie die Geflügel-Backs hätte, schlimmer Ahnungen voll, den Kopf geschüttelt. Leider war die Backs in diesem Augenblick grade damit beschäftigt, den schon verspäteten Herrn von Studmann auf der Dorfstraße mit ihrem Protest aufzuhalten: ihr Wunsch sei es nicht gewesen, aus der Küche abgelöst zu werden. Sie schaffe auch das noch neben ihrem Geflügel, und sie hätte sich gerne das Geld dazuverdient, sie brauche Geld. Aber Herr Geheimrat habe ja gesagt …

Also die Backs sah nichts, und im Park war um diese Stunde sonst auch keiner: auf dem Lande ist nur ab Dunkelwerden ein Park ein besuchterer Ort. So erreichte der Zug ungesehen, unbemerkt die Zaunlücke. Der Geheimrat trat zur Seite, und Attila stand vor dem Zaunloch …

»Schöne Wicken, Attila, saftige Wicken, und mich jedenfalls kosten sie nischt«, sprach der Geheimrat überredend. Attila legte den Kopf zur Seite und sah seinen Freund prüfend an. Er schien nahe Zärtlichkeiten ungewissem und fernem Futter vorziehen zu wollen. Rasch bückte sich der Geheimrat und fuhr mit dem Arm erklärend durch das Loch. »Sieh doch, Attila, hier kannste durch –!«

Der Ganter fuhr zu und faßte zärtlich, aber fest ein Haarbündel aus dem rötlich gelbgrauen Backenbart.

»Willst du mal, Attila!« sagte der Geheimrat böse und versuchte, sich aufzurichten. Es ging nicht, Attila hielt fest. Ein einundzwanzigpfündiger Ganter kann sehr festhalten, zumal mit seinem Schnabel, zumal Haare. Der Geheimrat stand ungeschickt tief gebückt, genau gesagt, war sein Kopf tiefer als das Ende seines Rückens. Dies ist eine Haltung, die auch jüngeren Männern auf die Dauer unbequem wird. Wie denn erst einem etwas zu vollblütigen Alten, der Anlage für Schlaganfälle hat. Leise und zärtlich schnatterte der Ganter, vermutlich durch die Nase, denn die Backenbarthaare ließ er darum nicht los.

»Attila!« flehte der Geheimrat.

Die weiblichen Gänse fingen an, seinen geneigten Leib und sein Hinterteil zu untersuchen.

»Dies ist unerträglich!« stöhnte der Geheimrat, dem schwarz vor Augen wurde. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Taumelig und schwindlig stand er da. Die Backe brannte wie Feuer. Mit leisem Vorwurf schnatterte Attila, der Busch Barthaare klebte noch an seinem Schnabel.

»Verdammtes Vieh!« knurrte der Geheimrat und schob mit einem Ruck den Ganter durch das Zaunloch. Der Gänserich schnatterte lauten Protest, doch schon folgten ihm seine Frauen. Was ihn, der durch den Zaun nur den Freund sah, die Liebe nicht erblicken ließ, merkten seine Frauen sofort: die lang entbehrte Weite der Felder. Sie breiteten, aufgeregt und immer lauter schnatternd, ihre Flügel aus, wehten hinein in die hinter den Arbeiterhäusern sich erstreckenden Leutekartoffeln, eine weiße, aufgeregte, lärmende Wolke.

Attila sah seine Frauen weit voraus. Er wußte Weg und Atzung. Der Freund war vergessen – wie darf eine Gans einem Ganter vorausfliegen?! Er breitete die Flügel aus – flatternd und schnatternd eilte er den Seinen nach, überholte sie und setzte sich an ihre Spitze. Hinter den Arbeiterhäusern vorbei, den Feldern, den weiten, fruchttragenden Feldern zu ging ihr Eilmarsch. Denn sie eilten sich. Sie wußten, sie waren auf verbotenen Wegen. Sie wußten, kaum wurden sie gemerkt, eilten die verhaßten Menschen mit Stöcken und Peitschen herzu, sie auf das saure Gras des Parks zurückzujagen. Leiser waren sie darum nicht, aber eiliger …

Einen Augenblick noch sah der Geheimrat den weißen Vögeln nach, sie wurden kleiner. Er rieb sich die Backe. Hoffentlich lohnt es die Barthaare, überlegte er. Aber jedenfalls wird es das beste sein, wenn ich die nächsten Stunden nicht erreichbar bin. Passiert den Gänsen was, steht Belinde auch allein ihren Mann.

Er ging rasch durch den Park, auf der andern Seite hinaus, über Feldraine dem Waldrand zu. Der Wind stand ihm entgegen. Darum hörte er die Schüsse nicht. Aufatmend tauchte er in den Schatten seiner Bäume.

 

Der junge Pagel ist nun mit seinen Maurern schon bei dem Querbalken des Kreuzes. Jetzt ist auch auf größere Entfernung nicht mehr zu verkennen, was dies werden soll. Darum wird auch nicht mehr gelacht, darum werden die Köpfe nicht mehr zusammengesteckt, darum wird nicht mehr zu den Schloßfenstern hinübergeschielt.

»Die sitzen doch da und linsen«, sagt der Maurer Tiede. »Und wenn wir hinschielen, ist’s ganz verkehrt.« Also wird nicht hingeschielt, sondern rein sachlich gearbeitet.

Aber so ist es auch verkehrt, die alte Gnädige fliegt am ganzen Leib ob der ihr angetanen Kränkung. Mädchen und Mamsell laufen wie die Hühner im Schloß umher und suchen umschichtig den Diener Elias und den Herrn Geheimrat …

»Aber wenn man die Männer braucht, sind sie sicher nie da!« krächzt Jutta von Kuckhoff.

»Mit dem Heiligsten treiben sie heute ihren Spott«, stöhnt die alte Frau. »Aber merke es dir, Jutta, dieser junge Mensch wird auch im Zuchthaus enden.«

»Was eine Schweinsborste werden will, ist in der Jugend keine Flaumfeder«, bestätigt die Kuckhoff und gießt ihrer Freundin ein Glas Portwein ein.

Zwei Flintenschüsse klingen aus der Ferne herüber. Aber in dem allgemeinen Trubel achtet niemand auf sie. –

Herr von Studmann hat die Schüsse näher gehört, ganz nahe. Er hat sich von der Amanda schließlich frei gemacht, er hat ihr versprochen, noch einmal mit dem Geheimrat zu reden. Nun geht er langsam, um nicht wieder in Schweiß zu geraten, durch die sommerliche Nachmittagshitze der Villa zu.

Er fährt zusammen, als er in nächster Nähe die Schüsse knallen hört. Was für ein Idiot schießt hier direkt bei den Häusern! denkt er in plötzlichem Zorn.

Die schnatternd und spektakelnd über den Weg flüchtenden Gänse bringt er zuerst nicht mit den Schüssen in Verbindung. Dann sieht er eine Nachzüglerin, wehmütig klagend, mit hängendem, wohl gebrochenem Flügel. Dann sieht er drei, vier, fünf weiße Flecke auf dem grünen Feld. Einer dieser Flecke bewegt noch krampfhaft Füße und Kopf – und wird still.

Aber das sind doch zahme Gänse, keine Wildgänse! denkt Studmann verwundert, der noch lange nicht alle Neuloher Zusammenhänge kennt.

Jetzt erblickt er den Rittmeister in einem Parterrefenster der Villa, die Flinte in der Hand. Der Rittmeister ist schneeweiß im Gesicht, er zittert am ganzen Leibe vor Aufregung. Er sieht den Freund starr an, als erkenne er ihn nicht. Dann schreit er viel zu laut: »Bestelle meinem Schwiegervater einen Gruß – und da hätt er Gänsebraten von mir!«

Der Rittmeister schreit’s, sieht Studmann noch einmal starr an, mit zitternden Lippen, und ehe Studmann noch antworten kann, hat er das Fenster zugeworfen.

Unglück, Unheil, Mißgeschick! fühlt Studmann, ohne noch alles zu verstehen.

Er rennt die paar Stufen zum Eingang hinauf, er vergißt das Klingeln, aber das macht nichts, die Tür ist offen. Auf der kleinen Diele stehen Frau von Prackwitz, Violet von Prackwitz, der alte Diener Elias …

Ach, wenn Unglück einen Mann befallen soll, kommt es unaufhaltsam; kein Kindermädchen Studmann, keine geduldige Frau Eva können es aufhalten! Wäre die gnädige Frau am Kaffeetisch sitzen geblieben, sie hätte durch das offene Fenster das schnatternde Herannahen der feindlichen, der gefürchteten Gänse gehört. Sie hätte die jähzornigen schlimmen Schüsse verhindern können … Aber da brachte der Diener Elias die Botschaft, das gnädige Fräulein möge zur gnädigen Frau auf das Schloß kommen – man durfte den Rittmeister nicht reizen, und man mußte vertraulich mit Elias sprechen … Man trat auf die Diele hinaus – keine zwei Minuten vergingen, und es fielen die verhängnisvollen Schüsse!

Weinend eilt die gnädige Frau auf Herrn von Studmann zu. Der große Kummer hat alle Schranken zerbrochen, sie faßt seine Hände, verzweifelt sagt sie: »Ach, Studmann, Studmann, nun ist alles entzwei – nun hat er geschossen!«

»Die Gänse?« fragt Herr von Studmann und sieht die ernsten, bestürzten Gesichter reihum an.

»Mamas Zuchtgänse! Papas Lieblingsganter Attila! Eben ist er gestorben …«

»Aber es sind doch nur Gänse! Es wird sich einrenken lassen … Schadenersatz …«

»Das verzeihen ihm meine Eltern nie!« weint sie. Und zornig: »Und es war auch häßlich von ihm! Es war ihm gar nicht um das bißchen Wicken! Er wollte meine Eltern verletzen …«

Oberleutnant von Studmann sieht sich fragend um, aber die ernsten Gesichter des alten Dieners, des jungen Mädchens sagen ihm: hier ist mehr zerschossen als eine Gänsebrust!

Die Treppe aus dem Kellergeschoß kommt sachte auf Gummisohlen der Diener Hubert Räder herauf. Er stellt sich neben die Treppe, in achtsamer Haltung; sein graues, faltiges Gesicht sieht teilnahmslos, doch dienstbereit aus. Keinen Blick wirft er auf die weinende Frau oder aus dem Fenster auf die Opfer des Mordes. Aber er ist da; falls er gebraucht werden sollte, ist er bereit und da.

»Was soll ich nur tun?! Oh, was soll ich nur tun?!« weint Frau von Prackwitz. »Was ich auch tue, ihnen ist es nicht recht, und ihm ist es auch nicht recht …«

Aus seiner Stube fährt wie der Teufel aus der Springschachtel der Rittmeister. Nun ist sein Gesicht nicht mehr weiß, sondern rotfleckig, wodurch der Übergang aus wortlosem Grimm zu schimpfseligem Zorn deutlich wird.

»Habe dich bloß nicht so!« schreit er seine Frau an. »Wegen ein paar lächerlicher Gänse plärrst du vor der ganzen Dienerschaft. Ich …«

»Ich bitte dich dringend«, ruft Studmann erzürnt, »deine Frau nicht anzuschreien!« Als Lehrer gibt er einen Lehrsatz hintennach: »Man schreit seine Frau nicht an.«

»Das ist ja reizend!« sagt der Rittmeister empört und sieht sich protestierend in der Runde um. »Habe ich nicht hundertmal darum gebeten, gefleht, protestiert: macht euern Zaun dicht, haltet die Gänse in Verwahrung, laßt sie nicht auf meine Wicken! Habe ich nicht dreihundertmal gewarnt: es passiert was, wenn ich sie noch mal in den Wicken sehe?! Und wo nun etwas passiert ist, weint meine Frau, als ginge die Welt unter, und mein Freund schreit mich an! Es ist wirklich ganz reizend!«

Und der Rittmeister warf sich empört in einen Dielensessel, daß es krachte. Mit langen zitternden Fingern zog er an den Bügelfalten seiner Hose herum.

»Ach, Achim!« klagte seine Frau. »Du hast uns die Pachtung zerschossen! Das verzeiht dir Papa nie!«

Gleich fuhr der Rittmeister wieder heraus aus seinem Sessel. Er hatte eine Erleuchtung: »Glaubst du etwa, daß die Gänse zufällig in die Wicken gegangen sind, nach alldem, was heute geschehen ist –?! Nein, die sind dort hingebracht worden. Man hat mich reizen und herausfordern wollen. Gut – habe ich also geschossen!«

»Aber, Achim, das kannst du doch nie beweisen!«

»Wenn ich im Recht bin, brauche ich das nicht zu beweisen …«

»Der Schwächere hat immer unrecht …«, fing Studmann weise an …

»Das wollen wir einmal sehen, ob ich der Schwächere bin!« schrie der Rittmeister, durch den weisen Satz frisch erzürnt. »Ich lasse mich nicht verhöhnen! Elias, gehen Sie sofort in die Wicken, nehmen Sie die toten Gänse, bringen Sie sie meiner Schwiegermutter, bestellen Sie ihr von mir …«

»Herr Rittmeister«, sagte der alte Diener, »ich war hier mit einem Auftrag meiner gnädigen Frau. Halten zu Gnaden, Herr Rittmeister, ich bin im Schloß beschäftigt …«

»Sie werden tun, was ich sage, Elias!« sprach der Rittmeister mit starker Stimme. »Sie nehmen die toten Gänse und sagen meiner Schwiegermutter …«

»Ich werde es nicht tun, Herr Rittmeister. Ich könnte es auch gar nicht, wenn ich es selbst wollte. Fünf oder sechs Gänse sind zuviel für mich alten Mann. Der Attel wiegt allein einen viertel Zentner.«

»Der Hubert soll Ihnen halfen! Hubert, Sie nehmen also die toten Gänse …«

»Guten Tag, gnädige Frau. Guten Tag, Herr Rittmeister.« Der Diener Elias ging.

»Trottel! … und bestellen meiner Schwiegermutter einen schönen Gruß von mir, aber wer nicht hören will, muß fühlen.«

»Einen schönen Gruß vom Herrn Rittmeister, aber wer nicht hören will, muß fühlen«, wiederholte der Diener Räder, die fischigen Augen ausdruckslos auf seinen Herrn geheftet.

»Richtig!« sprach der Rittmeister sanfter. »Nehmen Sie sich meinethalben eine Karre, holen Sie sich einen Mann vom Hof zur Hilfe …«

»Jawohl, Herr Rittmeister.« Hubert ging zur Tür.

»Hubert!«

Der Diener blieb stehen. Er heftete den Blick auf seine Herrin: »Bitte, gnädige Frau?«

»Sie werden nicht gehen, Hubert. Ich werde selbst gehen. Bitte, Herr von Studmann, begleiten Sie mich … Es gibt eine schreckliche Auseinandersetzung, aber wir wollen retten, was zu retten ist.«

»Selbstverständlich, gnädige Frau«, sagte Herr von Studmann.

»Und ich?!« schrie der Rittmeister. »Und ich –?! Ich werde überhaupt nicht mehr gebraucht?! Ich bin gänzlich überflüssig?! – Hubert, Sie gehen auf der Stelle mit den Gänsen los, oder Sie sind entlassen.«

»Jawohl, Herr Rittmeister!« sagte der Diener Hubert gehorsam, sah aber seine Herrin an.

»Gehen Sie jetzt, Hubert, oder ich schmeiße Sie raus!« schrie der Rittmeister in einem letzten Anfall von Wut.

»Tun Sie, wie der Herr Rittmeister sagt, Hubert«, sagte die gnädige Frau. »Kommen Sie, Herr von Studmann, wir müssen möglichst noch vor Elias bei meinen Eltern sein.«

Auch sie ging eilig. Herr von Studmann warf einen Blick auf die beiden Gestalten in der Diele, zuckte hilflos mit den Schultern und folgte Frau Eva von Prackwitz.

»Papa!« fragte Weio, die gespannt darauf gewartet hatte, daß ihre Mutter sie zum ersten Male seit zwei Wochen vergessen würde. »Darf ich ein bißchen raus und baden gehen?«

»Na, Weio –!« sagte der Rittmeister. »Die beiden haben sich aber wichtig, was? Wegen ein paar Gänsen! Ich will dir sagen, wie es kommt. Die reden einen halben Tag und die halbe Nacht, und dann bleibt alles so, wie es ist.«

»Ja, Papa«, sagte Weio. »Und darf ich baden gehen?«

»Du weißt, daß du Stubenarrest hast, Weio«, erklärte der konsequente Vater. »Ich kann dir nicht erlauben, was deine Mutter verboten hat. Aber meinethalben komm mit, ich gehe ein bißchen in den Wald.«

»Jawohl, Papa«, sagte die Tochter und ärgerte sich maßlos, daß sie gefragt hatte. Denn der Vater hätte sie bestimmt auch vergessen.

Wolf unter Wölfen
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