7

Um sieben Uhr abends klappte Pagel seine Bücher mit dem Seufzer: »Es hilft ja doch alles nichts!« endgültig zu.

Er warf noch einen Blick durch das Büro, ehe er das Licht ausschaltete, er sah den Geldschrank an mit seinen Arabesken, das rohe Aktenregal mit Reichsgesetzblatt und Kreisblatt. Die Schreibmaschine war zugedeckt, er hatte noch so manchen Brief an seine Mutter darauf geschrieben – für Petra.

Morgen fliege ich, dachte Pagel mutlos. Es ist eigentlich kein schöner Schluß – im ganzen habe ich meine Arbeit ja doch gerne getan. Es wäre netter, wenn hier morgen jemand stünde und sagte: Danke schön, Herr Pagel, Sie haben Ihre Sache gut gemacht! Statt dessen wird der Geheimrat nach Polizei und Gericht schreien!

Er schaltete aus, schloß ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging durch den stockdunklen Abend zur Villa hinüber. Für ausgangs November war die Luft heute abend merkwürdig warm. Auch wehte keine Spur von Wind, nur war alles sehr feucht.

»Grippewetter!« sagte Pagel. Der Doktor hatte ihm erzählt, die Leute stürben wie die Fliegen, Junge wie Alte. Zu lange unterernährt, erst der Krieg, dann diese Inflation … Arme Luder, dachte Pagel. Ob es nun wirklich besser wird mit dem neuen Geld –?!

In der Villa wartete Amanda schon mit dem Essen und mit tausend Klatschereien, die sie von den Weibern gehört hatte. »Denken Sie, Herr Pagel, was die sich jetzt ausgedacht haben! Sie sollen mit der Sophie unter einer Decke gesteckt haben – und daß der Förster grade bei Ihnen gestorben ist, das haben Sie nur gemacht, damit er nicht reden kann.«

»Ach, Amanda«, sagte Pagel gelangweilt. »All das ist so dumm und dreckig. Wissen Sie nicht irgend etwas Nettes, sagen wir, aus Ihrer Jugend, was Sie mir mal erzählen könnten?«

»Was Nettes –? Aus meiner Jugend?« fragte Amanda ganz verblüfft, und grade wollte sie loslegen und ihm erzählen, was mit ihrer Jugend los gewesen war …

Da ging die Klingel der Villa – und über ihren Abendbrottellern sahen sich die beiden an wie ertappte Verbrecher.

»Das kann doch noch nicht der Geheimrat sein?« flüsterte Amanda.

»Unsinn!« sagte Pagel. »Es ist kaum halb acht – es wird irgendwas im Stall los sein. Machen Sie auf, Amanda.«

Aber er hielt es dann doch nicht aus und ging ihr nach und kam grade zurecht, als die heftig protestierende Amanda von einem Mann beiseite geschoben wurde. Der vierschrötige Mann hatte einen steifen, schwarzen Hut auf, er hatte einen Kopf wie ein Stier – und nun traf der Blick, kalt, eisig, unvergeßbar, den jungen Pagel.

»Ich habe ein Wort mit Ihnen zu reden«, sagte der dicke Kriminalist. »Aber schicken Sie dies Frauenzimmer weg. Halt den Schnabel, du Schnattergans!«

Und auf der Stelle schwieg Amanda.

»Warten Sie auf der Diele, Amanda«, bat Pagel. »Kommen Sie bitte.« Und er ging, mit starkem Herzklopfen, dem Mann voran in das Eßzimmer.

Der Mann schoß einen Blick auf den Tisch mit den zwei Gedecken, dann sah er Pagel an. »Ist das da draußen Ihre Geliebte?« fragte er.

»Nein«, sagte Pagel. »Das war die Freundin von Inspektor Meier. Aber es ist ein gutes Mädchen.«

»Auch ein Schwein, das ich noch erwischen möchte«, sprach der Dicke und setzte sich an den Tisch. »Halten Sie sich nicht mit Decken auf, ich bin hungrig und muß gleich weiter. Erzählen Sie mir, was hier los ist, warum Ihre Gnädige fort ist, warum Sie hier in der Villa wohnen – alles. Klar, kurz, bündig.«

Der dicke Mann aß, wie er war: hart, ohne Zusehen, eilig, gierig. Pagel erzählte, als müßte es so sein …

»Also hat sie schließlich doch schlappgemacht, Ihre Gnädige, hätte ich mir ja denken müssen!« sagte der Dicke. »Geben Sie mir jetzt eine Zigarre. Haben Sie gemerkt, daß ich das war, der Sie heute nachmittag anrief?«

»Ich dachte es«, sagte Pagel. »Und –?«

»Und Sie sitzen nun selbst hier im Schlamassel? Zeigen Sie mir mal die beiden Wische von Ihrer Gnädigen.«

Pagel tat es.

Der Dicke las sie. »In Ordnung«, sagte er. »Sie haben nur vergessen, sich auch wegen der Verkäufe nach der Abreise von der Gnädigen sicherzustellen.«

»Verdammt!« sagte Pagel.

»Macht nichts«, sagte der Kriminalist. »Sie können das nachholen.«

»Aber der Geheimrat kommt schon heute abend.«

»Sie werden den Geheimrat nicht mehr sehen. Sie fahren heute abend nach Berlin, lassen Sie sich heute nacht noch von der Gnädigen aufschreiben, daß sie auch mit den letzten Verkäufen einverstanden ist. Heute nacht noch. Versprechen Sie mir das? Sie sind leichtsinnig in solchen Dingen!«

»Sie haben Nachrichten von Fräulein Violet?!« rief Pagel.

»Sitzt drunten im Wagen!« sagte der Dicke.

»Was?!« schrie Pagel und sprang zitternd auf. »Was?! Und Sie lassen mich hier sitzen und sie warten?!«

»Halt!« sagte der Dicke und legte ihm seine Hand wie eine nicht abzuschüttelnde Fessel auf die Schulter. »Halt, junger Mann!«

Pagel sah ihn wütend an und wollte sich befreien.

»Es stimmt nicht ganz, was ich Ihnen eben gesagt habe. Was da im Wagen sitzt, das ist das, was von Ihrem Fräulein Violet noch übrig ist. Bedenken Sie, zwei Monate lang ist sie systematisch von Sinn und Verstand geängstigt worden – von Sinn und Verstand! Sie verstehen mich doch –?«

Er sah Pagel eisig an.

»Ich weiß nicht«, sagte der Kriminalist finster, »ob ich ihrer Mutter einen Dienst tue, daß ich sie ihr wiederbringe. Ich habe auch nicht extra nach ihr gesucht – denken Sie das bloß nicht. Aber man hört viel, wenn man so weit im Lande herumkommt wie ich. Die alten Kollegen rechnen einen noch immer dazu, wenn die großen Bonzen mich auch abgesägt haben. Und da ist sie mir eben über den Weg gelaufen. Was soll ich mit ihr anfangen? Ich weiß auch nicht, ob Sie das Mädchen ohne weiteres der Mutter bringen können, das müssen Sie alles selber entscheiden. Sie darf hier nur nicht bei den alten Leuten bleiben. Bringen Sie sie diese Stunde noch mit einem Auto weg … Irgendwohin, wo Ruhe ist und Sicherheit. Wozu wollen Sie sich hier noch von dem alten Kaffer anschnauzen lassen?! Fort mit Ihnen!«

»Ja …«, sagte Pagel gedankenvoll.

»Nehmen Sie das dicke Frauenzimmer von der Diele mit. Schon, daß Sie eine weibliche Hilfe während der Fahrt haben und daß die Leute nicht noch mehr über Sie reden können.«

»Gut«, sagte Pagel.

»Sprechen Sie nicht sanft mit ihr und auch nicht hart. Sagen Sie nur das Nötigste: ›Setz dich dahin.‹ – ›Iß.‹ – ›Leg dich schlafen!‹ Sie tut alles wie ein Lamm. Keine Spur von eigenem Willen mehr. Sagen Sie immer du zu ihr und nennen Sie sie nicht Violet – sonst wird sie ängstlich.«

Flüsternd: »Er hat sie immer bloß Hure angeredet.«

»Hören Sie auf!« rief Pagel, und leise fragend: »Und er –?«

»Er –? Wer –? Wen meinen Sie denn?!« rief der Dicke und schlug Pagel auf die Schulter, daß er wankte. – »Das wäre alles«, sagte er ruhiger. »Sonst – nichts weiter! Nichts – weiter! Packen Sie Ihren Kram zusammen, Sie können in den Wagen steigen, der unten hält. Bis Frankfurt fahre ich mit. Und dann noch eins, junger Mann, haben Sie Geld?«

»Ja«, sagte Pagel. Zum erstenmal in letzter Zeit gab er es gerne zu.

»Ich habe zweiundachtzig Mark Auslagen gehabt, die geben Sie mir jetzt gleich wieder. – Danke. – Ich stelle Ihnen keine Quittung aus, ich habe keinen Namen mehr, den ich unterschreiben mag. Aber wenn Ihre Gnädige fragt, sagen Sie ihr, ich habe sie frisch einpuppen müssen – sie war ziemlich abgerissen. Und dann noch ein bißchen Fahr- und Zehrgelder. Jetzt los mit Ihnen! Packen Sie, bringen Sie das dicke Frauenzimmer auf den Trab – in einer halben Stunde halte ich mit dem Wagen hundert Meter von hier nach dem Walde zu. Die Leute brauchen nichts zu merken.«

»Aber kann ich Fräulein Violet nicht jetzt –?«

»Junger Mann«, sagte der Dicke. »Haben Sie es bloß nicht so eilig. Das ist kein fröhliches Wiedersehen. Sie erleben es noch früh genug. Marsch! Ich gebe Ihnen dreißig Minuten.«

Und er ging.

Wolf unter Wölfen
titlepage.xhtml
ccover.html
cinnertitle.html
cimprint.html
cnavigation.html
ctoc.html
c5_split_000.html
c5_split_001.html
c7.html
c8.html
c9.html
c10.html
c11.html
c12.html
c13.html
c14_split_000.html
c14_split_001.html
c16.html
c17.html
c18.html
c19.html
c20.html
c21.html
c22.html
c23_split_000.html
c23_split_001.html
c25.html
c26.html
c27.html
c28.html
c29.html
c30.html
c31.html
c32.html
c33_split_000.html
c33_split_001.html
c35.html
c36.html
c37.html
c38.html
c39.html
c40.html
c41.html
c42_split_000.html
c42_split_001.html
c44.html
c45.html
c46.html
c47.html
c48.html
c49.html
c50.html
c51.html
c52.html
c53_split_000.html
c53_split_001.html
c55.html
c56.html
c57.html
c58.html
c59.html
c60.html
c61.html
c62.html
c63.html
c64_split_000.html
c64_split_001.html
c66.html
c67.html
c68.html
c69.html
c70.html
c71.html
c72.html
c73.html
c74_split_000.html
c74_split_001.html
c76.html
c77.html
c78.html
c79.html
c80.html
c81.html
c82.html
c83.html
c84.html
c85.html
c86_split_000.html
c86_split_001.html
c88.html
c89.html
c90.html
c91.html
c92.html
c93.html
c94.html
c95_split_000.html
c95_split_001.html
c97.html
c98.html
c99.html
c100.html
c101.html
c102.html
c103.html
c104.html
c105.html
c106_split_000.html
c106_split_001.html
c108.html
c109.html
c110.html
c111.html
c112.html
c113.html
c114.html
c115.html
c116.html
c117.html
c118.html
c119.html
c120_split_000.html
c120_split_001.html
c122.html
c123.html
c124.html
c125.html
c126.html
c127.html
c128.html
c129.html
c130.html
c131.html
c132.html
c133_split_000.html
c133_split_001.html
c135.html
c136.html
c137.html
c138.html
c139.html
c140.html
c141.html
c142.html
c143.html
c144.html
c145_split_000.html
c145_split_001.html
c147.html
c148.html
c149.html
c150.html
c151.html
c152.html
c153.html
c154.html
c155_split_000.html
c155_split_001.html
c157.html
c158.html
c159.html
c160.html
c161.html
c162.html
c163.html
c164_split_000.html
c164_split_001.html
c166.html
c167.html
c168.html
c169.html
c170.html
c171.html
c172.html
caboutBook.html
caboutAuthor.html