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Es ist nun Ende November, fast Dezember geworden; mit eisigen Stürmen, mit nassen, häßlichen Schneefällen geht das Jahr seinem Ende zu. Die letzten Kartoffelbuddler sind geflohen, ein großer Schlag, zehntausend Zentner Kartoffeln und mehr stecken noch in der Erde. Nach dieser Richtung hinaus mag Wolfgang Pagel nicht fahren; eine zornige Scham überkommt ihn, wenn er das Kartoffelkraut über der Erde verfaulen sieht und daran denkt, daß auch die Knollen in der Erde verfaulen – indes Menschen in den Städten vor Hunger umkommen.

Ich habe vieles falsch gemacht, denkt er. Aber wie zum Teufel hätte ich es wissen sollen?! Keiner hat es mir gesagt, und ich habe jeden Tag so vieles zu erledigen gehabt, daß ich nicht über den Tag hinausdenken konnte. Gleich vom Felde hätte ich die Kartoffeln zur Bahn fahren sollen, dann hätten wir jetzt das bißchen Geld, das uns immer fehlt. Nun lagern sie in den Mieten, von Frost und Dieben bedroht. – Erst im Frühjahr werden sie zu verkaufen sein, und wer wird dann hier wirtschaften?

Die Dreschmaschine draußen singt und brummt – aber sie ist zu laut, sie ist zu auffallend. Da ist ein Mann in Frankfurt, er hat einmal eine große Summe Inflationsgeld hergegeben, es wurde dafür ein Auto gekauft – nun will der Mann seine Ware haben. Die Zeiten beginnen sich zu ändern, in Berlin sollen sie nun wirklich die Notenpresse stillgelegt haben, es heißt, die Mark wird nicht mehr tiefer fallen; als für einen amerikanischen Dollar viertausendzweihundert Milliarden Mark gegeben wurden, hörte die Mark auf zu fallen. Vielleicht bleibt sie auf diesem Stand wirklich stehen – schließlich ist auch das egal.

Die Dreschmaschine brummt und singt – manchmal schafft sie für den Mann in Frankfurt Roggen, manchmal muß der leer ausgehen, weil ein anderer rascher ist. Der Herr Geheimrat von Teschow hat den schönen Ort Nizza an der Azurküste verlassen, er wohnt nun in der angenehmen Stadt Dresden, genauer, auf dem »Weißen Hirsch« in Loschwitz. Vielleicht will er abnehmen, oder seine Galle plagt ihn, wenn er an Neulohe denkt. Oder die alte gnädige Frau hat es mit den Nerven …

Jedenfalls besuchen Sendboten von ihm häufig Neulohe. Es sind Gerichtsvollzieher und Obergerichtsvollzieher, auch ein fröhlicher Rechtsanwalt mit roten Schmissen und sehr dünnem blondem Haar ist für Wolfgang eine bekannte Figur geworden. Der Vater aus Dresden schnappt zu, er hat Witterung und einen guten Appetit. Dazu hat er ein vollstreckbares Urteil, oh, es ist alles in bester Ordnung! – Wieder hat er dreihundert Zentner Roggen geschnappt, einen Waggon, den der Mann in Frankfurt haben sollte …

Pagel sitzt an seiner Schreibmaschine, es ist erst halb neun Uhr morgens, er tippt einen Brief, den der Postbote unbedingt noch mitnehmen muß.

»Sehr geehrter Herr Soundso, zu meinem Bedauern muß ich Ihnen mitteilen, daß der Ihnen bereits avisierte Waggon Roggen (Baden 326485, 15 tons) noch vor seinem Abrollen auf der hiesigen Verladestation von dem Ihnen bekannten andern Gläubiger des Herrn von Prackwitz beschlagnahmt wurde. Ich bitte Sie noch um einige Tage Geduld, ich werde eine Ersatzlieferung so schnell wie möglich vornehmen. Mittlerweile bitte ich zu erwägen, ob Sie das für Sie bestimmte Getreide nicht direkt mit Lastzug von der Dreschmaschine abholen können. Ich habe Ihnen ja bereits mündlich ausgeführt, daß es weder an unserm guten Willen zu liefern noch an der Möglichkeit fehlt …«

Aber was sagte die Herrschaft dazu? Was sagen die beiden Leute in der Villa dazu?

Sie sagen gar nichts dazu!

Der Rittmeister spricht überhaupt nicht gern ein Wort, er sitzt am liebsten still neben seiner Frau. Und Frau Eva nickt mit dem Kopf. »Machen Sie das ganz so, wie Sie es für richtig halten, Herr Pagel. Sie haben ja Vollmacht …«

»Aber Ihr Herr Vater …«

»Ach, Papa – er wird es schon nicht so schlimm meinen. Sie sollen sehen, wenn alles ganz verwirrt ist, kommt mein Vater, bringt alles in Ordnung – und strahlt, weil er so klug sein darf. Nicht wahr, Achim, so hat es Papa doch immer gemacht –?«

Der Rittmeister nickt beistimmend mit dem Kopf, er lächelt.

»Aber ich habe kein Geld für die Leutelöhnung!« ruft Pagel verzweifelt.

»Herr Pagel! Verkaufen Sie doch irgend etwas – verkaufen Sie Kühe, verkaufen Sie Pferde! Was brauchen wir jetzt zu Winters Anfang, wo die Arbeit zu Ende ist, Pferde?! Nicht wahr, Achim, im Winter braucht man doch keine Pferde?«

»Nein.« Der Rittmeister ist einverstanden, im Winter braucht man keine Pferde.

»Der Pachtvertrag untersagt den Verkauf des lebenden Inventars. Das lebende und tote Inventar, gnädige Frau, gehört nicht Ihnen, es gehört Herrn Geheimrat.«

»Sind Sie Herr von Studmann geworden? Jetzt reden Sie sogar schon vom Pachtvertrag! – Lieber Herr Pagel, machen Sie uns keine Schwierigkeiten! Dafür haben Sie doch die Vollmacht! Es handelt sich ja jetzt nur noch um ein paar Tage …«

Pagel sieht Frau Eva fragend an.

»Ja«, sagt sie plötzlich eifrig, »ich bin überzeugt, unsere Fahrten werden jetzt Erfolg haben. Der dicke Mann ist wieder aufgetaucht mit seinem steifen Hut … Eine Weile war er fort, wir hatten die Hoffnung fast aufgegeben … Aber jetzt ist er wieder da, er nickt uns zu …«

Pagel geht.

Pagel beschafft Geld und löhnt die Leute. Pagel beschafft kein Geld, und er gibt den Leuten Korn und Kartoffeln, ein Ferkel, Butter, eine Gans …

Pagel sitzt an der Schreibmaschine und tippt:

»Wir haben noch annähernd viertausend Zentner Getreide ungedroschen liegen …«

Ist das nun wahr, oder ist es gelogen? denkt Pagel. Ich weiß es nicht. Ich habe die Getreidebücher seit Wochen nicht mehr geführt, ich komme nicht mehr durch, ich habe jede Übersicht verloren … Er seufzt. Wenn jemand nach mir diese Bude übernimmt, er muß mich für sträflich leichtsinnig halten. Es stimmt ja alles nicht … Wenn der Geheimrat das zu sehen kriegt … Pagel seufzt. Ach, das Leben macht keinen Spaß, es schmeckt mir nicht mehr. Sogar, wenn ich an Petra denke, schmeckt es mir nicht mehr. Wenn ich je wirklich zu ihr kommen sollte, ich bin überzeugt, ich werde heulen, heulen, aus reiner Nervenschwäche … Aber ich kann doch jetzt nicht weglaufen! Ich kann sie doch nicht sitzenlassen! Sie kriegen ja nicht mal mehr den Brennstoff für ihren verdammten Wagen gepumpt!

Er seufzt wieder.

»Jetzt haben Sie dreimal geseufzt, Herr Pagel«, sagt Amanda Backs vom Fenster her, »und es ist erst halb neun Uhr morgens, wie wollen Sie da durch den Tag kommen?«

»Das frage ich mich auch manchmal, Amanda«, antwortet Wolfgang Pagel, dankbar für die Ablenkung. »Aber im allgemeinen sorgt der Tag schon selber dafür, daß man durch ihn kommt, und meistens ist kein Tag so schlimm geworden, wie ich am Morgen gefürchtet, und keiner so gut, wie ich am Morgen gehofft habe …«

Amanda Backs will antworten, sie hat ungeduldig zum Fenster hinausgesehen, sie mag diese weisen Sprüche nicht hören. – Aber nun stößt sie einen Schrei aus, einen Schrei des Schreckens –: »Herr Pagel, sehen Sie doch bloß –!«

Pagel springt an das Fenster und sieht …

Er sieht etwas gekrochen kommen, über die Wiese des geheimrätlichen Parks, ein Menschentier, auf Armen und Beinen kriechend, es ist vorne von einem düsteren, schrecklichen Rot, und es schleppt etwas Langes, Braunes hinter sich nach …

Einen Augenblick steht Pagel erstarrt.

Dann schreit er: »Der Förster! Jetzt haben sie auch noch den Förster erschlagen!« und springt aus der Tür.

Wolf unter Wölfen
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