5

Ja, da kamen sie –!

Dort, wo die Landstraße nach Meienburg-Ostade in Neulohe einmündet, tauchten sie auf, in Viererreihen, an der Seite jeder vierten Reihe ein Wachtmeister – und sie sangen laut, schallend und gefühlvoll das Lied vom schönsten Platz, den ich auf Erden hab, dem Muttergrab.

»Gott, da singen sie auch noch!« stöhnte am Schloßfenster Frau Belinde von Teschow zu ihrer Freundin Jutta. »Nicht genug, daß in meiner anständigen Waschküche das Essen für diese Mörder gekocht wird, soll ich nun auch noch ihr Grölen anhören! Elias, sagen Sie dem Herrn Geheimrat, er möchte doch einmal zu mir kommen. Mörder, die singen – es ist unerhört!«

»Sie kommen! Sie kommen!« riefen auch die Kinder im Dorf, und was nicht auf den Feldern zur Arbeit war, das ließ stehen, was stand, und fallen, was nicht stehen wollte, stellte sich an den Straßenrand und starrte – starrte mit allen Leibesöffnungen.

Die Zuchthausverwaltung hatte sich nicht lumpen lassen. Trotz der schlechten Zeiten hatte sie ihre Leute frisch eingekleidet. Da gab es keine verbrauchten Monturen, bei denen ein Flicken am andern hackt, keine Hose nur bis zur halben Wade für die Langen, keine Jacken zum Ertrinken für die Kurzen – hell und sauber, heil und passend saß ihnen die Tracht, stolz sangen sie jetzt ihr Lied: »Schmucke, schlimme Husaren sein’s wir!«

Die Leute an der Dorfstraße sperrten die Mäuler immer weiter auf. Wo waren denn nun die kahlgeschorenen Köpfe, von denen immer erzählt worden war? Wo waren die Ketten und Handschellen, die sie tragen sollten? Wo war das finstere, düster brütende Schweigen? Wo die bösen, rot unterlaufenen Blicke? Kein Kainsmal, kein Tierkopf, kein Rothaariger –: »Wenn du den Mund lange genug offengehalten hast, machst du ihn doch wieder zu, Mutter?« rief einer, und alle lachten.

Nein, Neulohe hatte zuviel erwartet, Neulohe hatte jedenfalls etwas ganz anderes erwartet. Was da einmarschierte, war eine Schar Männer in allen Altersklassen, große und kleine, dicke und dünne, hübsche, gleichgültige, häßliche – und jetzt waren sie alle in der besten Stimmung, dem öden, toten Zwang der Mauern aus Eisen, Glas und Zement entronnen, waren sie glücklich, die Welt wiedersehen zu können, die ganze freie Welt, nicht nur den kleinen, ihnen auch noch verbotenen Ausschnitt des Zellenfensters. Die frische Luft hatte sie frisch gemacht, die Sonne hatte sie durchwärmt, nicht mehr das ewige graue Einerlei, ein Tag wie der andere – neue Arbeit, ein anderer Speisezettel, Fleisch und Tabak, der Anblick, ach, schon der Anblick junger Mädchen, einer Frau, die eilig noch den Ärmel über den nackten Arm, der in das Mehlfaß gelangt hatte, hinunterschob.

Sie sangen:

»Wir sind des Teufels Husaren,

Wir wagten einst jeden Ritt,

Wir haben die Sünde erfahren,

Doch auch die Lie-be da-mit!«

Und die Wachtmeister lächelten auch. Auch die Wachtmeister waren froh, der Anstalt entronnen zu sein, dem einschläfernden Dienst mit seinem Kübeln, seinen ewigen Vorführungen, dem ständigen Streiten, Meckern, Beschweren, der nie aufhörenden Sorge vor Widersetzlichkeiten, Ausbrüchen, Revolten. Die Leute würden genug zu essen und zu rauchen kriegen, sie würden friedlich sein, es würde keinen Klamauk geben – trotzdem man das nie ganz sicher wissen konnte! –

Fast mit Wohlwollen blickten die Wachtmeister auf ihre Jungen. Es waren ja die Leute, denen sie ihre ganze Lebensarbeit widmeten, und nachdem die Beamten alle Gefühlsstufen von Verzweiflung, Haß, Gleichgültigkeit durchlaufen hatten, waren sie beinahe dahin gekommen, ihre Gefangenen zu lieben. Sie sahen so sauber aus, adrett in dem neuen Zeug, das sie gefaßt hatten, sie waren so lustig, sie sangen so vergnügt! – »Herr Wachtmeister, haben Sie den Hasen gesehen?« – »Herr Wachtmeister, das Latschen macht Kohldampf – heute mittag kriege ich aber drei Schläge!« – »Herr Wachtmeister, was gibt’s heute mittag – Gänsebraten?«

Sie waren ja wie die Kinder! Oh, die Wachtmeister wußten Bescheid: es waren natürlich keine Mörder unter ihnen, es gab überhaupt keine Langstrafigen in dem Kommando. Vier Jahre war schon hoch, die meisten waren Kurzstrafige, und die hatten auch alle schon über die Hälfte der Strafe abgerissen, oder fast alle. – Es waren keine schweren Jungen darunter, nicht die großen Kanonen des Ganoventums – aber trotzdem, trotz Singen und Fröhlichkeit, blieben sie doch immer Strafgefangene, das heißt Leute, denen man die Freiheit genommen hatte und von denen viele alles, oder fast alles, tun würden, sich diese Freiheit wiederzuerobern. Mit Wohlwollen blickten die Beamten auf die Gefangenen und vergaßen doch nie, daß sie vielleicht das eigene Leben daransetzen mußten, diesen Gefangenen die begehrte Freiheit vorzuenthalten.

»Die Liebste sprach: Ich lasse dich nicht,

Du darfst nicht von mir fahren!

Weiße Arme und Ketten halten mich nicht –

Wir sind des Teufels Husaren!«

sangen sie.

»Sie kommen! Sie kommen!« rief Amanda Backs in der Waschküche des Schlosses und warf die Holzkelle in ihre Speckerbsen, daß es spritzte. »Komm, Sophie, wir wollen sie uns angucken. Vom Kohlenkeller aus können wir die Schnitterkaserne sehen.«

»Ich weiß gar nicht, was du hast!« antwortete Sophie kühl. »Solche Zuchthäusler – für die mache ich doch keinen Schritt! Wir werden uns noch genug über die Kerle ärgern müssen beim Essenholen. Das sind doch alles Verbrecher!«

Aber sie ging doch hinter der andern her und lehnte mit ihr in der kleinen schmutzigen Luke des Kohlenkellers – und rascher atmend sah sie hinüber. Sie sah den Zug, und sie hörte den Sang, und sie schaute und schaute und fand ihn doch nicht zwischen dem Gewimmel und fragte sich: Wenn er nun nicht dabei ist? Wenn sie ihn nicht mitgeschickt haben?

»Was stöhnst du denn so, Sophie?« fragte Amanda erstaunt.

»Ich –? Wieso stöhne ich? Ich stöhne doch nicht! Warum sollte ich wohl stöhnen?«

»Das frage ich auch«, sagte Amanda ziemlich spitz und sah wieder aus dem Fenster. Denn Freundinnen waren die beiden noch nicht, weil die Frage bisher ungeklärt war, wer von den beiden die Köchin und wer die Gehilfin der Köchin war. –

Hinter dem Zuge der Zuchthäusler fuhren zwei Leiterwagen des Rittergutes, die das Zeug der Leute mitgebracht hatten: Decken und Schüsseln, Bestecke und Apotheke, Waschkannen, Eimer, Spaten, Hacken … Zwischen dem Leiterwagen und dem Zuge aber marschierte ganz allein der Oberwachtmeister Marofke, ein kleiner Mann, aber fein, Oberkommandierender des Arbeitskommandos 5, Zuchthaus Meienburg, in Neulohe, unbedingter Herr über fünfzig Gefangene und vier Wachtmeister. Er hatte sehr dünne, kurze Beine, aber sie steckten in gut gebügelten grauen Hosen. Seine Stiefelchen waren die einzigen, die fast blank waren – ein Gefangener hatte sie ihm vor dem Einmarsch in Neulohe im Straßengraben »wienern« müssen. Herr Marofke hatte einen mächtigen Spitzbauch, der in einem blauen Waffenrock schaukelte, aber gegürtet war mit einem ledernen Koppel, an dem ein Säbel hing. Was das Gesicht anging, so war es trotz der fünfzig Jahre des Herrn Marofke zartfarbig wie bei einem jungen Mädchen, weiß, rosa. Aber bei der geringsten Erregung lief es scharlach an. Der katerhaft gesträubte Schnurrbart war rötlichgelb, das Auge blaßblau, die Stimme krähend und schneidig. Doch trotz aller Schneidigkeit und Schärfe war Herr Oberwachtmeister Marofke die Gutmütigkeit selbst – solange seine Autorität nicht angezweifelt wurde. Geschah das aber, wurde er sofort bösartig, heimtückisch, rachsüchtig wie ein Panther.

»Das Ganze halt!« krähte er.

Die Zuchthäusler standen.

»Kehrt!«

Sie machten, übrigens nicht sehr militärisch, denn 1923 war alles Militärische den meisten Menschen verhaßt, eine Kehrtwendung. Sie drehten jetzt ihrer Schnitterkaserne den Rücken und sahen das Beamtenhaus und den Hof an.

Der junge Pagel trat auf den kleinen Herrscher zu. »Herr Oberwachtmeister Marofke, nicht wahr? Ihr Direktor hat uns geschrieben. Mein Name ist Pagel, ich bin hier so eine Art – Lehrjunge. Wenn ich Sie dem Chef vorstellen darf, bitte, dort steht er …«

Unter den letzten Bäumen, den Ausläufern des Parkes neben dem Beamtenhaus, stand der Rittmeister mit seiner Familie und Herrn von Studmann.

Stolzgeschwellt, als ginge er auf Luft, als stieße ihn jeder Schritt von der niederen Erde ab, ging Oberwachtmeister Marofke auf den Rittmeister zu. Er schlug die Hacken zusammen, legte die Hand an die Mütze und meldete: »Melde gehorsamst, Herr Rittmeister, Oberwachtmeister Marofke mit zwei Wachtmeistern und zwei Hilfswachtmeistern sowie fünfzig Zuchthausgefangenen als Arbeitskommando 5 angetreten!«

»Danke, Oberwachtmeister«, sagte der Rittmeister gnädig. Er schaute sich amüsiert den kleinen Kerl an. »Altgedient, was?«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister. Zweiunddreißiger Train.«

»Ach so, Train! Natürlich. Sieht man.« In des Oberwachtmeisters Auge glomm ein Funke auf. »Felde jewesen?«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister, nein. Ich hatte …«

»Keuchhusten? Na ja! Also lassen Sie die Leute einrücken, Oberwachtmeister. Essen ist wohl fertig. Sie sorgen für alles, Herr Pagel, wie? Und daß mir stramm gearbeitet wird, Oberwachtmeister, ich will diese Unsummen nicht umsonst ausgegeben haben! Ich danke, Oberwachtmeister!«

Flammendrot ging der Oberwachtmeister zu seinen Leuten zurück.

Es war nicht zu vermeiden gewesen: Herr von Studmann und die gnädige Frau hatten einen Blick gewechselt. Verzweifelt hatte Frau von Prackwitz die Achseln gehoben, Herr von Studmann hatte beruhigend geflüstert: »Ich renke das schon wieder ein, gnädige Frau.«

»Alles können auch Sie nicht wieder einrenken«, hatte die gnädige Frau leise geantwortet und Tränen in den Augen gehabt.

»Was macht ihr denn für Gesichter?!« hatte der Rittmeister sich umdrehend erstaunt gefragt. »Komische Kruke das, der Oberwachtmeister. Bildet sich ’nen Sack voll ein. Natürlich ein Drückeberger. Na, ich schleif mir den Bruder schon, der soll noch sehen, was Dienst heißt. Komm, Eva, komm, Weio. Mahlzeit, Studmann, will sehen, daß ich auch was runterkriege – du hast freilich heute früh reichlich dafür gesorgt, daß ich keinen Appetit habe … Also, Mahlzeit!«

Wolf unter Wölfen
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