6

Das, was die Leute »das Schloß« in Neulohe nannten, war das Haus des alten Herrn. Der Rittmeister von Prackwitz wohnte gut fünfhundert Meter weiter, schon zwischen den Feldern, außerhalb des Gutshofs, in einer kleinen Villa. Sechs Zimmer, moderner Maurermeisterstil, ein schlampiger, schon abblätternder Bau aus der ersten Inflationszeit. Das Schloß, aus dem der alte Herr nicht hatte wegziehen mögen, schon, um in der Nähe seiner geliebten Fichten zu bleiben und – nebenbei – dem Schwiegersohn ein wenig auf die Finger zu sehen, das Schloß war auch nur ein gelber Kasten, aber mit dreimal soviel Zimmern wie bei den jungen Leuten, und immerhin mit einer richtigen Freitreppe, einem Gartenzimmer mit Türen aus Glas bis an die Erde, der »Saal« genannt, und einem Park.

Am Schloß ging Negermeier vorüber. Dort hatte er nichts zu suchen und wollte er für dieses Mal auch nichts suchen – der erbosten Gnädigen wegen. Gleich kam, unbequem nahe, da zu sehr unter Aufsicht gelegen, das Beamtenhaus, in dem das Büro war und sein Zimmer (alles andere stand wegen der rittmeisterlichen Sparmethoden leer – aber der Rittmeister ist ein großer Mann). Da Meier sich beim gnädigen Fräulein wegen des Telefongesprächs mit dem Vater erkundigen wollte, ging er erst einmal auf sein Zimmer und wusch sich Hände und Gesicht. Dann goß er sich ein Parfüm »Russisch Juchten« ausgiebig auf die Brust – es war unbedingt das richtige Parfüm fürs Land. Wie die Annonce gesagt hatte: »herb, männlich, rassig«.

Hinterher besah er sich im Spiegel. Die Zeit, da er seine Kleinheit, die Wulstlippen, die eingedrückte Nase, die vorstehenden Augen als Schmach empfunden hatte, war natürlich längst vorbei. Seine Erfolge bei den Weibern hatten ihn belehrt, daß es auf Schönheit nicht ankam. Im Gegenteil: ein bißchen apartes Aussehen lockte die Mädchen wie die Salzlecke das Wild.

Freilich war es mit der Violet natürlich nicht so einfach wie mit irgendeiner Amanda Backs oder Sophie Kowalewski. Für sicher aber hielt es der kleine Meier – wieder einmal abweichend von seinem Arbeitgeber, dem Rittmeister –, daß die kleine Weio trotz ihrer fünfzehn Jahre schon ein Luder war. Diese Blicke, diese junge, eifrig markierte Brust, diese Redensarten, frech, und die Sekunde darauf blaueste Unschuld – das war für einen so erfahrenen Frauenjäger wie ihn nicht zu verkennen! Es war ja auch klar: schon aus dem Schlafzimmer der damals noch unverheirateten Mutter sollte der alte Herr von Teschow einen Liebhaber hinausgesetzt haben, mit der Peitsche, die nachher auch die Mama zu kosten bekam. Erzählten die Leute – na ja, die Welt war groß, und möglich war in ihr alles. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Es wäre etwas übertrieben, den kleinen Feldinspektor Meier wegen seiner Gedanken vor dem Spiegel einen Intriganten und schurkischen Verführer zu nennen. Dies waren keine Pläne, es war jugendliches Gefasel, Eitelkeit – Wunschträume. Wie ein junger Hund hatte er ungeheuren Appetit, am liebsten hätte er alles benagt – und die Violet war wirklich sehr hübsch!

Aber genau wie bei einem jungen Hund war seine Angst mindestens ebenso groß wie sein Appetit – bloß keine Prügel bekommen! So frech wie zu der Amanda ohne Anhang würde er zu dieser Weio nie sein können, hinter der ein jähzorniger Vater stand. Wenn er in seinen Träumen alles bis zur Entführung und heimlichen Trauung bestens erledigt hatte – vor der Heimkehr zum Schwiegervater graulte ihm doch. Nicht einmal die Heimkehrunterhaltung mit ihm konnte er sich ausdenken, am besten erledigte das die junge Frau. Vor ihr brauchte man weder Angst noch Respekt zu haben: wer einmal mit einem geschlafen hat, ist nichts Besseres mehr als der, mit dem sie schlief, und selbst die adlige Abstammung – geheimnisvoll, doch Ehrfurcht heischend – war dann abgegangen wie die Politur von einem Fabrikmöbelstück – alles bloß gemeines Fichtenholz!

Negermeier grinst sich im Spiegel an. Dolle Marke bist du doch! heißt das etwa, und wie zur Bestätigung seiner Eigenbewertung fällt ihm ein, daß der »Leutnant« heute früh in einem ganz anderen, viel kameradschaftlicheren Ton mit ihm gesprochen hat als mit dem ollen Schleicher, Förster Kniebusch.

Meier grüßt sich mit der Hand im Spiegel, er winkt sich freundlich zu: Glück auf den Weg, Sohn des Glücks! Und marschiert ab zu Violet von Prackwitz.

Im Büro räumt Frau Hartig auf, Kutscherfrau, noch ganz gut imstande; möchte auch wohl, aber ab fünfundzwanzig sind die Frauen uralt. Die gute Hartig, etwa siebenundzwanzig, nicht weniger als acht Kinder, hat heute den Mund fest zusammengepreßt. Die Augen funkeln böse, die Stirn ist voller Falten. Meier schiert das nicht, aber grade, als er an ihr vorbei will, fällt die gußeiserne Stehlampe mit dröhnendem Krach vom Schreibtisch, und der grüne Lampenschirm zerklirrt in hundert Scherben.

Da muß Meier doch stehenbleiben und seinen Senf dazugeben.

»Na ja«, sagt er grinsend. »Scherben bringen Glück – gilt das nun Ihnen, oder gilt das mir?« Und als sie ihn nur stumm, aber böse funkelnd ansieht: »Was ist denn mit Ihnen los? Gewitter? Schwül genug ist es dafür.«

Und er schaut ganz automatisch auf das Barometer, das seit Mittag langsam, aber ständig fällt.

»Mit mir lassen Sie Ihre Schweinereien!« sagt die Hartig schrill und böse. »Denken Sie, ich räume euch länger euern Dreck nach!« Und sie fährt in die Schürzentasche, öffnet die Hand – drei Haarnadeln hat sie in ihr. (1923 hatte der Bubikopf noch nicht das flache Land erobert.) »In Ihrem Bett haben die gelegen!« kreischt sie fast. »Saukerl, elender! Aber ich räume das nicht mehr auf, ich zeig’s der gnädigen Frau!«

»Welcher denn, Frau Hartig?« lacht Meier. »Die alte weiß es – und betet schon für mich; die junge aber denkt es sich auch so und lacht erst recht!«

Er sieht sie überlegen, spöttisch an.

»So ein gemeines Weibsbild!« kreischt die Hartig. »Kann doch nachsehen im Bett, ehe sie abhaut. Aber nee, ich soll ihr das nachräumen, ich der Geflügelmamsell! Keine Scham hat so ’n Biest!«

»Doch, doch, Frau Hartig, ganz bestimmt!« sagt Negermeier ernst. Und wieder grinst er: »Aber Ihr Jüngster hat ja so schöne rote Haare? Genau wie der Futtermeister. Soll der nun Kutscher werden wie der Vater oder Futtermeister wie der Stiefvater?«

Und damit marschiert Meier ab, in sich hineinkichernd, herrlich zufrieden, während drinnen noch böse, aber doch halb schon besänftigt Frau Hartig auf die drei Haarnadeln in ihrer Hand starrt. Er ist ja ein Aas, aber mit einem Pfiff, so klein er ist!

Sie sieht die Haarnadeln noch einmal an, schüttelt sie, daß sie klappern, und steckt sie entschlossen in das eigene Haar.

Dich krieg ich doch noch, denkt sie. Amanda regiert auch nicht ewig!

Sie räumt die Scherben des Lampenschirms fort, sehr vergnügt plötzlich, denn sie ist fest davon überzeugt, daß sie ihr Glück bringen werden.

Meier denkt auch an die Scherben und an das Glück, das sie ihm nun gleich sofort auf der Stelle bringen werden. In allerbester Stimmung langt er bei der Villa des Rittmeisters an. Erst späht er in den Garten – denn am liebsten träfe er Weio nicht in Hörweite der Mutter –, aber im Garten ist sie nicht. Das ist unschwer festzustellen, denn obwohl der Garten nicht ganz klein ist, kann man ihn doch auf einen Blick übersehen, diese vor ein paar Jahren aus dem blanken Feld gestampfte und halb schon wieder vertrocknete Gelegenheitsschöpfung der gnädigen Frau.

Nichts kann im übrigen Festigkeit der Stellung in Neulohe und Abstand zwischen Besitzer und Pächter besser versinnbildlichen als die Betrachtung des Teschowschen Schloßparks und des Prackwitzschen Gartens: dort hundertjährige große Bäume, in aller Fülle, strotzend von Blättern und Saft, hier ein paar Dutzend kahle Stangen, mit wenigen, schon vergilbenden Blättern. Dort weite Rasenflächen, dunkelgrün; hier spärliches Gras, hart, gelb, im aussichtslosen Kampf mit den wieder vordringenden Feldstiefmütterchen, Quecken, Schachtelhalm. Dort ein nicht ganz kleiner Teich mit Ruderboot und Schwan; hier ein sogenanntes Planschbecken, wohl aus Solnhofer Platten, aber mit einer grünen Jauche gefüllt. Dort ererbtes Wachstum, aus der Zeit kommend für die Zeit; hier etwas kaum Geborenes, schon wieder Absterbendes – doch: der Rittmeister ist ein großer Mann.

Feldinspektor Meier war schon im Begriff, auf den Klingelknopf zu drücken, da wird er von der Seite her angerufen. Auf dem flachen Dach des Küchenanbaus (bloß Teerpappe) stehen ein Liegestuhl und ein großer Gartenschirm, eine Leiter lehnt am Anbau. Von dort oben hat es gerufen: »Herr Meier!«

Meier gibt sich den notwendigen dienstlichen Ruck: »Jawohl?«

Ungnädige Stimme von oben: »Was ist denn? Mama ist ganz kaputt von der Hitze, will schlafen – stören Sie sie bloß nicht!«

»Ich wollte nur fragen, gnädiges Fräulein … Der Herr von Teschow hat mir gesagt, der Herr Rittmeister hätte telefoniert …« Ein wenig ärgerlich: »Es ist wegen der Wagen … Soll ich heute abend zur Bahn schicken oder nicht?«

»Schreien Sie doch bloß nicht so!« schreit die Stimme von oben. »Ich bin doch keins von Ihren Hofgängermädchen! Mama will Ruhe, habe ich Ihnen gesagt!«

Meier guckt verzweifelt empor zu dem flachen Dach. Aber es ist zu hoch, und er steht zu tief: er kann nichts von der im Traum Entführten und Geheirateten sehen, sondern nur ein Stück Liegestuhl und ein etwas größeres Stück Pilzschirm. Er entschließt sich zu flüstern – so laut er kann: »Ob ich Wagen schicken soll – heute abend – zur Bahn –?«

Pause. Stille. Warten.

Dann von oben: »Haben Sie was gesagt? Ich versteh immer Bahnhof!«

»Hä-hä-hä!« Meier belacht pflichtschuldig die gängigste Redensart der Zeit. Dann wiederholt er etwas lauter seine Anfrage.

»Sie sollen doch nicht schreien!« hat er sofort seinen Tadel weg.

Er steht da, er weiß natürlich ganz genau, daß sie ihn nur zwiebeln will. Es ist eben nur der Feldbeamte von Papa. Hat zu tun, was ihm gesagt wird. Hat zu stehen und zu warten, bis das gnädige Fräulein geruhen. Na, warte nur, meine Liebe, eines Tages wirst du stehen und warten müssen – aber auf mich!

Jetzt allerdings scheint er lange genug gewartet zu haben, denn sie ruft von oben (übrigens für eine so rücksichtsvolle Tochter erstaunlich laut): »Herr Meier! Sie sagen ja gar nichts mehr?! Sind Sie überhaupt noch da –?!«

»Jawohl, gnädiges Fräulein.«

»Ich dachte schon, Sie wären in der Sonne zerflossen. Butter müssen Sie dafür genug auf dem Kopf haben.«

(Weiß natürlich auch schon Bescheid. Schadet aber gar nichts – macht ihr bloß Appetit.)

»Herr Meier!«

»Jawohl, gnädiges Fräulein –?«

»Wenn Sie also lange genug unten gestanden haben, merken Sie vielleicht, daß eine Leiter da ist, und sagen mir hier oben, was Sie eigentlich wollen.«

Noch einmal: »Jawohl, gnädiges Fräulein!« und die Leiter hinauf.

»Jawohl, gnädiges Fräulein« ist immer gut, schmeichelt ihr, kostet nichts, betont den Abstand und erlaubt alles. Man kann ihr in den Ausschnitt gucken und dabei voller Demut »jawohl, gnädiges Fräulein« sagen, man kann es sogar sagen und ihr dabei einen Kuß geben – »jawohl, gnädiges Fräulein« ist ritterlich, kavaliermäßig, schneidig – wie die Offiziere in Ostade, denkt Negermeier.

Er steht jetzt am Fuß ihres Liegestuhls und sieht gehorsam und doch frech blinzelnd auf seine junge Herrin, die da mit nichts als einem sehr kurzen Badeanzug bekleidet vor ihm liegt. Violet von Prackwitz, fünfzehn Jahre, ist schon ein bißchen voll, zu voll mit der schweren Brust, den fleischigen Hüften, dem starken Gesäß, zieht man die Jahre in Betracht. Sie hat das weiche Fleisch, die zu weiße Haut der lymphatischen Mädchen, dazu ein wenig vorstehende Augen wie die Mutter. Sie sind blau, blaßblau, verschlafen blau. Die nackten Arme hat das gute unschuldige Kind erhoben, sie reckt sich ein wenig, es sieht gar nicht schlecht aus, hübsch ist das Luder, und – Donnerwetter – was für ein Körper! Das muß sich einem doch in den Arm schmiegen.

Schläfrig, genußsüchtig durch die fast geschlossenen Lider blinzelnd, betrachtet sie das Gesicht des Inspektors. »Na, was gucken Sie denn so?« fragt sie dann herausfordernd. »Im Familienbad habe ich auch nichts anderes an. Stellen Sie sich bloß nicht so an.« Sie studiert sein Gesicht. Dann: »Na ja, Mama sollte uns hier beide mal so sehen …«

Er kämpft mit sich. Die Sonne brennt irrsinnig heiß, es flimmert, jetzt streckt sie sich wieder. Er macht einen Schritt …: »Ich … Weio, o Weio …«

»O wei! O wei!« lacht sie. »Nee, nee, Herr Meier, stellen Sie sich lieber wieder da bei der Leiter auf.« Plötzlich ganz Herrin: »Sie sind ja komisch! Sie bilden sich wohl was ein? Ich brauche nur einmal zu rufen, und Mama ist an ihrem Fenster!«

Dann, als sie sieht, daß er wieder pariert: »Heute brauchen Sie nicht zur Bahn zu schicken. Wahrscheinlich morgen früh zum ersten Zug. Papa telefoniert noch mal.«

Hat alles vorhin ganz gut verstanden, das freche Luder! Hat sich ihm nur vorführen, ihn quälen wollen! Aber warte, ich kriege dich doch noch!

»Warum lassen Sie denn nicht einfahren?« fragt jetzt das junge Mädchen, die zu Entführende, die heimlich zu Heiratende.

»Weil die Leute binden und aufsetzen müssen.« – Ziemlich mürrisch.

»Und wenn es ein Gewitter gibt und alles wird naß, macht Papa Ihnen einen Riesenkrach.«

»Und wenn es kein Gewitter gibt und ich hab einfahren lassen, macht er mir auch Krach.«

»Es gibt aber ein Gewitter.«

»Das kann man so genau nicht wissen.«

»Ich weiß es aber.«

»Gnädiges Fräulein wünschen also, daß ich einfahren lasse?«

»Ich denke gar nicht daran!« Sie lacht schallend, ihre starke Brust hüpft gradezu im Badeanzug. »Daß Sie mir nachher die Schuld geben, wenn es Papa nicht recht ist! Nein, machen Sie Ihre Dummheiten alleine!«

Sie sieht ihn wohlwollend-überlegen an. Dieses Gör von fünfzehn Jahren ist derart frech –! Warum frech –? Weil sie zufällig eine geborene von Prackwitz, Erbin von Neulohe ist – nur darum frech!

»Dann kann ich also gehen, gnädiges Fräulein?« fragt Negermeier.

»Ja. Kümmern Sie sich mal ein bißchen um die Wirtschaft.« Sie hat sich auf die Seite gewälzt, sieht ihn noch einmal spöttisch an. Er geht schon.

»He, Herr Meier!« ruft sie.

»Jawohl, gnädiges Fräulein?« – Es hilft nichts, er muß.

»Wird eigentlich Dung gefahren?«

»Nein, gnädiges Fräulein …«

»Warum riechen Sie denn so komisch?«

Es dauert eine ganze Weile, bis er kapiert hat, daß sie sein Parfüm meint. Dann macht er wortlos, aber wutrot kehrt und klettert, so schnell er kann, die Leiter hinunter.

So ein Aas! Mit so einem Aas soll man sich gar nicht abgeben! Die Roten haben ganz recht: an die Wand mit dieser ganzen frechen Bagage! Adel! Verdammt noch mal! Frechheit, unverschämte Frechheit … Nichts wie großkotzige Manieren …

Er ist von der Leiter, er ist im Abmarsch, seine kurzen Beine treten wütend die Erde. Da kommt wieder die Stimme von oben, die Stimme aus dem Himmel, die Stimme der Herrin: »Herr Meier!«

Er fährt zusammen. Voller Wut – und wiederum geht es doch nicht anders, voller Wut ruft er: »Jawohl, gnädiges Fräulein?«

Sehr ungnädig kommt es von oben: »Ich habe Ihnen schon dreimal gesagt, Sie sollen nicht so schreien, Mama schläft!« Und ungeduldig: »Kommen Sie noch mal rauf!«

Meier klettert wieder die Leiter hoch, den Bauch voller Wut: Jawohl, als dein Laubfrosch die Leiter rauf und runter, wie du das Wetter machst. Na, warte mal, habe ich dich erst, dich lasse ich bestimmt sitzen, mit Kind, ohne einen Pfennig …

Und doch wieder in strammer Haltung: »Bitte, gnädiges Fräulein …?«

Sie denkt jetzt nicht mehr daran, ihm ihren Leib vorzuführen, sie überlegt, aber sie hat die Sache schon bei sich entschieden. Sie ist nur noch unsicher, wie sie es ihm sagen soll. Schließlich erklärt sie möglichst harmlos: »Sie müssen mir einen Brief besorgen, Herr Meier.«

»Jawohl, gnädiges Fräulein.«

Plötzlich hat sie ihn in den Händen, rätselhaft, woher, einen länglichen Umschlag aus bläulichem Papier, soweit man von Meiers Standpunkt aus erkennen kann, ohne jede Aufschrift …

»Sie gehen heute abend noch ins Dorf –?«

Er ist völlig überrascht und ganz unsicher. Sagt sie das nur so oder weiß sie was? Aber das ist doch unmöglich!

»Ich weiß nicht, vielleicht. Wenn Sie es wünschen, gnädiges Fräulein, jedenfalls!«

»Sie werden nach dem Brief von einem Herrn gefragt werden. Händigen Sie ihn dann aus.«

»Welcher Herr? Ich versteh nicht …«

Sie wird plötzlich ärgerlich, gereizt. »Sie brauchen auch gar nichts zu verstehen. Sie sollen einfach tun, was ich Ihnen sage. Ein Herr wird nach dem Brief fragen, und dem geben Sie ihn. Das ist doch ganz einfach!«

»Jawohl, gnädiges Fräulein«, sagt er. Es klingt aber etwas schwach, er ist zu sehr in Gedanken.

»Also«, sagt sie. »Das wäre dann alles, Herr Meier.«

Er bekommt den Brief in die Hand. Er will es noch nicht glauben, aber nun hat er den Brief in der Hand, diese Waffe gegen sie! Warte, mein Schäfchen! Komm du mir noch einmal dumm!

Er reißt sich zusammen. »Wird alles bestens erledigt, gnädiges Fräulein!«

Und er steigt wieder die Leiter hinunter.

»Das wollte ich auch meinen!« klingt ihm von oben ihre Stimme ziemlich herausfordernd nach. »Sonst erzähle ich Großpapa und Papa, wer den Wald angekokelt hat!«

Die Stimme verstummt. Meier ist mitten auf der Leiter haltengeblieben, um nur ja kein Wort zu verlieren.

So! Also! Da hab ich es! So ist das! Angekokelt, sagt sie. Genau ins Herz getroffen. Bravo! Für fünfzehn Jahre vorzüglich. Du kannst was werden! Nee, du kannst so bleiben!

»Und der Herr Leutnant versteht auch schlecht Spaß«, sagt die Stimme noch – und nun hört er, wie sie sich oben mit ihrem fetten, faulen Fleisch auf die Seite wälzt. Der Liegestuhl ächzt. Fräulein Violet von Prackwitz gähnt behaglich dort oben, und Herr Feldinspektor Meier darf unten an seine Arbeit gehen – stimmt, geht in Ordnung, der Kram.

Aber Meier, der kleine Meier, Negermeier, geht noch nicht an seine Arbeit. Ganz langsam, tief in Sinnen, trottet er den Weg zu seiner Bude. Den Brief hat er in der Außentasche seiner schilfleinenen Joppe, und über seine glatte Fläche hat er die Hand gelegt, damit er ihn auch immer fühlt. Er muß fühlen, daß er den Brief wirklich hat, daß er da ist. Diesen Brief, den er gleich lesen wird. Sie hat wenig genug gesagt, dieses kleine, durchtriebene Luder, aber für ihn hat sie genug gesagt. Längst genug! Sie kennt also den Leutnant, diesen rätselhaften, etwas abgerissenen, doch recht schneidig auftretenden Herrn, der nächtliche Versammlungen beim Schulzen einberuft und vor dem Förster Kniebusch strammsteht. Und sie hat diesen Herrn Leutnant heute zwischen zwölf und drei getroffen, sonst könnte sie von dem Brande nichts wissen.

Wenn aber dieser Herr Leutnant Herrn Feldinspektor Meier so kameradschaftlich zunickte, so nicht darum, weil er den Negermeier für soviel tüchtiger hielt als den alten Knochenfraß Kniebusch, sondern weil er bereits wußte: Meier war zum heimlichen Briefträger ausersehen! Wußte schon recht gut Bescheid, der Herr Leutnant, auf Neulohe! Längeres, heimliches Einverständnis.

Ihr seid schon reichlich weit gekommen, ihr zwei beide! Ich kann mir alles denken. Und wenn ich erst den Brief gelesen habe – dumm bist du ja doch, du hochmütige, alberne Gans! Denkst, ich geb den Brief weiter und seh mir nicht an, was drinsteht! Ich will Bescheid wissen, und dann werde ich schon sehen, was ich da tue. Vielleicht dem Rittmeister alles erzählen – was ist dagegen so ein bissel Waldbrand?! Damit habt ihr mich noch lange nicht an der Strippe. Aber ich denke, ich werde dem Rittmeister gar nichts sagen. Denn du bist ja auch noch so dumm, daß du nicht einmal merkst, daß so ein Kerl wie der Leutnant dich natürlich sitzenläßt. Da braucht man ihn ja nur einmal anzusehen, um das zu wissen. Aber dann bin ich da – nee, mein Kindchen, mir macht es nichts. An so was stoße ich mich nicht. Junge Pferde einfahren macht wenig Spaß und viel Mühe – besser schon, sie kennen jeden Schritt und Gang! Aber dann sollst du mir bezahlen, für jedes freche, hochmütige Wort, für jedes »Jawohl, gnädiges Fräulein« – und für diesen Brief vor allem! – Wie macht man solchen Brief überhaupt auf? Ich hab gehört, mit Wasserdampf – aber wo krieg ich in der Eile Wasserdampf auf meiner Bude her? Ach was, ich versuch es einfach mit einem Messer, die Klappe loszumachen, und geht der Umschlag kaputt, nehme ich einen von meinen eigenen. Gelb oder blau – danach wird er wohl kaum sehen …

Er ist angelangt auf dem Büro. Ohne auch nur die Mütze abzunehmen, sinkt er in den Schreibtischstuhl. Er legt den Brief vor sich auf den verbrauchten, tintenfleckigen, grünen Filz. Starrt ihn an. Er ist schweißnaß, seine Glieder hängen von ihm, dabei ist sein Mund trocken. Er ist völlig erschöpft. Er hört die Hühner auf dem Hof glucksen, die Schweizer klappern im Kuhstall mit Eimern und Milchkannen. (Wollte ich mir auch ausgebeten haben – höchste Zeit zum Melken!)

Der Brief liegt vor ihm. Die Fliegen surren und burren eintönig, es ist unerträglich schwül. Er will einen Blick auf das Barometer an der Wand tun (vielleicht kommt doch ein Gewitter?), aber er sieht nicht hoch: Es ist ja ganz egal!

Der Brief, das bläulichweiße, reine Rechteck auf dem fleckigen grünen Filz! Ihr Brief!

Lässig, halb spielend greift er nach dem Papiermesser, zieht den Brief näher und legt beides wieder hin. Er wischt sich erst an der Joppe die schweißnassen Hände trocken.

Dann nimmt er das Papiermesser, und langsam, genußreich führt er die stumpfe Spitze in die kleine Öffnung oben zwischen Deckelklappe und Umschlag ein. Seine Augen sind starr, um seine dicken Lippen spielt ein leichtes, befriedigtes Lächeln. Jawohl, er öffnet den Brief. Achtsam schiebend, hebend, stoßend, drückend, löst er die nachlässig festgeklebte Klappe. Nun sieht er schon eine Ecke vom Brief, da sind Fäserchen, die sich nicht fügen wollen, wie Härchen – aber zugleich sieht er sie, sieht er Weio, wie er sie oben gesehen hat, auf dem Liegestuhl … Sie streckt ihren Leib, ihr weißes, volles Fleisch zittert ein wenig … sie wirft die Arme hoch, und in den Achselhöhlen schimmert es hell, kräuselt sich …

»Oh!« stöhnt Negermeier. »Oh!«

Er hat die ganze Zeit auf den Brief gestarrt, er hat ihn dabei geöffnet – aber er war fort unterdes, fünfhundert Meter von hier, auf einem flachen, sonnenschwitzenden Pappdach – Fleisch bei Fleisch, Haut bei Haut, Haar bei Haar –: O du! Du!

Die Welle wird flacher. Noch einmal in den Farben schönen, lebendigen Fleisches leuchtend, wie von einem Abendrot bestrahlt, verrinnt sie im Sande. Ächzend atmet Negermeier auf. Nein so was! wundert er sich nun doch. Dies Biest muß mich ganz verrückt gemacht haben! Aber die Hitze tut auch was dazu!

Der Brief ist tadellos aufgegangen. Man braucht die Klappe nachher nicht einmal frisch zu gummieren, so nachlässig hat Fräulein Violet von Prackwitz zugeklebt. Also lesen wir … Aber vorher wischt er noch einmal die Hände an der Joppe ab, sie sind schon wieder schweißnaß.

Dann zieht er das Blatt wirklich aus dem Umschlag, schlägt es auf. Er ist nicht sehr lang, der Brief, dafür aber hat er es in sich. Er liest:

 

Liebster! Allerliebster!! Einziger!!! Eben bist Du erst weg, und schon bin ich wieder ganz wild nach Dir! Ich fliege am ganzen Leibe, und es summt in mir, daß ich immerzu die Augen zumachen muß! Dann sehe ich Dich! Ich habe Dich ja sooo lieb!! Papa kommt heute bestimmt nicht, und so erwarte ich Dich zwischen elf und zwölf am Teich beim Schwanenhaus. Sieh, daß die dumme Versammlung bis dahin bestimmt alle ist. Ich sehne mich schrecklich nach Dir!

100000000 Küsse und noch viel mehr! Ich drücke Dich an mein Herz, das ganz doll klopft Deiner Violet.

 

»Gott!« sagt der kleine Meier und starrt auf das Briefblatt. »Die liebt ihn wirklich: so lieb mit drei o und Deine unterstrichen. So ein kleines Pimädchen – die wird er schön reinlegen. Na, um so besser!«

Er tippt sich den Brief auf der Schreibmaschine ab, zählt dabei sorgfältig die Nullen bei der Kußzahl. (Die reine Inflation – die macht mit!) Klebt wieder zu. Die Abschrift des Briefes legt er in den Band 1900 des amtlichen Kreisblattes, den Brief steckt er wieder in die Joppentasche. Und nun ist er völlig zufrieden. Und völlig fertig für die Wirtschaft. Er sieht auf das Barometer. Es ist wieder ein bißchen gefallen.

Ob es doch noch ein Gewitter gibt? Ob ich doch noch einfahren lasse? Ach Quatsch, die redet ja bloß Unsinn!

Er geht ab zu seiner Mähmaschine.

Wolf unter Wölfen
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