3

Er freut sich gar nicht. Im Gegenteil: er kommt sich wie ein erwischter Hausdieb vor.

»Ich dachte, du machtest Besorgungen, Mama«, sagt er verlegen und gibt ihr schlaff die Hand, die sie energisch und mit Bedeutung drückt.

Sie lächelt. »Ich wollte dir Zeit lassen, dich wieder zu Haus zu fühlen, wollte dich nicht gleich überfallen. Nun, setze dich, Wolfgang, steh nicht so unentschlossen herum … Du hast doch jetzt nichts vor, bist nicht auf Besuch hier, bist zu Hause …«

Gehorsam setzt er sich, sofort wieder Sohn, unter mütterlichem Befehl und Vormundschaft. »Doch auf Besuch! Bloß auf einen Sprung«, murmelt er wohl, aber das überhört sie, ob willentlich oder wirklich, wird er später erfahren.

»Der Kaffee war noch heiß, ja? Gut. Ich hatte ihn eben gebrüht, als du kamst. Gebadet und umgezogen hast du dich noch nicht? Nun, das hat Zeit. Ich verstehe, du wolltest erst einmal unser Heim ansehen. Es ist eben doch deine Welt. Unsere«, setzt sie abschwächend hinzu, denn sie beobachtet sein Gesicht.

»Mama«, fängt er an, denn diese Betonung der Welt hier, die Unterstellung, die Thumannsche Höhle sei Petras Welt, ärgern ihn. »Mama, du irrst dich sehr …«

Aber sie unterbricht ihn. »Wolfgang«, sagt sie in einem andern, viel wärmeren Ton, »Wolfgang, du brauchst mir nichts zu erzählen, gar nichts zu erklären. Vieles weiß ich, alles brauche ich nicht zu wissen. Um aber von Anfang an nichts unklar zu lassen, möchte ich dir für dieses eine Mal erklären, daß ich mich nicht ganz richtig gegen deine Freundin benommen habe. Ich bedaure vieles, was ich gesagt habe, mehr noch eines, was ich getan habe. Du verstehst mich. Genügt dir das, Wolfgang? Komm, gib mir deine Hand, Junge!«

Wolfgang sieht seiner Mutter prüfend ins Gesicht. Er will es erst nicht glauben, aber es ist kein Zweifel, er kennt doch seine Mutter, kennt ihr Gesicht, sie meint es aufrichtig. Sie bedauert, sie bereut. Sie hat ihren Frieden mit ihm und mit Peter gemacht – sie ist also versöhnt, weiß der Himmel, wie das zustande gekommen ist. Vielleicht hat die Wartezeit sie weich gemacht.

Fast ist es nicht zu glauben. Er hält ihre Hand, er will nun auch nicht mehr Verstecken spielen, er sagt: »Mama, das ist sehr nett von dir. Aber sicher weißt du noch nicht, wir wollten heute heiraten. Es ist nur …«

Sie unterbricht ihn schon wieder – welche Bereitschaft, welches Entgegenkommen, sie macht ihm alles leicht! »Es ist gut, Wolfgang. Es ist ja nun alles erledigt. Ich freue mich so, daß du wieder hier sitzt …«

Ein Gefühl ungeheurer Erleichterung überkommt ihn. Eben noch stand er am Fenster seines Zimmers, von Zweifeln gequält, wen er verletzen sollte: Mutter oder Petra. Es schien keinen Ausweg zu geben, nur diese zwei Möglichkeiten. Und schon hatte sich alles gewandelt: die Mutter hatte ihren Fehler eingesehen, der Weg in dieses geordnete Heim stand ihnen beiden offen.

Er ist aufgestanden, er sieht auf den weißen, feinfädigen Scheitel der Mutter hinunter, ein Haar liegt wie das andere, sauber, klar. Plötzlich faßt ihn etwas wie Rührung. Er schluckt, er möchte etwas sagen, fast ruft er: »Ich wollte, das Leben wäre ein bißchen anders! Nein, ich wollte, ich wäre anders, dann hätte ich es anders geführt!«

Die alte Frau sitzt mit einem hölzernen, steifen Gesicht am Tisch. Sie sieht ihren Sohn nicht an, aber sie klopft scharf mit ihren Knöcheln auf den Tisch. Es klingt hölzern.

»Ach, Wolfgang«, sagt sie. »Bitte, sei kein Kind. Wenn du zu Ostern sitzengeblieben warst, riefest du auch immer: ›Ich wollte …‹ Und wenn deine Lokomotive kaputt war, bereutest du es auch, hinterher, wie du mit ihr umgegangen warst. Aber das ist nutzlos, und du bist kein Kind mehr. Reue rückwärts hilft gar nichts – Junge, lerne doch endlich: es geht weiter, immer weiter. Vergangenes kann man nicht ändern – aber sich kann man ändern – für die Zukunft!«

»Ja, gewiß, Mama«, sagt er brav. »Ich wollte ja auch nur …«

Aber er spricht nicht weiter. Draußen hat es geschlossen, eilig, übereilig. Nun kommen schnelle Schritte über den Gang …

»Es ist bloß Minna«, sagt die Mama erklärend zu ihm.

Die Tür geht ohne Anklopfen auf, sie fliegt auf, in ihr steht die ältliche Minna, gelblich, grau, trocken.

»Danke schön, Minna«, sagt Frau Pagel rasch, denn sie wünscht im Augenblick keinerlei Botschaft aus der Georgenkirchstraße; sie hat alles, was sie dort interessierte, jetzt hier. »Danke schön, Minna«, sagt sie darum möglichst streng. »Machen Sie bitte sofort das Abendessen zurecht.«

Aber Minna ist dieses Mal nicht der gehorsame Dienstbote, sie steht mit bösen, argwöhnischen Augen in der Tür, ihre gelbgrauen faltigen Backen tragen rote Flecken. Sie beachtet die gnädige Frau gar nicht, böse starrt sie den sonst so geliebten jungen Herrn an.

»Pfui!« sagt sie dann atemlos. »Pfui, Wolfgang, hier sitzt du also …«

»Sind Sie rein verdreht, Minna?!« ruft Frau Pagel empört, denn so etwas hat sie mit ihrer Minna in zwanzig Jahren Zusammensein doch noch nicht erlebt. »Sie stören! Gehen Sie jetzt …«

Aber sie wird gar nicht gehört. Wolfgang hat sofort begriffen, daß »dort« etwas geschehen ist, eine Ahnung überkommt ihn, er sieht Peter vor sich, wie sie zu ihm gesagt hatte: »Mach’s gut, Wolf«, und er ging mit dem Handkoffer zum Onkel. Sie gab ihm noch einen Kuß …

Er faßt Minna an den Schultern. »Minna, warst du dort? Was ist los? Sag schnell …«

»Du sagst kein Wort, Minna!« ruft Frau Pagel. »Oder du bist auf der Stelle entlassen!«

»Mich brauchen Sie nicht zu entlassen, gnädige Frau«, sagt Minna, plötzlich äußerlich ganz ruhig. »Ich geh auch so. Denken Sie, ich bleib hier, wo die Mutter den Sohn zu Schlechtigkeiten überredet und der Sohn tut’s. Ach, Wolfi, daß du das getan hast! Daß du so gemein sein konntest!«

»Minna, was fällt Ihnen denn ein?! Was erlauben Sie sich, Sie …«

»Sagen Sie nur ruhig wieder Frauenzimmer oder Gans zu mir, ich bin’s ja gewöhnt, gnädige Frau. Nur hab ich immer gedacht, Sie sagen’s bloß aus Spaß. Aber jetzt weiß ich, Sie meinen’s wirklich, daß wir was anderes sind, ich so eine aus der Küche und Sie eine feine Dame …«

»Minna!« ruft Wolfgang und schüttelt das alte, völlig außer Rand und Band geratene Mädchen kräftig. »Minna, sag doch endlich, was ist mit Peter geschehen? Ist sie …?«

»So? Kümmert’s dich wirklich noch, Wolfi? Wo du ihr weggelaufen bist, grade am Trautag, und hast ihr alle Sachen vom Leibe weg verkauft, und sie hat nichts mehr gehabt als den alten verschossenen Sommerpaletot – den vom gnädigen Herrn noch, gnädige Frau! –, kein Stück drunter, keine Strümpfe, nichts … Und so hat sie die Polizei mitgenommen. Aber was das Schlimmste gewesen ist und was ich dir nie und nie verzeihe, Wolfi, völlig verhungert war sie! Immerzu hat sie gewürgt, und auf der Treppe ist sie fast hingeschlagen …«

»Aber wieso denn die Polizei?« schreit Wolfgang verzweifelt und schüttelt die Minna, so stark er kann. »Was hat denn die Polizei damit zu tun –?!«

»Weiß ich denn das?!« schreit Minna dagegen und versucht, sich von dem jungen Herrn loszureißen, der sie unwillkürlich immer fester hält. »Weiß ich denn, in was du sie reingerissen hast, Wolfi –?! Denn die Petra hat von sich aus bestimmt nichts Schlimmes getan, dafür kenne ich sie viel zu gut. Und die gemeine Person, die da noch mit auf der Etage wohnt, hat ja extra gesagt, der Petra geschieht es ganz recht, weil sie sich viel zu fein vorkommt, auf den Strich zu gehen. Der habe ich aber eine gelangt –!« Die Minna steht einen Augenblick triumphierend da, aber gleich sagt sie wieder, sehr verdrossen: »Gott segne sie, daß sie es nicht getan hat, trotzdem du und all ihr Mannskerle es sicher nicht um sie verdient habt.«

Wolfgang läßt Minna so plötzlich los, daß sie fast fällt. Und sofort verstummt sie.

»Mama«, sagt er aufgeregt. »Mama, ich habe wirklich keine Ahnung, was da passiert sein kann. Ich kann es mir auch gar nicht denken. Ich bin gegen Mittag fortgegangen, wollte etwas Geld beschaffen. Es ist richtig, daß ich Petras Sachen verkauft habe, wir hatten auch Schulden bei der Wirtin. Und vielleicht hat sie in letzter Zeit wirklich sehr wenig gegessen, ich muß gestehen, ich habe nicht recht darauf geachtet. Ich war viel weg – von dort. Was aber die Polizei mit alldem zu tun hat …«

Er hat immer leiser gesprochen. Es wäre viel leichter gewesen, Minna dies alles zu erzählen als der Mama, die so hölzern, so hart dasitzt, grade unter jenem bewußten Bild übrigens – nun, vorbei, das ist erledigt, nicht mehr nötig.

»Nun, was da auch mit der Polizei los ist, ich bringe das sofort in Ordnung. Es ist ganz sicher, Mama, daß nichts Wirkliches vorliegen kann – wir haben nichts getan, nein. Ich gehe sofort hin. Es muß ein Irrtum sein. Nur, Mama …« Es wird immer schwerer, zu der dunklen Frau zu reden, die ganz unbewegt dasitzt, fern, fremd, völlig abweisend … »Nur, Mama, ist es leider so, daß ich im Augenblick ganz ohne Geld bin. Ich brauche etwas Fahrgeld, vielleicht muß ich auch die Schulden bei der Wirtin sofort bezahlen; eine Kaution, was weiß ich, Sachen für Petra, Essen …«

Er starrt eindringlich seine Mutter an. Er hat es so eilig, sie muß doch frei werden, er muß doch fort – warum geht sie nicht schon an ihren Schreibschrank und holt das Geld?!

»Du bist jetzt aufgeregt, Wolfgang«, sagt Frau Pagel, »aber darum wollen wir doch nicht planlos handeln. Ich bin mit dir vollkommen einig, daß sofort etwas für das Mädchen geschehen muß. Aber ich glaube nicht, daß du, zumal in deinem jetzigen Zustand, der geeignete Mann dafür bist. Vielleicht gibt es langwierige Auseinandersetzungen mit der Polizei – du bist etwas unbeherrscht, Wolfgang. Ich denke, wir rufen sofort Justizrat Thomas an. Er weiß mit solchen Sachen Bescheid, er erledigt das viel rascher und reibungsloser als du.«

Wolfgang hat seiner Mutter so gespannt auf den Mund gesehen, als müsse er jedes Wort nicht nur hören, sondern auch von ihren Lippen ablesen. Nun fährt er mit der Hand über sein Gesicht. Er hat da ein trockenes Gefühl, die Haut müßte eigentlich rascheln. Aber die Hand ist feucht geworden.

»Mama!« bittet er. »Es ist doch unmöglich, daß ich diese Sache durch deinen Justizrat erledigen lasse und unterdes hier ruhig sitze, bade und Abendbrot esse. Ich bitte dich, mir dieses einzige Mal so zu helfen, wie ich es möchte. Ich muß dies allein erledigen, allein Peter helfen, sie allein herausholen, selbst mit ihr sprechen …«

»Das habe ich mir gedacht«, sagt Frau Pagel und klopft wieder einmal hart mit den Knöcheln auf den Tisch, daß es hölzern klingt. Dann, ruhiger: »Ich muß dich leider erinnern, Wolfgang, daß du mich schon hundertmal in deinem Leben gebeten hast, dir in dieser einzigen Sache einmal deinen Willen zu tun. Tat ich es, war es immer verkehrt …«

»Mama, du kannst doch diesen Fall nicht mit irgendeiner kindischen Kleinigkeit vergleichen!«

»Lieber Junge, wenn du etwas wolltest, war immer alles andere für dich eine Kleinigkeit. Und diesmal gebe ich schon darum keinesfalls nach, weil diese Bemühungen und Verhandlungen dich wieder mit dem Mädchen zusammenbringen würden. Sei froh, daß du von ihr los bist, fange nicht wieder mit ihr an, wegen irgendeines Irrtums der Polizei und irgendwelchen albernen Treppengeschwätzes.« Ein scharfer Blick wurde zu Minna geschossen, die, gelb und trocken, bewegungslos unter der Tür steht – auf ihrem gewohnten Platz. »Du hast dich heute endgültig von ihr gelöst, du hast auf diese lächerliche Heirat verzichtet. Du warst zu mir zurückgekommen, und ich habe dich ohne eine Frage, ohne einen Vorwurf aufgenommen. Und nun soll ich es mit ansehen, ja, ich soll es dir ermöglichen, wieder mit dem Mädchen zusammenzukommen? Nein, Wolfgang, keinesfalls!«

Sie sitzt grade und hager da. Sie sieht ihn mit flammenden Augen an. In ihr gibt es keine Ahnung eines Zweifels, ihr Entschluß ist eisern. War sie je einmal leicht und beschwingt gewesen? Hatte sie je einmal gelacht, je einmal Liebe zu einem Mann empfunden? Dahin! Dahin! Der Vater hat ihren Rat verachtet, aber das hat sie nicht beirrt, sie ist ihren Weg doch weitergegangen – soll sie sich jetzt etwa dem Sohne fügen? Etwas tun, was sie nicht für richtig hält? Nie!

Wolfgang sieht sie an. Auch er hat jetzt, genau wie die Mutter übrigens, den Unterkiefer ein wenig vorgeschoben, seine Augen schimmern, er fragt ganz sachte: »Wie war das eben, Mama? Ich habe mich heute endgültig von Peter gelöst?«

Sie macht eine unwirsche Geste. »Reden wir nicht davon. Ich verlange keine Erklärungen. Du bist hier, das genügt mir.«

Und er, fast noch sanfter: »Ich habe auf diese lächerliche Heirat verzichtet?«

Jetzt wird sie schon schärfer, sie riecht Gefahr, aber das macht sie nicht vorsichtiger, das macht sie angriffslustig. Sie sagt: »Wenn der junge Ehemann nicht aufs Standesamt kommt, wird man es wohl so auffassen dürfen.«

»Mama«, sagt Wolfgang, setzt sich an die andere Tischseite und lehnt sich weit über den Tisch, »du scheinst dich ja ausgezeichnet über mein Kommen und Gehen unterrichten zu lassen. So müßtest du doch wissen, daß auch die Braut nicht kam.«

Draußen ist es ganz dunkel geworden. Ein erster Windstoß fährt brausend in die Baumkronen, ein paar gelbe Blätter wirbeln ins Fenster hinein. Unter der Tür steht hager, reglos das Mädchen Minna, vergessen von der Mutter wie vom Sohn. Jetzt leuchtet es einmal fahlgelb auf, aus dem Dämmer tauchen angespannt, weiß die Gesichter und versinken in noch tieferes Dämmern. Lang nachhallend rollt ein noch ferner Donner.

Die Elemente wollen losbrechen, aber Frau Pagel sucht sich noch einmal zu fangen. »Wolfgang«, sagt sie fast bittend, »wollen wir uns denn darüber streiten, wie weit du dich von Petra schon gelöst hattest? Ich bin fest überzeugt, wäre dieser Zwischenfall mit der Polizei nicht gekommen, du hättest kaum noch an das Mädchen gedacht. Überlaß diese Sache einem Anwalt. Ich bitte dich, Wolfgang, und ich habe dich noch nie so gebeten: Tue mir dieses einzige Mal den Willen!«

Der Sohn hört die Mutter bitten, genau wie er sie wenige Minuten zuvor bat. Aber das merkt er gar nicht. Er hat im tiefen Dämmer dunkel das Gesicht der Mutter vor sich. Der Himmel hinter dem Kopf leuchtet schwefelgelb auf, versinkt in Schwärze und leuchtet von neuem auf.

»Mama«, sagt Wolfgang, und sein Wille entzündet sich immer stärker an ihrem Widerstand. »Du befindest dich in einem entscheidenden Irrtum. Ich kam nicht hierher, weil ich mich, ganz oder teilweise, von Petra gelöst hatte. Ich kam hierher, weil ich mir das Geld für diese lächerliche Trauung holen wollte …«

Die Mutter sitzt einen Augenblick reglos, sie antwortet nicht. Aber wenn der Schlag sie auch schwer getroffen haben mag, sie läßt es sich nicht merken. Sie sagt bitterböse: »Nun, mein Sohn, so kann ich dir sagen, daß dein Weg umsonst war. Dafür bekommst du hier nicht einen Pfennig.«

Ihre Stimme ist sehr leise, aber sie schwankt kein bißchen. Fast noch leiser und ohne eine Spur von Wärme antwortet er: »Da ich dich kenne, habe ich nie eine andere Antwort von dir erwartet. Du liebst nur die Menschen, die nach deiner Fasson selig werden wollen, trotzdem man ja eigentlich sagen muß, daß du selbst nicht übermäßig selig geworden bist in deinem Leben …«

»Oh …«, stöhnte die Frau tief, zu Tode getroffen, in ihrem ganzen Leben, in ihrer ganzen Ehe, in ihrer ganzen Mutterschaft, von dem eigenen Sohn.

Den aber erregt dieser eine Laut des Schmerzes nur noch mehr. Wie es sich draußen seit den frühen Morgenstunden aus Dunst, Schwüle und Gestank zusammengebraut hat, jetzt dem Losbrechen nahe – so hat es sich in seinem eigenen Leben zusammengebraut aus Bevormundung, Gängelei, Besserwissen, rücksichtsloser Ausnutzung der Mutterstellung, der Kasseninhaberin. Und was seinen Zorn am gefährlichsten macht, das ist noch nicht einmal dies, das ist auch nicht die Verachtung der Mutter für Petra (die ihm ohne diese Verachtung ja gar nicht soviel bedeutet). Sondern aus seiner eigenen Schwäche, aus seiner eigenen Feigheit schwelt die stärkste Zornesglut. Daß er ihr hundertmal nachgegeben hat, das muß er rächen. Daß er sich vor dieser Auseinandersetzung gefürchtet hat, das macht ihn so fürchterlich. Daß er das Bild heimlich hat wegholen wollen, das macht ihn schamlos in seinem Zorn.

»Oh …!« hat die Mutter gestöhnt, aber in ihm löst das nur eine tiefe Freude aus. Es ist hungrige Zeit, Wolfszeit. Die Söhne haben sich gegen die eigenen Eltern gekehrt, das hungrige Wolfsrudel fletscht gegeneinander die Zähne – wer stark ist, lebe! Aber wer schwach ist, der sterbe! Und er sterbe unter meinem Biß!

»Oh …!«

»Und ich muß dir auch noch sagen, Mama, als ich eben so leise in das Zimmer kam, dachte ich wirklich, du wärest fort. Ich wollte mir nämlich heimlich das Bild holen, das Bild, du weißt schon, welches, das Bild, das du mir geschenkt hast …«

Sehr schnell, aber mit einem unverkennbaren Zittern in der Stimme: »Ich habe dir nie ein Bild geschenkt!«

Wolfgang hört dies wohl. Aber er spricht weiter. Er ist trunken vor Rachsucht. Er kennt keine Scham mehr.

»Ich wollte es heimlich verkaufen. Viel Geld dafür kriegen, schönes Geld, vieles Geld, Devisen, Dollars, Pfunde, Dänenkronen – und alles Geld wollte ich meiner lieben, guten Petra bringen …«

Er spottet über sie, aber er spottet auch über sich. Er ist ein Narr. Ach – dies ist ja fast noch besser als Spielen, es erregt, es macht wild. In das Dunkel hineinreden, und die Blitze dazu, und das jetzt fast pausenlose ferne Drohen und Grollen des Donners. Aus den Urgründen alles menschlichen Seins steigt, frei gemacht von schlimmer Zeit, der Urhaß der Kinder gegen die Eltern hoch, der Haß der Jugend gegen das Alter, des stürmenden Mutes gegen die langsame Besinnung, des blühenden Fleisches gegen das welke …

»Ich habe es mir heimlich holen wollen, aber das war natürlich Unsinn. Es ist ganz gut, daß ich dir endlich einmal alles sagen kann, alles, alles … Und wenn ich es gesagt habe, nehme ich mir das Bild …«

»Ich gebe es nicht her!« ruft sie. »Nein!« Und sie springt auf und stellt sich vor das Bild.

»Ich nehme es mir«, sagt er unbeirrt und bleibt sitzen. »Ich trage es vor deinen Augen fort und verkaufe es, und alles Geld bekommt Petra, alles Geld …«

»Du wirst es mir nicht mit Gewalt nehmen …«, sagt sie rasch, aber es klingt wie Angst in ihrer Stimme.

»Ich werde es auch mit Gewalt nehmen«, ruft er, »denn ich will es haben. Und du wirst vernünftig sein. Du weißt, ich will es haben, und dann kriege ich es auch …«

»Ich rufe die Polizei!« sagt sie drohend und schwankt zwischen Fernsprecher und Bild.

»Du rufst nicht die Polizei!« lacht er. »Denn du weißt wohl, du hast mir das Bild geschenkt!«

»Sehen Sie ihn an, Minna!« ruft Frau Pagel, und jetzt hat auch sie vergessen, daß es der Sohn ist, der dort steht. Sondern es ist der Mann, der Mann, der immer widersinnig handelt, der Gegenpart der Frau, der Feind von Urbeginn an.

»Sehen Sie ihn doch an, wie er es nicht abwarten kann, zu seinem geliebten Mädchen zu kommen! Sie von der Polizei zu erlösen! Es ist ja alles Lüge und Theater, das Mädchen ist ihm so gleichgültig wie alles auf der Welt – es geht ihm doch nur um das Geld!«

Sie äfft ihn nach: »Schönes Geld, vieles Geld, Dollars, Pfunde – aber nicht für die liebe, schöne, gute Petra im Kittchen, das Fräulein Ledig, nein, für den Spieltisch …«

Sie macht zwei Schritte, gibt das Bild frei, steht am Tisch, läßt die Knöchel hölzern auf ihm rasseln. »Da, nimm das Bild. Ich tue dir das Schlimmste, was ich tun kann, ich lasse dir das Bild. Verkauf es, bekomme Geld dafür, viel Geld. Aber ich, deine dumme, verbohrte, rechthaberische Mutter, werde wieder einmal recht behalten – das Mädchen wirst du nicht glücklich machen damit. Du wirst das Geld verspielen, wie du alles verspielt hast: Liebe, Anstand, Leidenschaft, Ehrgeiz, Arbeitskraft.«

Sie steht da, atemlos, mit flammenden Augen.

»Jedenfalls danke ich dir, Mama«, sagt Wolfgang, plötzlich sehr müde, alles Streitens, alles Redens überdrüssig. »Damit wären wir nun fertig, wie? Und mit allem andern auch. Meine Sachen werde ich heute abend abholen lassen, ich will dich nicht länger damit belasten. Was aber deine Prophezeiungen anlangt …«

»Nimm alles!« schreit sie lauter und sieht, an allen Gliedern zitternd, wie er das Bild von der Wand nimmt. »Möchtest du auch noch etwas vom Silber für die Ausstattung der jungen Frau? Nimm es! Ach, ich kenne doch euch Pagels!« ruft sie und ist plötzlich wieder das junge Mädchen, lang, lang vor Brautschaft und Ehe. – Außen freundlich und sanft, aber innen gierig und trocken. »Geh, geh nur rasch! Ich mag euch nicht mehr sehen, ich habe euch ein ganzes Leben geopfert, und zum Schluß habt ihr mich mit Schmutz beworfen, Vater wie Sohn, einer wie der andere … Ja, geh nur so, ohne ein Wort, ohne einen Blick. Dein Vater machte es auch so, er war zu vornehm für Auseinandersetzungen, aber wenn er nachts ein schlechtes Gewissen hatte, schlich er auf Strümpfen aus dem Zimmer.«

Wolfgang geht schon, das Bild unter dem Arm. Er hatte sich umgesehen, er hatte Minna um Packpapier und Bindfaden bitten wollen, aber sie stand so starr unter der Tür. Und immer war diese Stimme da, diese gelle, erbarmungslose Stimme, wie eine häßlich klingende Glocke aus Eisen, blechern, aber unverwüstlich, seit seinen Kindertagen unverwüstlich.

Er steckt das Bild, wie es ist, unter den Arm. Nur fort, nur schnell – noch regnet es nicht.

Aber als er über die Schwelle des Zimmers geht, immer diese wilde, tobende Stimme hinter sich, sagt das alte Mädchen, diese alberne Gans, der man es natürlich auch nie recht machen kann: »Pfui!« Sagt zu ihm, beinahe in sein Gesicht, hart, böse: »Pfui!«

Er zuckt bloß die Achseln. Er hat es doch für Petra getan, er soll doch, auch ihrer Ansicht nach, etwas für Petra tun. Aber egal, mögen sie reden.

Nun ist er aus der Wohnung, die Tür fällt zu, aus dem Porzellanschild schlug er einmal eine Ecke. Jetzt steigt er die Treppe hinab.

Wieviel werde ich wohl kriegen für das Bild –?

Wolf unter Wölfen
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