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Sophie Kowalewski, die Exzofe der Gräfin Mutzbauer, hatte an diesem Sonntagmorgen zu ihren Eltern gesagt: »Ich fahre ein bißchen zur Emmi nach Birnbaum. Wartet nicht mit dem Essen auf mich, vielleicht komme ich erst am Abend wieder.«

Der alte, weiche Vater hatte mit dem Kopf genickt und nur gebeten: »Fahr die Chaussee, Fieken, nicht den Waldweg. Es treiben sich jetzt soviel Kerle in der Gegend herum.«

Und die ungeheuerlich fette, nur noch fressende, nur noch verdauende Mutter hatte gesagt: »Die Emmi hat ’ne großartige Partie gemacht. Sie haben schon eine Kuh und zwei Zicken. Drei Schweine schlachten sie ein. Die brauchen keinen Kohldampf zu schieben. Da gibt’s immer was, wovon man abbeißen kann. Hühner und Gänse haben sie auch. Wenn du mal solch Schwein hättest –«

Sophie war längst draußen. Von der Freundin, die ihr das Rad lieh, ließ sie gebührend das blaue Kostüm bewundern, schwang sich auf den Sattel, fuhr klingelnd langsam durchs Dorf, damit auch alle sie sähen, und bog in den moosigen, stillen Waldweg ein, auf dem das Rad lautlos fuhr wie auf Samt. Der Weg neben den von Holzfuhren zerfahrenen Gleisen war fest und sehr schmal. Heidekraut und Ginster streiften oft die Pedale und warfen Tropfen Morgentaus auf die Spitzen ihrer Schuhe. Die schönen, säulenförmigen Stämme der alten Kiefern wanderten neben ihr her, rötlich von der Morgensonne angeschienen – und manchmal ging der schmale Pfad so eng zwischen zwei Stämmen durch, daß sie die Lenkstange festhalten mußte, um nicht auf einer Seite anzustoßen. Das Blaubeerkraut stand dicht, und die Beeren wurden schon blau. Das Waldgras war noch grün, die Wacholder standen schweigend und dunkel im helleren Unterholz, und es war ein ewiges Flattern und Zwitschern des kleinen Waldgevögels.

Hier hatte Sophie ihre Kindheit verbracht, jedes Geräusch war ihr vertraut; das ferne, unbestimmte Sausen des Waldes, das näher, doch nie ganz nahe kommen konnte, das hatte sie schon als Kind gehört. Sonne über ihrem Haar wie damals Sonne über dem Haar des Kindes. Der rasche Blick im Vorübergleiten auf eine sich öffnende und schon wieder geschlossene Schneise, die ins Herz der Wälder zu führen schien. –

Kein Mensch ist ganz schlecht, auch Sophie ist es nicht – eine Fröhlichkeit, die nichts mit der lärmenden Lustigkeit einer alkoholisierten Barnacht gemein hat, erfüllt sie. Es ist, als habe der Körper neues Blut empfangen, neue, fröhliche, heitere Gedanken strömen mit jedem frischen Atemzug durch sie; statt eines öden Schlagers summt sie das Lied vom Mai, der gekommen ist … Die Wolken – sie wandern – am himmlischen Zelt … Oh, fröhlich –!

Plötzlich muß Sophie lachen. Es ist ihr eingefallen, wie ihre Mutter sie einmal zum Beerensammeln hierher in den Wald mitnahm. Damals war sie acht oder neun Jahre alt. Das mühselige Pflücken wurde ihr bald langweilig. Spielend, vor sich hin summend, verlor sie sich von der Seite der emsigen Mutter, zehnmal ließ sie sich rufen, der elfte Ruf erreichte sie nicht mehr. Leise singend, vor Glück lachend, verlor sie sich tief und tiefer in den Wald, ohne Ziel, nur aus Freude an der Bewegung ging sie weiter und weiter, in die kleinen Täler hinein, in die von flachen Hügeln die Bäume wie stille Pilger hinabstiegen. Lange lauschte sie auf das Gluckgluck eines eiligen Baches. Noch länger sah sie einem Schmetterling zu, der auf einer vor Wärme summenden Waldlichtung von Blüte zu Blüte flog – und sie kam nicht in die Versuchung, nach dem gelben Buttervogel zu greifen.

Schließlich gelangte sie in einen Buchenwald. Silbergrau und hoch ragten die Stämme. Das Grün oben war so fröhlich. Weit voneinander standen die Bäume, überall drangen Sonnenstrahlen hinein in den goldenen, warmen Schatten. Ihre bloßen Füße sanken ganz tief in das weiche, bräunlichgrüne Moos. Leiser singend, fast ohne zu wissen, was sie tat, streifte Sophie ihre Kleider ab. Dort lag das Kleidchen, dort über einem Baumstumpf der helle Fleck des Höschens, nun sank das Hemd in das Moos – und heller jubelnd tanzte das Kind nackt durch Sonne und Schatten. Es lachte – –

Es war die Lust, dazusein, eine Freude, zu leben auf dieser Erde, zu wandeln im Licht – es war die Lebensfreude! Das kleine Herz in der mageren Brust zuckte und bebte. Wonne – Sonne – der uralte Reim, das ewige Gefühl war über das Kind gekommen. Tanzend hinein in immer neues Grün, immer andere Welt, immer tieferes Geheimnis. Sonne – Wonne –: Laute, wie die Vögel sie singen, abgebrochen, um einen Käfer in der verlorenen Radspur zu betrachten, wieder aufgenommen, ohne zu denken, wie du atmest …

Es war die Lebensfreude, das Glück, dazusein – jenes Gefühl, nach dem die Erwachsenen ewig Heimweh haben, ob sie es nun wissen oder nicht. Glück – das sie später immer wieder suchen, wer weiß wo, keiner mag sagen wie, und das sie nie wieder finden werden, das mit der Kindheit entschwindet – nur in einem schwachen Abglanz später aufzufangen in der beglückenden Umarmung eines Geliebten, in der Freude über ein Werk. Einst besessen, schuldlos-schuldig verloren – vorbei! Vorbei!

Leise singt das Rad über die Wege, die Kette knirscht. Wenn es über eine Wurzel geht, klappert das Schutzblech am Hinterrad, und die Sattelfedern seufzen. Sonne – Wonne – versucht Sophie jetzt zu singen, aber es gelingt ihr nicht. Sie muß daran denken, wie die warme Sonne plötzlich kalt geworden war und der heimliche Wald unheimlich. Sie hatte weinen müssen. Sie war umhergeirrt. Alles war feindlich: stechendes Geäst, spitze Steine auf dem Wege, ein von einer Viehkoppel herüberwehender Bremsenschwarm. Schließlich hatte sie ein Waldarbeiter, der alte Hofert, gefunden …

»Schämst du dich denn gar nicht, Fieken, so nackig herumzulaufen?« hatte er gescholten. »Du bist doch ein Mensch, kein Ferkel …«

Er hatte sie zur Mutter zurückgebracht. Ach, das Geschimpfe der Mutter! Das stundenlange Suchen nach den Kleidern, die dann doch nicht gefunden wurden, Schelte und Schläge. Die Heimkehr ins Dorf, mit dem Kopftuch der Mutter um die Hüften. Das Gespött der andern Kinder, die weisen Bemerkungen der Alten: »Paß auf, Kowalewski. Das Mädchen macht dir noch einmal Kummer.«

Hastiger tritt Sophie die Pedale, sie läßt die Klingel schnarren und schmettern in die Waldstille hinein. Sie schüttelt den Kopf, trotzdem kein Bremsenschwarm von der nächsten Koppel sie umschwirrt. Sie will die Gedanken aus dem Kopf schütteln. Kein Mensch kann sagen, wie er wurde, was er wurde. Aber manchmal bekommen wir einen Zipfel vom Wissen zu erfassen, ein Stück Weg, ach, ein Stücklein nur liegt klar hinter uns … Dann werden wir böse mit uns, es ist uns nicht recht, wir schütteln die quälenden Gedanken aus dem Kopf. Wir sind recht so, wie wir sind; und daß wir nicht anders geworden sind, daran haben wir keine Schuld. Darüber brauchen wir nicht nachzudenken! –

Schneller und schneller fährt das Rad, Gestell um Gestell, Schneise um Schneise gleiten vorbei. Sophie fährt nicht nach Birnbaum zu Emmi. Sie fährt ins Zuchthaus, den Hans Liebschner, einen rechtskräftig verurteilten, bereits vorbestraften Hochstapler, zu besuchen. Das Leben ist kein Sonnentag, es ist eine höchst listenreiche, hinterhältige Angelegenheit, und wer die andern nicht hereinlegt, den legen die herein! Sophie hat keine Zeit, sich Träumereien hinzugeben; sie muß sich überlegen, wie sie als Hansens Schwester Besuchserlaubnis bekommt – ohne Ausweispapiere!

Jetzt hat Sophie die Lippen fest geschlossen, ihre Augen haben einen harten, trockenen Glanz. Sie hat keine Zeit mehr, den Wald zu sehen. Sie überlegt! Wohl hat sie sich auf einem Bogen vom Christlichen Hospiz bescheinigt, daß sie die Köchin Sophie Liebschner in Diensten der Hospizverwaltung ist. Aber sie ist sich klar darüber, daß diese schlecht und vielleicht nicht einmal orthographisch geschriebene »Urkunde« vor keinem Beamtenauge Bestand hat. Nach dem, was Vater erzählt hat, wäre der weggelaufene kleine Inspektor Meier gerade der Richtige gewesen, ihr irgendeinen Schein mit dem Gutsvorsteherstempel zu geben. Aber darin hatte sie nun einmal Pech, der Kerl war ihr nicht zu Gesichte gekommen. Und die beiden andern, die im Abteil mit ihr hierhergefahren waren, die taten einem Mädchen solchen kleinen Gefallen nicht, das sah man sofort. Die waren viel zu höflich zu ihr gewesen, genau wie die Kavaliere an der Bar, die so höflich-abweisend sind, bloß damit sie einer Dame keinen Whisky zu bezahlen brauchen!

Sophies Gedanken gehen hin und her, aber sie sind darum nicht etwa trübe. Bisher hat sie noch immer Glück gehabt im Leben, und sie weiß sehr genau, welche Wirkung ein richtiger Blick zur rechten Zeit haben kann. Hübsche Mädchen haben eben immer Glück.

Sophie hat es also auch. Es ist großer Besuchstag im Zuchthaus, über hundert Anverwandte stehen vor dem eisernen Tor, Sophie drängt sich dazwischen, mit dem großen Schwung wird sie eingelassen, Wachtmeister laufen hin und her, Papiere werden nachgesehen, Fragen werden gestellt, und sachte, sachte, Schrittchen um Schrittchen mogelt sich Sophie aus der Gruppe der Ungeprüften unter die Geprüften.

Schon ist sie mit im Besuchszimmer, auf der einen Seite des Gitters stehen die Anverwandten, auf der andern die Gefangenen. Das spricht und redet durcheinander, ohrenbetäubend! Die beiden armen Wachtmeister, die dastehen und jedes Wort beaufsichtigen sollen, können nur schlecht ihre Aufgabe erfüllen. Wie herrlich könnte Sophie jetzt mit ihrem Hans schwatzen, alles, was sie auf dem Herzen hat. Aber ein Hans Liebschner ist natürlich nicht im Besuchszimmer, und sie kann ihn auch nicht reklamieren, denn er steht natürlich nicht auf der Liste der besuchten Gefangenen!

Aber hier zeigt es sich wieder einmal, wie gut es ist, daß Liebschner ein Hochstapler ist, also kein gewalttätiger oder rechthaberischer Mensch, sondern ein mit allen Salben gesalbter Schlaukopf, also ein fügsamer, artiger Gefangener, das Muster jeder Hausordnung. Darum ist der Hans ja schon Kalfaktor geworden, und als Kalfaktor hat er auf den Gängen zu tun, und von den Gängen aus kann er die Besucher kommen sehen. Ein Rabenauge ist scharf: Sophie bleibt Sophie. Ja, wenn der Hans keinen Stein im Brett bei seinem Stationswachtmeister hätte! Aber die Stahlsäge ist richtig gefunden worden, und drei Gitterstäbe waren bereits durchgesägt. So etwas rechtzeitig zu entdecken ist ein Ruhmesblatt für jeden Stationswachtmeister. Der ist belobt worden und ist darum seinem Kalfaktor wohlgesinnt – zumal er das Versprechen mit dem Arbeitskommando noch nicht hat einlösen können, weil noch kein Kommando ausgesandt ist seitdem.

So wird Sophie plötzlich von einem bärtigen, älteren Wachtmeister herangewinkt. »Kommen Se man, Frollein!« In eine enge Zelle ganz voll schmierigen Tauwerks wird sie hineingeschoben und sogar eingeriegelt, und wie sie sich gerade tausend Gedanken macht, ob denn ihr Einschmuggeln entdeckt ist und sie »so« gestraft werden soll, und wie sie gerade klopfen will, da klirrt der Riegel wieder, und herein schiebt sich in einer ekelhaften Montur ihr Hans, sehr grau geworden, Schatten unter den Augen, die Nase spitz – aber das spitzbübische Lächeln, das ist ganz der alte Hans!

Der Wachtmeister hebt drohend den Finger. »Nun macht aber keine Dummheiten, Kinderchen!« Aber er sieht dabei Sophie so wohlwollend schmunzelnd an, als habe er selbst nichts dagegen, mit ihr Dummheiten zu machen.

Dann klirrt wieder der Riegel, und schon ist sie in den Armen von Hans. Es ist wie ein Sturm, ein Orkan. Es vergeht ihr Hören und Sehen, in den Ohren saust es, und vor den Augen verschwimmt es. – Oh, das nahe, gute, liebe Gesicht –! Der vertraute Geruch! Der Geschmack auf den Lippen! Seufzer und leiser Schrei, ein aufflatterndes Lachen, das schon erstickt, ein paar Worte … ach, nur dies: »Oh, du –! Ach, du –! Oh, selig –!« Kaum haben sie Zeit, ein paar Worte miteinander zu reden:

»Was ich mich gesehnt habe!«

»Ich komme raus, auf Erntekommando! Da haue ich ab!«

»Ach, du – wenn du zu uns kämst!«

»Wohin?«

»Nach Neulohe! Ich bin bei den Eltern. Vater sagt, wir brauchen ein Erntekommando.«

»Mit dem nächsten komme ich bestimmt raus. Kannst du nicht ein bißchen Druck bei euch dahinter machen?«

»Vielleicht. Will mal sehen. Gott, Hans …«

»Das hat gutgetan! Ein halbes Jahr …«

 

Langsam, zufrieden, glücklich geht Sophie über das bucklige Pflaster des Städtchens Meienburg. Ihr Rad läßt sie ruhig erst mal in der kleinen Kneipe stehen. Sie geht in das beste Hotel von Meienburg, Mittag zu essen, in den »Prinzen von Preußen«. Dort essen die Herren Großagrarier; als Kind hat sie oft davorgestanden und das schwarze Wappenschild mit den vergoldeten Zieraten bestaunt. Nun geht sie erwachsen durch das Lokal, sie setzt sich draußen auf die Terrasse. Das Hotel ist fast leer, am Sonntag essen die Landwirte zu Haus, am Sonntag gibt ihnen kein landwirtschaftlicher Verein, kein Viehhandel den Vorwand, ihren Familien auszureißen.

Langsam, genußsüchtig ißt Sophie. Sie ißt alles auf, was sie bekommt. Sie trinkt dazu eine halbe Flasche Rheinwein. Jetzt hat es wieder einen Sinn, sich gut zu nähren – vielleicht kommt Hans nach Neulohe. Es muß klappen! Zu dem Kaffee läßt sie sich eine große Schale Kognak bringen, langsam raucht sie Zigarette um Zigarette. Von dem Flüßchen, das unten an der Terrasse vorüberfließt, klingt das trocken hölzerne Geräusch der Ruder in ihren Dollen herüber. Man sieht die Rudernden nicht, aber in der Mittagshitze hört man deutlich ihre Stimmen.

»Mach ein bißchen rascher, Erna! Wir wollen doch noch baden …«, klingt es jetzt herüber.

Plötzlich weiß Sophie, daß auch sie baden möchte, baden und in der Sonne liegen, sich braten lassen. Sie möchte heute ihrem Körper nur Gutes tun. Aber nicht hier, hier wimmelt es sicher von Kerlen, das ist kein Baden! Der Affe vom Nachbartisch glotzt sich schon seit einer halben Stunde die Augen aus dem Kopf: daß so ein Mann nie kapiert, daß man nicht gerade auf ihn gewartet hat.

Sophie denkt daran, daß sie keinen Badeanzug mithat. Nicht einmal daheim einen im Koffer besitzt – aber in Meienburg kann ein Badeanzug auch am Sonntag kein Problem sein. Sie zahlt, steht auf und stößt im Hinausgehen dem glotzenden Herrn versehentlich die Kreissäge vom Kopf, in die Käseschüssel hinein. »Entschuldigen Sie tausendmal!« flötet sie hold den langsam rot anlaufenden Herrn an und enteilt.

Natürlich liegt das kleine Handarbeitsgeschäft noch da, wo es vor fünf Jahren lag, wo es vor zehn Jahren lag, wo es vermutlich seit der Erbauung von Meienburg liegt, wo das Handarbeitsgeschäft von Fräulein Otti Kujahn ewig liegen wird: in der kleinen Bergstraße, schräg gegenüber der Konditorei Köller (Café Knutsch). Die Ladentür probiert Sophie gar nicht erst: in so etwas sind die Kleinstädter korrekt, an einem Sonntagnachmittag ist die Ladentür verschlossen.

Aber hintenherum macht es dann auch nicht die geringsten Schwierigkeiten. Das kleine bucklige Fräulein Kujahn, mit demselben eisgrauen Haar, demselben schmachtenden Taubenblick wie vor zehn Jahren, ist sehr erfreut, sie führt Badeanzüge, sie ist auch bereit, sie an einem Sonntagnachmittag zu verkaufen.

Es sind keine modernen Badeanzüge, es sind nicht diese Wassergewänder, die bei jeder Bewegung eine andere Hautpartie aufleuchten lassen, die nur aus Ausschnitten zu bestehen scheinen, Sophie stellt es mit leisem Bedauern fest. Es sind Anzüge, die den Körper anziehen, bekleiden, nicht entkleiden. Aber vielleicht ist es gerade recht so, Sophie hat nicht die Absicht, den heranwachsenden Lümmeln Neulohes ein Schauspiel zu bieten. Sie kennt die Gewohnheiten dieser Herrchen, an freien Nachmittagen alle Bademöglichkeiten zu belauern, um einen Blick auf die Mädchen des Dorfes zu gewinnen. Sophie wählt also einen vollkommen dezenten schwarzen Anzug mit weißen Biesen und einem Minimum an Ausschnitt. Eine Badekappe kauft sie auch.

Der Preis, den Otti Kujahn für diese beiden Dinge fordert, nach langem Zögern fordert (Ja, was soll ich nun für die Sachen nehmen? Mich haben sie noch nicht drei Mark gekostet), entspricht etwa dem Porto für einen Stadtbrief. Sophie ist nun doch der Ansicht, daß das Handarbeitsgeschäft Kujahn nicht ewig bestehen wird. Bei diesen Preisen wird Fräulein Kujahn die Inflation nicht aushalten, sondern bald ausverkauft und verhungert sein.

Das Rad singt leise, sachte knirscht die Kette, in der Nachmittagsstille stehen die Wälder wie schlafend, die Vögel sind still, von den Schuhspitzen fegt das streifende Heidekraut den Staub. In Sophie ist es still, wie es im Walde still ist, etwas wie Glück erfüllt sie, eine lange nicht mehr gefühlte Ruhe. Die Sonne rückt nicht, der Tag schreitet nicht weiter – das Glück bleibt.

Tief drinnen im Walde liegen die Krebsteiche, eine Kette von kleinen Tümpeln, verschilft, morastig, nur in einem größeren, seeartigen ist zu baden. Einen Augenblick liegt Sophie still in der Sonne. Aber es leidet sie dann nicht, sie muß hinein ins Wasser, seine Kühle fühlen, seine Frische erfahren.

Langsam steigt sie hinein. Sachte fällt der feinsandige Grund ab, kühl und frisch, wie nichts auf dieser Erde kühl und frisch ist, steigt das Wasser an ihren Gliedern hoch. Einmal schaudert sie, als die Kühle ihren Bauch erreicht, aber auch dieser Schauder ist schön. Und er ist gleich vorbei, sie kommt tiefer, sie legt sich vornüber, sie kriecht in sich zusammen – und in einem langen Schwimmstoß sich streckend, gleitet sie ganz hinein in die Kühle, wird eins mit ihr, kühl wie sie!

Nun treibt sie, still auf dem Rücken liegend, leise nur fächeln die Hände, das Gleichgewicht zu erhalten. Eingebettet in das eine Element, Teil von ihm geworden, fühlt sie bei geschlossenen Augen auf der kleinen Fläche Gesicht das andere Element, das Feuer, einen himmlischen Gruß. Die sanfte Wärme der Sonne durchdringt sie, diese Wärme, die nichts Ausdörrendes hat wie die künstlichen Feuer der Menschen, liegt auf ihrem Gesicht. Ein Windstoß scheint sie abzuheben, fortzuwehen. Aber schon ist sie wieder da, dringt in sie ein, wie etwas Nahrhaftes, ein göttlicher Trank. Ja, diese sanfte Wärme hat etwas vom Leben, vom wachsenden Leben, vom ewigen Leben – sie spendet Glück!

Aber das Glück, das Sophie Kowalewski jetzt empfindet, hat nichts gemein mit der Kinderfreude, mit dem Lebensglück, an das sie sich heute früh erinnert hatte. Selig lachend, unwissend singend war das Kind durch die Wälder getanzt, die Wonne des Daseins, des Geborenseins hatte es erfaßt, wie sie einen Vogel erfaßt oder ein Kalb auf der Weide, das immer höher springen möchte. Das Glück, das Sophie jetzt empfand, hatte viel Erfahrungen zur Voraussetzung, es war ganz und gar kein Kinderglück. Nach Monaten des Sehnens, des Quälens, des Vergiftens war ihr Leib zum erstenmal wieder in Einklang mit sich selbst. Sie spürte ihn nicht mehr, er hatte keine Forderung an sie, er quälte die Seele nicht mehr. Wie er still treibend im Wasser ruhte, so ruhte er auch still in dem ewigen See der Wünsche, des Sehnens, des Begehrens.

Das selige unbewußte Kinderglück ist nie wieder zu erreichen. Die Pforte fiel zu, mit der Unschuld ist es vorbei – aber viele Glücksmöglichkeiten hat das Leben! Sie hatte gemeint, es sei in der Zelle gewesen, bei ihm, in seinem Arm, sein Gesicht ferne und doch nah über ihr … Aber nun war es hier im Wasser, Welle auf Welle von Wärme, Welle auf Welle von Glück …

Träumend steigt sie aus dem Wasser, träumend legt sie sich auf den Sand, einen Arm aufgestützt, das Kinn in der Hand, sieht sie nahe in das Gewirr der Gräser. Sie legen sich ineinander, kleine Höhlen gehen hinein – aber sie sieht nichts. Das wirkliche Glück hat keinen Namen, kein Wort, kein Bild. Es ist ein sanftes Schweben im Irgendwo, keine Melodie auf das Lied: Ich bin da! – sondern etwas wie eine halb schwermütige Klage zu den Worten: Ich bin ich. Denn wir wissen dunkel, daß wir alt werden müssen und häßlich und zu sterben haben.

Als sie Schritte hört, sieht Sophie kaum auf. Sie zieht nur träge den Badeanzug hoch über die nackte Brust, sie sagt halblaut, ganz abwesend: »Guten Tag.« Zu einer andern Stunde hätte sie den Zufall begrüßt, der sie hier mit den beiden neuen Herren vom Gut zusammenführte. Aber jetzt sind sie ihr gleichgültig. Mit ein paar halben Worten gibt sie Auskunft: Ja, dies ist die einzige Badestelle, sonst ist alles verschilft. Nein, die Herren stören sie nicht. Nein, das Wasser ist ungefährlich, keine Wasserpflanzen … Schon versinkt sie wieder in ihr Schweigen, weiß kaum noch, daß die beiden da sind. Sie sieht wieder in die Grashöhle hinein, die doch gleich magisch zergeht, so daß sie nichts mehr sieht. Die Sonne wärmt herrlich. Sie schiebt den Badeanzug wieder von der Brust fort, die Stimmen der beiden klingen verloren her aus dem Wasser – oh, selig!

Sophie Kowalewski hätte mit aller List nicht klüger handeln können als jetzt, da sie ganz gedankenlos die beiden Herren Studmann und Pagel links liegenließ. Es ist nicht zu leugnen, diese beiden Herren hatten während der Bahnfahrt keinen allzu günstigen Eindruck von der Sophie bekommen, der leicht zu begeisternde Rittmeister mochte dies hilfreiche Prachtmädel über den grünen Klee loben. Pagel wie Studmann kannten bis zum Überdruß diese gezierte Sprechweise der kleineren Lebemädchen, die die große Dame spielen wollen. Sie ekelten sich vor dieser zugleich eingetrockneten und aufgedunsenen Gesichtshaut, die immer nach Puder roch; sie fuhren nicht aus dem mondänen Berlin in den Frieden Neulohescher Felder, um sich ein solches Mitbringsel aufzuladen. Sie waren sehr höflich gewesen und sehr reserviert. Sie dachten etwas anders als der Rittmeister über den Abstand, den man von seinen Leuten wahren muß. Wenn sie Sophie ansahen, schoß ihnen nicht der Gedanke durch den Kopf: Schließlich ist sie bloß die Tochter vom Leutevogt – aber sie wollten nicht. Sie hatten nichts gegen das Mädchen, aber sie hatten sehr viel gegen einen nach Neulohe verpflanzten Berliner Nuttenbetrieb!

Als darum Sophie diese Badegelegenheit so gar nicht ausnützte, die doch jeder Erfahrenen soviel Anreiz und Möglichkeiten geboten hätte, als sie so gar nicht auf die doch unter besonderen Umständen geschlossene Bekanntschaft pochte und nicht gesonnen schien, irgendwelche Folgerungen daraus zu ziehen, da sagte Studmann ganz vergnügt zu Pagel, als sie in das Wasser gingen: »Eigentlich sieht das Mädel ganz nett aus.«

»Ja, komisch«, antwortete Pagel nachdenklich. »Mir ist sie neulich auch ganz anders vorgekommen: mehr à la Tauentzien.«

»Haben Sie gesehen, Pagel?« fragte Studmann dann nach einer Weile. »Vollkommen dezenter Badeanzug.«

»Ja«, stimmte Pagel zu. »Und nicht ein süßer Blick. Ich glaube, ich werde Frauen nie verstehen.«

Mit dieser leichten Anspielung auf seinen jüngst erlittenen Schiffbruch hatte Pagel sich in die Fluten gestürzt, und nun waren ihnen fünf oder zehn Minuten oder gar eine Viertelstunde mit Schwimmen und Tauchen, mit stillem Treibenlassen und gesprächigem Seite-an-Seite-Stehen vergangen, Minuten, in denen sie sich beide stärker, frischer, bewußter fühlten als in den vergangenen Monaten und Jahren.

Bis sie ein Lärm vom Ufer her aufhorchen ließ: die hell scheltende Stimme einer Frau, das unterdrückte Murmeln eines Mannes.

»Das ist doch die Sophie!« meinte Studmann aufhorchend.

»Ach, lassen Sie sie!« rief Pagel ärgerlich. »Hier im Wasser ist es so schön. Irgendeine Auseinandersetzung mit einem ländlichen Liebhaber vermutlich. Muß Liebe schön sein …!«

Und er grinste verächtlich.

»Nein, nein!« sagte das Kindermädchen Studmann, das immer hilfreich eingreifen mußte, wo etwas schiefzugehen drohte. »Sie hat mir doch eben einen sehr netten Eindruck gemacht …«

Und er schwamm rasch auf das Ufer zu. Widerwillig folgte Pagel.

Doch da rief Sophie schon: »Meine Herren! Hierher – er will Ihre Kleider wegnehmen!«

»Sei bloß still, Fieken!« flüsterte der Förster und versuchte, mit seiner Beute zu entkommen. »Dir passiert doch gar nichts. Ich will doch nur die Kleider von den Herren –.«

»Herr von Studmann! Herr Pagel! Machen Sie rasch –!« rief Sophie um so lauter.

»Was ist denn hier los?!« fragte von Studmann höchst erstaunt, und auch Pagel sah verblüffter aus, als einem intelligenten Gesichtsausdruck bekömmlich ist.

In schilfleinener, grüner Montur stand der ihnen flüchtig bekannte Förster Kniebusch auf der Wiese, ein ehrwürdiger Tapergreis, die Flinte über der Schulter, unter dem Arm aber ein Bündel aus den Sachen der beiden Herren. Ihm gegenüber Sophie Kowalewski, reizend anzusehen in ihrem streitbaren Zorn, einer Artemis vergleichbar. Mit der einen Hand hielt sie den Badeanzug vor die Brust, mit der andern ein Hosenbein aus des Försters Sachenpaket – und von Studmann erkannte, daß es seine Hosen waren.

»Was soll denn das vorstellen?« fragte er nochmals, höchst erstaunt.

Der Förster war rot wie eine Tomate, und er wurde immer noch röter. Vielleicht wollte er wirklich etwas sagen, es blubberte aber bloß in den Tiefen seines Bartes. Doch die Kleider hielt er weiter fest, und weiter zerrte Sophie Kowalewski an den Hosenbeinen.

Und sie redete, und was sie redete, hatte jetzt bestimmt nichts geziert Damenhaftes.

»Ich lieg doch da und denke an gar nichts, und ich hör was rascheln, und ich denk, es ist ein Igel oder ein Fuchs, und denk mir nichts, und dann sehe ich hin, und ich denk doch, mich laust der Affe –! Da kriecht doch der Kniebusch hinterm Schilf nach den Kleidern von den Herren und steckt sie sich unter den Arm. Na, ich hoch und sag: ›Kniebusch, was machen Sie, das sind doch die Kleider von den Herren!‹ Aber er kein Wort, Finger auf den Mund, und will sachte unter die Bäume … Na, und ich fasse zu, kriege gerade noch das Hosenbein zu fassen. – Wollen Sie jetzt endlich die Hosen loslassen! Das sind nicht Ihre Hosen!« schreit sie zornig den Förster an.

»Sie scheinen zu unserer Retterin bestimmt, Fräulein Sophie«, sagt Studmann lächelnd. »Schon wieder helfen Sie uns aus einer Verlegenheit. Wir danken auch schön. – Aber ich glaube, jetzt können Sie die Hosen loslassen. Herr Kniebusch wird doch nicht vor unsern Augen damit fortlaufen.« Schärfer: »Darf ich Sie fragen, Herr Kniebusch, was dies zu bedeuten hat –? Falls Sie es vergessen haben sollten, mein Name ist Studmann, von Studmann, und dieser Herr heißt Pagel – wir sind bei Herrn Rittmeister von Prackwitz tätig.«

»Das geht mich alles nichts an«, murrt Kniebusch und sieht auf die Kleider, die Pagel ihm ohne weiteres unter dem Arm vorgezogen hat. »Hier ist das Baden verboten, und wenn hier jemand badet, so werden ihm die Kleider fortgenommen!«

»Seit wann denn?!« ruft Sophie Kowalewski zornig. »Das ist ja das Neueste!«

»Halt den Mund, Fieken!« sagt der Förster grob. »Das ist eine Anordnung von Herrn Geheimrat, die besteht schon lange.«

»Wenn ich den Mund halten soll, rede ich grade!« ruft die kampflustige Sophie. »Und außerdem lügen Sie. Sie haben mir extra gesagt, mir passiert nichts, Sie wollten nur die Kleider von den Herren!«

»Das ist nicht wahr!« widerspricht der Förster hastig. »So hatte ich es nicht gemeint.«

»Doch haben Sie es so gemeint! ›Ich will bloß die Kleider von den Herren‹, haben Sie gesagt!«

»Nein!«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch!«

»Nehmen wir Platz!« schlägt von Studmann vor. »Ja, bitte auch Sie, Herr Kniebusch. Pagel, reichen Sie mir mal die Zigaretten aus meinem Jackett. – Sie sollen sich setzen, Herr Kniebusch! – So. – Zigarette gefällig, Fräulein Sophie? Na, natürlich, weiß ich doch, daß Sie rauchen. So streng wie der Herr Rittmeister im Abteil sind wir nicht, wir sind die junge Generation. – Also, Sie hatten den Auftrag, speziell unsere Sachen zu beschlagnahmen, Herr Kniebusch?«

»Hatte ich nicht! Ich beschlagnahme immer die Sachen von denen, die hier baden!« sagte der Förster trotzig.

»Nicht zum Beispiel die von Fräulein Sophie. – Nun, lassen wir das. Wie oft haben Sie denn hier schon Kleider beschlagnahmt, Herr Förster Kniebusch?«

»Das brauche ich Ihnen gar nicht zu sagen. Ich bin bei Herrn Geheimrat angestellt, nicht beim Rittmeister«, sagte der Förster trotzig. Er schielte nach den Sachen, nach dem Waldrand – und fühlte sich überhaupt so, als säße er leise bratend in der Hölle. Die Unterhitze gab der Herr von Studmann, die Oberhitze schlug vom Geheimrat herüber.

»Ich frage nur darum«, sagte Herr von Studmann, »weil Sie doch schon viel Unannehmlichkeiten mit diesen Beschlagnahmen gehabt haben müssen?«

Trotzig schwieg der Förster.

»Oder sind Sie Hilfspolizeibeamter?«

Der Förster schwieg.

»Aber vielleicht sind Sie vorbestraft? Dann würde es Ihnen nicht soviel ausmachen, ohne jeden Rechtsgrund Kleider zu beschlagnahmen.«

Sophie lachte hell, Pagel räusperte sich dröhnend, dem Förster aber stieg die Röte bis in die Augen, die klein und trübe wurden. Doch er schwieg.

»Wir sind Ihnen namentlich bekannt. Sie konnten uns wegen verbotenen Badens anzeigen. Zweifel, daß wir eine etwa verhängte Strafe bezahlt hätten, bestanden nicht – warum also Beschlagnahme?«

Die drei sahen stumm auf den einen. Der Förster rutschte hin und her, er wollte etwas sagen. Dann sah er wieder nach dem nahen Waldrand. Er stand halb auf, aber zwischen ihm und der rettenden Deckung war das Bein des jungen Pagel – der Förster setzte sich wieder.

»Herr Förster Kniebusch«, sagte Herr von Studmann, immer in dem gleichen freundlichen, geduldigen Ton, als erkläre er einem trotzigen Kinde etwas, »wollen Sie nicht offen mit uns reden? Sehen Sie, wenn Sie uns hier nicht Bescheid sagen, werden wir alle zu Herrn Geheimrat von Teschow gehen. Ich werde ihm die Situation auseinandersetzen, in der wir Sie hier abgefaßt haben, und wir werden dann ja doch hören, um was es hier ging.«

Von Studmann schwieg, der Förster hatte den Kopf gesenkt, man sah sein Gesicht nicht.

»Wenn Sie uns hier aber die Wahrheit sagen, so verspreche ich Ihnen ehrenwörtlich, daß die Sache ganz unter uns bleibt. Ich glaube, ich kann auch für das Schweigen von Fräulein Sophie einstehen, nicht wahr –?« Sophie nickte. »Ja, wir wollen Ihnen gerne helfen, irgendwie mit Anstand aus dieser Situation herauszukommen …«

Der Förster hob den Kopf, er stand auf. In seinen Augen waren Tränen, und während er nun sprach, lösten sich diese Tränen und rannen in den Bart hinunter. Andere folgten, und sie liefen klar und blank aus den Augen des alten Mannes, der dabei immer weiter sprach, ohne Schluchzen: Alterstränen, Greisentränen, die von selbst liefen.

»Ja, meine Herren«, sagte der Förster Kniebusch, »aber mir kann keiner helfen. Ich verstehe ja, Sie sind ganz freundlich zu mir, und ich nehme es auch mit Dank an, das mit dem Ehrenwort und dem Schweigen. Aber ich bin doch ein verlorener Mann. Ich bin eben zu alt – und wenn man zu alt ist, glückt einem nichts mehr. Nichts hat man mehr – alles, was einen mal gefreut hat, ist weg … Ich hab da nun den schlimmsten Wilddieb, den Bäumer, gefangen, und ich will jetzt die Wahrheit sagen: ich habe nichts dazu getan, er ist einfach vom Rad auf einen Stein geflogen und gleich bewußtlos gewesen. Alles, was ich vom Kampf erzählt habe, ist nur gewesen, um mich rauszustreichen … Ich wollte recht schlau sein, aber ein alter Mann soll nicht schlau sein wollen, er ist nur noch alt …«

Sie saßen ganz still, und was die jungen Leute, die Sophie und den Wolfgang, anging, so sahen sie vor sich hin. Denn sie schämten sich vor dem weinenden alten Mann, der so schamlos sein Inneres nach außen kehrte. Herr von Studmann aber hatte seine braunen Augen aufmerksam auf den Förster Kniebusch gerichtet, und ab und zu nickte er mit dem Kopfe.

»Ja, meine Herren«, fuhr der Förster Kniebusch fort, »und nun wollen sie mir ja auf dem Gericht einen Strick daraus drehen, weil der Bäumer hohes Fieber hat, und der einzige, der mich verteidigen kann, ist der Herr Geheimrat. Und wenn ich nicht tu, was er will, so verteidigt er mich nicht, sondern nimmt mir noch mein Brot, und was soll dann aus mir und meiner kranken Frau werden?«

Der Förster stand, als habe er seine Rede ganz vergessen, aber unter dem Blick von Herrn von Studmann besann er sich und fuhr fort: »Ja, und heute nach dem Essen ruft er mich an und sagt mir, daß die Herren zum Baden gegangen sind und ich soll ihnen unter allen Umständen die Kleider fortnehmen, sonst hilft er mir nicht. Aber nun hat das Fieken dagesessen, und es ist nichts daraus geworden. – Warum er aber solchen Zorn auf die Herren hat, das weiß ich nicht, davon hat er keinen Ton gesagt.«

Er schwieg wieder und sah trostlos vor sich hin.

Herr von Studmann aber fragte: »Nun, Herr Kniebusch, gibt es denn hier nicht noch andere Teiche? Wir müssen ja nicht hierhergegangen sein.«

Der Förster dachte nach. Er belebte sich, ein Hoffnungsschimmer glimmte auf. »Nach dieser Seite ist es schwer«, sagte er nachdenkend. »Hier ist sonst alles Wald und Sand.«

»Birnbaum«, sagte Sophie.

»Ja, nach den Birnbaumschen Teichen könnten die Herren gegangen sein. Aber dann dürften die Herren nicht vor sieben nach Haus kommen, weil es doch so weit ist. Ob Sie so lange im Walde sitzen mögen –?«

»O doch, das tun wir schon einmal«, sagte Studmann freundlich. »Die Knechte werden ja auch einmal ohne uns füttern.«

»Dann danke ich den Herren auch schön«, sagte der Förster, und seine Tränen waren versiegt. »Es ist sehr freundlich von Ihnen zu einem alten Mann. Viel wird es aber doch nicht helfen. Ich müßte einmal einen rechten Erfolg nach Haus bringen, aber für einen alten Mann ist das wohl zuviel verlangt. Kein junger Mensch kann wissen, wie einem alten zumute ist.«

Er stand noch einen Augenblick in Gedanken, besann sich und sagte noch einmal: »Aber so ist es durch die Güte der Herren doch kein Mißerfolg geworden.«

Er lüftete den Hut und ging.

Studmann sah ihm einen Augenblick nach, dann rief er: »Warten Sie, Herr Kniebusch, ich begleite Sie noch ein Stückchen!«

Und er lief ihm nach, barfuß, im Badeanzug, ohne jede Schonung für seine recht weichen Füße. Aber was ein rechtes Kindermädchen ist, das denkt nicht an die Schmerzen in den eigenen Füßen, wenn es den Schmerz in anderer Leute Herz sieht, der des Trostes bedarf.

So blieben Sophie und der junge Pagel allein zurück, und sie unterhielten sich recht angenehm miteinander, zuerst über den Förster Kniebusch und dann von der Ernte. Und weil die Sophie an diesem Nachmittag ausgeruht und zufrieden und glücklich war, so kam sie gar nicht auf den Gedanken, dem jungen Pagel damenhaft zu imponieren oder ihm gar süße Augen zu machen. Wolfgang aber mußte sich immer wieder wundern, wie falsch er dieses nette, vernünftige Mädel in der Bahn beurteilt hatte, und er war jetzt geneigt, seinen Berliner Augen an dieser falschen Einschätzung schuld zu geben.

Was aber die Ernte anging, so hatte der Vater Kowalewski gesagt, sie seien in Neulohe mindestens drei Wochen zurück, und sie würden es nie schaffen, wenn nicht ein ordentlicher Schwung kräftiger Leute käme. Und kein Mensch im Dorf verstünde, warum sich der Rittmeister nicht ein Kommando aus Meienburg kommen ließe. Das seien die fleißigsten und die fügsamsten Leute, wenn sie nur ordentlich zu essen und zu rauchen bekämen. Aber der Rittmeister müsse sich daranhalten, alle Güter hier in der Gegend hätten schon ihre Kommandos, und das Zuchthaus sei halb leer. Sagte der Vater, denn sie wisse ja nichts davon, sie sei ja auch grade erst hier in die Gegend gekommen. Aber es tue ihr leid um die Ernte …

Pagel fand das alles vernünftig gesprochen und fand es tüchtig von dem Mädchen, daß es sich Gedanken um die Neuloher Ernte machte, die eine Berliner Zofe eigentlich doch gar nichts anging. Er nahm sich vor, heute abend mit Studmann die Sache zu bereden. Weil aber Studmann noch immer nicht zurückkam, beschlossen sie, erst einmal wieder ins Wasser zu gehen.

Da sah Pagel, daß die Sophie ausgezeichnet schwamm und daß er sich Mühe geben mußte, es ihr gleichzutun. Er aber konnte ihr etwas Neues zeigen, einen neuen Schwimmstil, der damals grade in Berlin sich auszubreiten anfing und den man »Crawl« nannte. Einem jungen Mann tut es immer gut, wenn er etwas ein bißchen besser kann als ein junges Mädchen; und wenn er diesem jungen Mädchen etwas beibringen kann, so findet er, daß dieses Mädchen ein nettes, äußerst sympathisches Mädchen ist.

Und Sophie war mit ihrem uninteressierten Sportlehrer, den sie sonst einfach beleidigend gefunden hätte, auch sehr zufrieden, und so waren sie beide bereits die allerbesten Freunde, als endlich ein hinkender, nachdenklicher Studmann aus dem Walde auftauchte.

»Nun«, sagte er mit einem Blick auf die beiden, setzte sich ins Gras und brannte sich eine Zigarette an, »nun, es ist eine seltsame Welt, Pagel. Die Erde schwitzt statt Korn Angst, und ihre Angst steckt alles an. Ein Geschlecht voller Angst, Pagel. Wie ich schon heute nachmittag annahm, Pagel, der Friede der Felder ist eine Illusion, und irgend jemand ruht nicht, uns das möglichst schnell begreiflich zu machen …«

»Der alte Knacker«, sagte Sophie sehr verächtlich, »hat wohl wieder geschwatzt und geklatscht –? Bei Ihnen wirkt es vielleicht noch – wir hören schon lange nicht mehr nach seinem Gebarme hin.«

»Nein, Fräulein Sophie«, entgegnete von Studmann. »Der alte Herr hat leider nicht geschwatzt. Ich wollte, er wäre beredter gewesen, denn es scheinen hier seltsame Dinge zu geschehen. Nun, ich denke, ich werde mit der Zeit schon dahinterkommen. Aber, Pagel, um eines bitte ich Sie: Wenn Sie den Alten sehen, seien Sie immer ein bißchen freundlich zu ihm. Und wenn Sie ihm in was helfen können, dann tun Sie es. Er ist ja nur eine alte, weichliche Bangbüx, darin hat Fräulein Sophie recht, aber wenn ein Schiff SOS funkt, dann hilft man eben und fragt nicht erst lange nach der Ladung.«

»Gottedoch!« spottete Sophie. »Das hätte ich nie geglaubt, daß der Herr Förster Kniebusch noch einmal zwei solche Helfer kriegen würde.« – Denn Pagel hatte ganz einverstanden zu Studmanns Worten genickt. – »Verdient hat der es bestimmt nicht, solch heimlicher Zwischenträger und Ohrenbläser, wie er ist.«

»Ja«, sagte Studmann, »wer hat denn eigentlich was verdient hier –? Ich sicher nicht, und Pagel wahrscheinlich auch nicht, und Sie, Fräulein Sophie, ein so tüchtiges und anständiges Mädchen, wie Sie sind, eine Extrabelohnung haben Sie doch wahrscheinlich auch nicht verdient.«

Hier wurde Sophie rot und fühlte eine Spitze an der Angel, wo keine war.

»Nun, lassen wir das. Ich hab Sie eigentlich bitten wollen, Fräulein Sophie, ob sie uns nicht einmal einen Wink geben möchten wegen der Holzdiebe. – Er macht sich nämlich soviel Sorgen wegen der Holzdiebe, er sagt, sie gehen kolonnenweise, und er als einzelner ist machtlos gegen sie.«

»Was gehen denn mich die Holzdiebe an?!« rief Sophie empört. »Ich bin doch kein Spion!«

»Ich hab gedacht, Fräulein Sophie«, sagte Studmann, als hätte er nichts gehört, »Sie merken im Dorf eher einmal, wenn so eine Kolonne losgeht, als wir, die wir auf dem Hof wohnen.«

»Ich bin kein Spion«, rief Sophie noch einmal hitzig. »Ich schnüffle die armen Leute nicht aus.«

»Ein Diebstahl ist ein Diebstahl«, sagte Studmann hartnäckig. »Spion klingt häßlich, aber wer einen Diebstahl anzeigt, ist kein Verräter und kein Spion. Ich denke«, fuhr er überredend fort, »Sie interessieren sich für den Hof und sein Gedeihen, Sie nehmen Anteil daran. Ihr Vater ist doch auch in solcher Zwischenstellung zwischen den Leuten. Er muß auch manchmal melden, wer schlecht gearbeitet hat, ohne darum Angeber zu heißen. Schließlich haben Sie ganz bequem neben dem Rittmeister im Zug gesessen und sitzen jetzt hier gut neben uns – man muß doch wissen, zu wem man gehört …«

Sophie hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah einmal den Herrn von Studmann und einmal den Herrn Pagel nachdenklich an. Aber es war dabei gar nicht sicher, daß sie auf die listig von Studmann gesprochenen Worte gehört hatte, sie schien über etwas nachzusinnen. Schließlich sagte sie: »Nun gut, ich will mal sehen. Aber es ist nicht sicher, daß ich auch wirklich etwas erfahre, ich rechne für die Leute auch nicht mehr mit.«

»Schön, schön«, sagte Studmann und stand auf, »wenn Sie nur an uns denken wollen, das ist schon was. Das andere findet sich dann schon. – Und wenn Sie nun nichts dagegen haben, gehen wir alle drei noch einmal ins Wasser. Meine Füße sind ziemlich kaputt, ich möchte sie vor dem Heimweg noch ein bißchen kühlen. – Dann dürfte unsere Zeit herum sein, und wir können ohne Tadel nach Haus gehen. Dabei müssen Sie uns noch von den Birnbaumer Teichen erzählen, Fräulein Sophie. Ich trau dem alten Herrn zu, daß er seinem Förster nicht so ohne weiteres glaubt, sondern uns ein bißchen auf den Zahn fühlt. – Wenn er nicht gar hier noch auftaucht …«

Und Studmann warf einen argwöhnischen Blick auf den Waldrand.

Wolf unter Wölfen
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